Vorgeblättert

Rosamund Bartlett: Anton Cechov. Eine Biografie. Teil 1

30.07.2004.
(Seiten 389 - 406)
3 DIE SCHAUSPIELERIN UND DER BISCHOF
 
Ich langweile mich so ohne dich, als hätte man mich in ein Kloster verbannt. 
                                                        Brief an Olga Knipper, 31. August 1901 

Das Gastspiel des Moskauer Künstlertheaters im Frühjahr 1900 war für Cechov während seiner einsamen Jahre in Jalta ein Glanzpunkt, ebenso wie die Sommerbesuche von Olga, die im nächsten Jahr seine Frau wurde. Dazwischen jedoch lagen endlose Monate der Langeweile und zunehmenden Verschlechterung seines Gesundheitszustands. Cechov war sehr stolz darauf gewesen, in seinem Garten in Jalta Rosen zu züchten, denn diese Blumen liebte er besonders. Nachdem er 1899 sein Haus bezogen hatte, pflanzte er eigenhändig 100 Stück von der Sorte, die er als die edelste und kultivierteste bezeichnete, und bald gab es 57 Varietäten, die zwischen den Pfingstrosen blühten, welche er in Melichovo sorgsam gezogen und dann nach Jalta mitgenommen hatte. Jede einzelne Pflanze wurde mit lateinischem und russischem Namen in sein Gartennotizbuch eingetragen. Doch im Februar 1902 stellte Cechov fest, daß er, wenn er sich bückte, um seine Rosen zurückzuschneiden, sofort außer Atem geriet und nach jedem Busch eine Pause einlegen mußte. Das war ein entsetzlicher Hinweis auf seine schlechte Gesundheit. Die Tatsache, daß er jeden Morgen Blut hustete, hatte ihn ans Bett gefesselt, wo er die zahllosen Zeitungen las, die er abonniert hatte.(23) Was die Lage verschlimmerte, war das nicht nachlassende Interesse an seinem Gesundheitszustand, das ebenjene Zeitungen bekundeten, auf die er so angewiesen war. Es war, als lebte er in Jalta in einem Goldfischglas. Kaum war er in dem Urlaubsort eingetroffen, waren landesweit in der Presse Berichte über seine gesundheitliche Verfassung erschienen, und der Gedanke, daß solche Artikel seiner Mutter bekannt werden könnten, belastete ihn sehr. Cechov schrieb an seinen Bruder Ivan:

Ich schreibe dir schon wieder, liebster Ivan. In den "Novosti" war ein Telegramm aus Jalta vom 24. Oktober abgedruckt, meine Gesundheit habe sich verschlechtert, beständiger Husten, Blutspeien usw. All das ist die reinste Lüge, eine dumme Erfindung, die lediglich Verwandte und Bekannte beunruhigen kann. Ehrenwort, meine Temperatur ist normal, sie gibt nicht einmal Anlaß, zum Thermometer zu greifen; der Husten hat gegenüber dem früheren nicht zugenommen, Blut gespien habe ich in Jalta nicht ein einziges Mal. Wenn die Moskauer Zeitungen das Telegramm aus Jalta nachdrucken sollten, wäre es schlimm; daß nur Mutter es nicht liest. Ich wiederhole nochmals bei meinem Ehrenwort: das Telegramm lügt. Grüße Sonja und Volodja.
                                                                                           Dein Antoine (24)
 

In einem Bericht der Peterburgskaja gazeta war von Cechovs beunruhigendem Husten und Blutspucken die Rede, und der Bericht war (zu Cechovs Verdruß) auch in der in Moskau beheimateten Russkie vedomosti erschienen. Ein Schreiberling für eine lokale Krimzeitung in Simferopol bauschte die Story für die Spalte mit den Sensationsmeldungen noch ein bißchen weiter auf: "In den letzten Tagen hat eine bedeutende Verschlechterung des Gesundheitszustands des in Jalta lebenden berühmten Schriftstellers A. P. Cechov stattgefunden. Er wird von ständigem Husten gequält, und manchmal spuckt er Blut. Diese unheilvollen Symptome geben Anlaß, das Schlimmste für sein Leben zu befürchten." Zufällig hatte der Herausgeber der Russkie vedomosti gerade einen Brief erhalten, den Cechov früher abgeschickt hatte und in dem er mitteilte, bei guter Gesundheit zu sein; deshalb veröffentlichte er rasch einen Widerruf, genau wie es die Lokalzeitung in Jalta auf Cechovs ausdrücklichen Wunsch hin tat. Doch bis dahin hatte Cechov, wie er selbst einräumte, fünf Tage in der Angst verbracht, daß seine Mutter es erfahren und sich um ihn Sorgen machen könnte.(25)
Cechov traf ein paar Wochen später tatsächlich den Herausgeber des "Krimkuriers" (der ebenfalls aus Taganrog stammte) und sorgte dafür, daß Masa und Ivan die Zeitung nach Moskau zugeschickt bekamen. Während der nächsten Jahre sollte Cechov darin mehrmals aufrufen, für karitative Zwecke zu spenden, darunter auch den Appell, Bauernkindern während der Hungersnot in Samara zu helfen, die 1898 auf die Mißernte folgte. Dank einer Gruppe von Dorfschullehrern, Ärzten, Priestern und Mitgliedern ländlicher Sektionen des Roten Kreuzes, so berichtete Cechov, hätten bei der Hungerskatastrophe von 1891 über 412 000 Mahlzeiten für mehr als 3000 Kinder ausgeteilt werden können. Infolge der neuen Appelle (die Spende jeder einzelnen Person wurde in der Zeitung aufgeführt, angefangen bei den fünf Kopeken der Olja und Vera T. bis zu den 25 Rubeln der Frau M. M.) konnte Cechov später berichten, daß nach der Mißernte von 1898 über 24 000 Kinder vor dem Verhungern gerettet wurden. Er schrieb auch über die entsetzliche Lage der verarmten Schwindsüchtigen, die in den Wintermonaten nach Jalta strömten und keine Unterkunft fanden und niemanden hatten, an den sie sich wenden konnten.(26) Die Leser des "Krimkuriers" waren in Wirklichkeit mehr daran interessiert, etwas über ihn selbst zu lesen, und die Zeitung ergriff jede Gelegenheit, über den berühmtesten Einwohner Jaltas zu schreiben. Es war eine Selbstverständlichkeit, daß sie die Namen derjenigen veröffentlichte, die Jalta besuchten - so hatte sie Cechovs Ankunft am 20. September 1898 gemeldet -,(27) und im Juli 1899 beeilte sie sich, mitzuteilen, daß er zusammen mit Olga Knipper mit dem Dampfer aus Novorossijsk eingetroffen sei. Ihre Heirat zwei Jahre später landete als Schlagzeile auf der ersten Seite. Der "Krimkurier" berichtete über jeden Schritt, den Cechov tat, und machte im Mai 1904 sogar seine Abreise nach Moskau und einen Monat später seine Weiterreise nach Badenweiler publik. "Ich habe den Kurier satt!" meinte er im August 1901 Olga gegenüber entnervt. "Sie schreiben fast in jeder Ausgabe irgendeinen Quatsch über mich."(28) Die Nachricht von seiner Hochzeit fand auch den Weg in die nationale Presse, wobei eine Zeitung sogar Photos der Neuvermählten abdruckte.(29)
Und so war der für seine Zurückhaltung berühmt-berüchtigte Cechov gezwungen, tatenlos und angewidert zuzusehen, daß das langsame Erlöschen seines Lebens zum Gegenstand öffentlichen Interesses gemacht wurde. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich im Herbst 1901, gleich nach seiner Heirat, merklich, und nicht einmal die roten Blüten an seinem Quittenbaum während der schneereichen Tage im Februar 1902 konnten ihn sehr lange von seinen Gedanken an den Tod ablenken. Es ist eine Ironie, daß dies für Cechov natürlich eine Zeit großen persönlichen Glücks hätte sein sollen: Er hatte vor kurzem seine Liebste geheiratet und mit ihr sogar jene Art von Teilzeitehefrau bekommen, die, wie er schon 1895 Suvorin in einem berühmten Brief anvertraut hatte, sein Ideal war:

Bitte sehr, ich werde heiraten, wenn Sie das wollen. Aber meine Bedingungen: Es muß alles so bleiben, wie es vorher war, das heißt, sie muß in Moskau wohnen und ich auf dem Lande, und ich werde zu ihr fahren. Das Glück, das Tag für Tag andauert, vom Morgen bis zum Morgen - ich ertrage es nicht. Wenn man mir jeden Tag ein und dasselbe sagt, im immer gleichen Ton, werde ich rasend [?] Ich verspreche, ein hervorragender Ehemann zu sein, aber geben Sie mir eine Frau, die, wie der Mond, nicht jeden Tag an meinem Himmel erscheint: Aber besser schreiben werde ich davon, daß ich heirate, nicht.(30)

Und doch waren die praktischen Aspekte einer Ehe mit einer erfolgreichen Vollzeitschauspielerin in Moskau für einen Tuberkulosekranken wie Cechov letzten Endes nicht sehr zuträglich. Es trifft zwar zu, daß es einem Mann mit einem so rastlosen Geist schwerfiel, an einem Ort still zu sitzen, doch seit er nach Jalta gezogen war, wo er eigentlich ein ruhiges Leben führen sollte, war Cechov mehrmals nach Moskau gefahren, er war in den Kaukasus gereist und hatte den ganzen Weg bis Frankreich zurückgelegt, um sich längere Zeit in Nizza aufzuhalten. Olga verstärkte noch seinen Wunsch, von Jalta loszukommen. Die Beziehung war gewiß insofern von Vorteil, als sie Cechov von seiner Krankheit ablenkte. "Deine Briefe sind wie Arznei, ohne die ich länger nicht existieren kann", schrieb er ihr im Dezember 1901. Doch die Beziehung war wohl insofern auch von Nachteil, als sie wahrscheinlich das Fortschreiten seiner Krankheit beförderte. Da gab es die Belastung durch die Trennungen und auch die Anstrengung, die es bedeutete, sich nach diesen Trennungen wieder aneinander zu gewöhnen. Die Inszenierungen des Moskauer Künstlertheaters von Cechovs letzten vier Stücken waren ebenfalls eine Quelle starken emotionalen Drucks nach der katastrophalen Uraufführung der Möwe im Jahr 1896 in St. Petersburg. Die Erfahrung, seine Stücke endlich gut aufgeführt und mit Beifall aufgenommen zu sehen, machte Cechov letztendlich sehr glücklich, doch vorher mußte viel Nervenkraft aufgewandt werden - das letzte, was jemand mit seiner labilen Gesundheit brauchen konnte. Auf diese Weise also waren Cechovs letzte Lebensjahre in höchstem Maße von jenen Widersprüchen der Existenz geprägt, die er in seiner erzählenden Literatur so meisterhaft ergründet hatte.
Die starke Mischung von Liebe und Tod, von der Cechovs letzte Jahre durchdrungen war, fand vielleicht ihren schönsten künstlerischen Ausdruck in seiner vorletzten Erzählung Der Bischof, die er im Februar 1902 abschloß. Es ist eines seiner ganz fein ausgearbeiteten Prosastücke, das unter großer emotionaler Belastung zustande kam. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands brauchte Cechov für die Abfassung dieser Geschichte länger als für jede andere Erzählung. Er hatte fünfzehn Jahre lang über das Thema nachgedacht, es sich aber im Dezember 1899 zum erstenmal wirklich vorgenommen. Die Arbeit an der Geschichte wurde in den folgenden zwei Jahren mit ständigen Unterbrechungen fortgesetzt. Es ist schwer, etwas auch nur andeutungsweise Erfreuliches in der Erzählung über die rasche Verschlechterung von Bischof Petrs Krankheit zu finden, die mit seinen ersten Schwächegefühlen am Palmsonntag beginnt und mit seinem frühzeitigen Tod durch Typhus kaum eine Woche später, am Karsamstag, endet. Die Geschichte ist tieftraurig, und Cechov ließ in diese sympathische Gestalt all die Gefühle der Einsamkeit, Entfremdung und Angst einfließen, die er selbst während seiner Verbannung in Jalta empfand, wo er seine Lebensweise für so asketisch hielt, daß er sich angewöhnte, seine Briefe mit "Mönchspriester Antonij" zu unterschreiben.(31) Auch er empfand die endlosen Scharen seiner Besucher als lähmend; auch er war der Tatsache überdrüssig, daß er mit Ehrfurcht und Ergebenheit behandelt wurde, und sehnte sich nach aufrichtiger Gesellschaft; auch er konnte nur mit Wehmut auf sein Leben zurückblicken, da er sich seinem baldigen Ende gegenübersah; auch er sehnte sich danach, aus seinem Provinzgefängnis auszubrechen, und auch er wollte nicht sterben. Doch die Erfahrung der Liebe, die das Leben verändert, erfüllte auch sein Schreiben mit einer neuen Wärme und einem Gefühl des Friedens: 

Abends sangen die Mönche schön und hingebungsvoll; ein junger Mönchspriester mit schwarzem Bart zelebrierte die Messe. Der Bischof hörte von dem Bräutigam, der um Mitternacht kommt, und von dem geschmückten Prunkgemach, und er fühlte weder Reue über seine Sünden noch Trübsal, sondern seelische Ruhe und Frieden, und seine Gedanken schweiften in die ferne Vergangenheit ab, in die Kindheit und Jugend, als man auch vom Bräutigam und dem Prunkgemach gesungen hatte, und jetzt erschien ihm diese Vergangenheit so lebendig, herrlich und freudvoll, wie sie wahrscheinlich niemals gewesen war. Und vielleicht werden wir uns im Jenseits, im ewigen Leben, an die ferne Vergangenheit, an unser hiesiges Leben mit demselben Gefühl erinnern. Wer weiß! Der Bischof saß im Altarraum; hier war es dunkel. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er dachte daran, daß er alles, was für einen Menschen seines Standes möglich war, erreicht hatte, er glaubte, und doch war ihm noch nicht alles klar, etwas fehlte noch, er wollte nicht sterben; aber noch immer schien ihm etwas sehr Wichtiges zu fehlen, von dem er einst dunkel geträumt hatte, und in der Gegenwart erregte ihn noch immer die gleiche Hoffnung auf die Zukunft, die ihn auch in der Kindheit, auf der Akademie und im Ausland erregt hatte.(32)

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Alle Anmerkungen zu Cechovs Werken beziehen sich auf die dreißigbändige russische Ausgabe der Akademie der Wissenschaften, die von 1974 bis 1983 in Moskau erschien. Die Werke wurden in achtzehn Bänden publiziert, die Briefausgabe umfaßt zwölf Bände. Die Werke werden hier mit "W", der Bandnummer und der Seitenzahl angeführt, Zitate aus den Briefen sind mit "L" gekennzeichnet. Sofern die Briefe auch auf deutsch erschienen sind, werden sie zusätzlich mit "Briefe Nr. xx, Bandnummer, Seitenzahl" gekennzeichnet.

(23) L 8, 309; L 10, 136, 188; N. I. Gitovia, A. P. Cechov v vospominanijach
      sovremennikov
, S. 546.
(24) L 7, 312-313, 648.
(25) L 7, 336, 648-649.
(26) W 16, 363, 368-369, 372-376.
(27) A. S. Melkova, "Dni pamyati Cechova v Jalte v 1904 godu", in: G. Saljugin
      (Hg.), Krymskie penaty, Simferopol? 1998, S. 72.
(28) M. D. Drossi-Steiger, "Junyj Cechov", in: V. V. Vinogradov (Hg.), Cechov,
Moskau 1960, S. 68.
(29) L 6, 40.
(30) L 10, 193, 208, 210. Brief Nr. 495, III, S. 182 f.
(31) L 10, 195. Briefe Nr. 902, 913, 914, 916, 917, 920, alle in IV, S. 301-315.
(32) L 7, 311/Der Bischof, in: Erzählungen 1897-1903, Zürich 1976, S. 330 f.

Teil 2
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