Vorgeblättert

Terezia Mora: Alle Tage. Teil 2

27.07.2004.
Do-o-na no-o-bis. Irgendwann hast du genug in den Spiegel gestarrt. Du bist, was du bist. Auf Zehenspitzen, warum?, ans kleine Fenster. Dahinter ein grauer Innenhof, mit dem aufsteigenden, eigenen Geruch grauer Innenhöfe, darin parkende Autos, darüber Himmel. Etwas lauter: Do-o-na no-o-bis. Aber so richtig hört man nicht, woher es kommt. Als wär?s von überallher. Das Fenster ist vergittert. Hier werden auch normale Fälle verhandelt. Kriminalfälle. Ich werde nicht durch das Klofenster fliehen können. Mercedes schließt das Fenster. Den Chor hört man immer noch.
Und dann wieder im Flur stehen, da sind auch andere, und, das ist bemerkenswert, alle schauen in dieselbe Richtung, den langen, grünlichen Korridor hinunter. Wie am Bahnsteig steht man da, die Gesichter erwartungsvoll dorthin gewendet, wo bald etwas oder jemand auftauchen müsste: er; man spürt schon die Luft, die er vor sich herschiebt.
Als er dann tatsächlich auftauchte, insgesamt nicht mehr als eine Viertelstunde zu spät, sah er bei weitem nicht so wuchtig aus, wie man aus dem Wind, den er im Vorfeld verursacht hatte, hätte annehmen können. Zwar groß, aber schmächtig, kein Zug, eher ein Semaphor, ein Strich in der Landschaft, wenn man die Augen zusammenkneift, schmilzt er von den Seiten her ein. Von vorne betrachtet sah es so aus, als würde er sich kaum von der Stelle bewegen. Dastehen, warten.

An einem Samstag vor vier Jahren kam Abel Nema zu spät zu seiner Hochzeit. Er sagte, er habe sich etwas verirrt, und lächelte, ich kann nicht sagen, wie. Mercedes lächelte auch und fragte nicht, wieso er nicht ein Taxi hätte nehmen können. Und eventuell etwas anderes anziehen. Der glitzernde Schweiß im offenen Kragen über der zerknitterten Knopfleiste ist das deutlichste Bild, das Mercedes von ihrer Hochzeit geblieben ist. Das und der Geruch, der aufstieg, als er, mitten in der Rede der Standesbeamtin, an keiner bestimmten Stelle, denn es war ohnehin kaum zu verstehen, was sie sagte - Vielleicht könnte man die Rede kürzen oder gar weglassen, sagte Mercedes, um die Zeit aufzuholen, aber die Frau sah sie nur mit blanken Augen an, holte Luft und erzählte einfach alles herunter, was auch immer, Liebe und Gesetz auf der Grundlage bürgerlicher Lebensverhältnisse -, und ich dachte immer nur: ich heirate gerade, ich heirate, als er auf einmal: seufzte. Der Brustkorb, die Schultern stülpten sich hoch und sackten wieder zurück, und dabei stieg ein Schwall auf, ein seltsames Gemisch aus dem Geruch des Sakkos, in dem sich Staub mit Regen verbunden hatte, dem durchgeschwitzten Waschmittelgeruch des Hemds, seiner Haut darunter, seiner Seifen-, Alkohol-, Kaffee- und Talgnoten, und etwas wie Gummi, genauer: Latex, mit einem leichten, synthetischen Vanillearoma, ja, sie glaubte, den Geruch eines Kondoms an ihm wahrzunehmen, plus den Geruch einer in der Hitze eines Dachgeschosses schmelzenden Computertastatur, mit weißen Kreisen im schwarzen Schmutz, dort wo die Finger die Tasten berühren, und so weiter, noch mehr bekannte Gerüche, aber diese sind Nebensache, denn was wirklich wesentlich war in dem Moment, war etwas, was die Braut Mercedes nicht hätte benennen können, das wie ein Wartezimmer roch, wie Holzbänke, Kohleofen, verzogene Schienen, ein in die Böschung geworfener Pappesack mit den Resten von Zement, Salz und Asche auf einer eisigen Straße, Essigbäume,Messinghähne und pechschwarzes Kakaopulver, und überhaupt: Essen, wie sie es noch nie gegessen hat, und so weiter, etwas Endloses, wofür sie gar keine Worte mehr hat, stieg aus ihm hoch, als trüge er ihn in den Taschen: den Geruch der Fremde. Sie roch Fremdheit an ihm.
Ganz überraschend war das nicht. Eine gewisse Aura war schon früher da, schon beim ersten Mal, als er in ihrer Tür stand, ein wenig lächerlich in seinem altmodischen schwarzen Trench, der ihm von der Schulter hing. Der ganze Mensch eine Diagonale, aufgespannt zwischen zwei fernen Ecken des Türrahmens. Damals wusste ich noch nichts damit anzufangen. Jahre später, vor der Standesbeamtin, hat sie dieser Seufzer so in Gedanken gebracht, dass sie erst zu sich kam, als er den Ellbogen einknickte, um ihr einen unauffälligen Stoß in die Seite zu versetzen. Sie sah sich um, aber nicht nach ihm, sondern nach hinten, zu den Stuhlreihen, wo neben Tatjana ihr Sohn Omar saß, als Einzige im leeren Saal, liebes Brautpaar, liebe Gäste. Omars Augen glänzten beide gleich, das etwas größere aus Glas und das lebendige, er war gerade sieben geworden, er nickte: Sag ja. Sag? jetzt - Oui, yes, da, da, da, si, si, sim, ita est.
Später kam der Geruch immer häufiger wieder, er war auch nicht mit dem Rasierwasser zu verdecken, das sie von Zeit zu Zeit in der Wohnung verteilte, und am intensivsten dann ganz zum Schluss - daran merkte sie, dass wirklich Schluss war.

Und natürlich war es auch jetzt wieder so, als er endlich auftauchte. Er trug trotz der Hitze den alten, schwarzen Trench, der ihm (die Zugluft?) hinterher flatterte, obwohl er diesmal nicht in der üblichen fluchtartigen Geschwindigkeit unterwegs war, lange Schritte, gebeugter Oberkörper, sondern im Gegenteil: langsam und steif. Er zog ein Bein hinterher. Er kam den Flur heraufgehinkt, der flinken Anwältin etwas hinterher. Schweißnass, auch das passte. Neu waren: die Abschürfung am Kinn, das Hämatom am rechten Jochbein, eine Beule am Hinterkopf, sowie das bereits erwähnte Hinken. Die Haare strähnig, die hastige Rasur hat Stoppelgrüppchen stehen lassen, am Ohr und am Hals glitzerte etwas - alles in allem sah er aus, wie frisch einer Straßenschlägerei entstiegen. Aber die Stimme war noch die alte, überhaupt das Einzige an ihm, das dem Eindruck der allgemeinen und zunehmenden Desolation immer entgegenstand. Nie zuvor habe ich meine Muttersprache, die nicht seine ist, so perfekt gesprochen gehört, und das, obwohl er kein Wort mehr sagte, als unbedingt nötig, diesmal zwei:
Hallo. Mercedes.
Zehn Minuten sind noch vom Termin, sagte die Anwältin. Beeilen wir uns.

Die unbekannte Größe

Gerade als seine Verzweiflung am größten war und er, nach Stunden oder vielleicht Tagen irren Schmerzes schließlich soweit, sich auf das klamme Linoleum zwischen Badewanne und Kloschüssel zu knien und zu seinem Gott zu flehen, er möge ihm verzeihen, was er bald tun würde, und ihm helfen, es zu tun, am Vorabend seines seit langem geplanten Selbstmordes verschwand der Chaosforscher Halldor Rose, von einem Kongress kommend, aus einem fliegenden Flugzeug. Drei Tage später sah man ihn auf einer Brücke stehen. Er sah den Wolken hinterher, die in einem langen Keil davonzogen. Als er ihnen hinterher winkte, blieb auf der anderen Straßenseite ein Psychiater namens Adil K. stehen, überquerte nach kurzem Zögern die Fahrbahn und sprach den Physiker an. Halldor R. teilte mit, er sei vor drei Tagen leibhaftig zum Himmel gefahren und sei gerade eben wieder abgesetzt worden, auf dieser Brücke.
Auf die Frage, wieso er denke, er sei zum Himmel gefahren, antwortet er, er denke es nicht, er wisse es.
Auf die Frage, welcher Himmel es gewesen sei, antwortet er: Was meinen Sie mit welcher Himmel?
Auf die Frage, wie es dort gewesen sei, antwortet er, das könne er leider nicht sagen.
Auf die Frage, ob er wisse, warum er zum Himmel gefahren sei,antwortet er: Natürlich, wegen der Friedfertigkeit. Weil er der friedfertigste Mensch auf Erden sei.
Auf die Frage, warum er zurückgekehrt sei, antwortet er: Aus demselben Grund. Ich bin wiedergekommen als leibhaftiger Beweis dafür, dass die friedfertige Liebe das durch Gott an uns verliehene höchste Gut ist, und jede Handlung zuwider eine Beleidigung der Schöpfung und somit ein Anschlag auf Gott.
      Auf die Frage des Paters Y. R., ob Gott noch etwas anderes gesagt habe, antwortet er: Gesagt habe Gott gar nichts, Gott bedürfe der Sprache nicht. Er habe ihm lediglich diese Gewissheit ins Bewusstsein gelegt.
Auf die Frage, ob das alles gewesen sei, antwortet er: Ja. Das heißt, soviel müsse er noch hinzufügen, dass er die ganze Zeit bei klarem Bewusstsein gewesen sei, ja sogar bei sehr klarem, ohne die üblichen chaotischen Trübungen seines Denkens und Empfindens. (Denkt nach.) Wie vor der Geburt oder nach dem Tod. In etwa. Die Fragen seien nicht beantwortet gewesen, es habe vielmehr überhaupt keine Fragen gegeben. Auch das Stückwerk Zeit habe es nicht gegeben. Er sei erstaunt zu hören, dass inzwischen drei ganze Tage vergangen sein sollen. Dieses, dass die Zeit keine Rolle spielte, sei für ihn als Naturwissenschaftler eine ganz besondere Erfahrung gewesen. Möglicherweise müsse er vieles neu bedenken. Deswegen möchte er auch so bald wie möglich zurück an die Arbeit, wenn die Herrschaften nichts dagegen hätten.      
Was aus der Verkündigung der Friedfertigkeit werden solle? 
Das wisse er auch nicht. Er habe diese beiden Sachen mitbekommen: Die Friedfertigkeit und die Frage nach der Zeit. Gott ließe einem die freie Wahl, welchen Fragen man sich in seinem Leben widmen möchte. Er, als Wissenschaftler, habe sich gerade dafür entschieden, der Frage nach der Zeit nachzugehen. Die Friedfertigkeit könnte vielleicht der Herr Pater ? 
Worauf Pater Y. R. erwiderte --

Teil 3