Vorgeblättert

V.S. Naipaul: Des Nachtwächters Stundenbuch, Teil 2

05.04.2004.
Früh am nächsten Morgen ging Mrs Dakin wieder ins Krankenhaus. Kurz vor Mittag kam sie nach Hause und begann, kaum hatte sie den Flur betreten, so laut zu schluchzen, dass ich es bis in den zweiten Stock hinauf hörte.
Als ich hinunterging, fand ich sie in Mrs Cookseys Armen. Mrs Cooksey war blass und hatte feuchte Augen.
"Was ist passiert?" flüsterte ich.
Mrs Cooksey schüttelte den Kopf.
Mrs Dakin lehnte sich gegen Mrs Cooksey, die viel kleiner war als sie.
"Wo doch morgen mein Bruder heiratet!", brach es aus Mrs Dakin heraus.
"Kommen Sie, Eva", sagte Mrs Cooksey mit fester Stimme. "Jetzt erzählen Sie mir mal, was im Krankenhaus passiert ist."
"Sie ernähren ihn durch ein Glasröhrchen. Und auf die Liste der kritischsten Fälle haben sie ihn gesetzt. Und - sein Bett steht gleich bei der Tür!"
"Das hat gar nichts zu bedeuten, Eva."
"Doch! Hat es doch!"
"Unsinn, Eva."
"Sie haben Wandschirme um sein Bett herum aufgestellt."
"Sie müssen tapfer sein, Eva."
Wir führten Mrs Dakin in Mrs Cookseys Wohnzimmer, ließen sie sich hinsetzen und schauten ihr beim Weinen zu.
"Er ist in seinem Bauch durchgebrochen." Mrs Dakin machte eine wilde Handbewegung quer über ihren Unterleib. "Sie mussten ihn aufschneiden und das Zeug aus ihm - herauskratzen." Nachdem das schreckliche Wort ausgesprochen war, überließ sie sich ihrer Verzweiflung.
"Na, na, Eva", sagte Mrs Cooksey. "Er würde nicht wollen, dass Sie so sind." 

Zwischen Mrs Dakins Besuchen im Krankenhaus kümmerten wir uns abwechselnd um sie. Die Nachrichten wurden nicht besser. Mrs Dakin war bei den Cookseys zum Tee. Sie war bei Strickmeisters zum Tee. Sie war bei mir zum Tee. Wir redeten fröhlich über alles Mögliche, nur nicht über den kranken Mann, und Mrs Dakin war sehr tapfer. Sogar ein paar Abenteuer aus ihrer Zeit bei der Polizei gab sie zum Besten. Und sie beklagte sich.
"Als Mr Cooksey an dem Abend nach oben kam, hat er als Erstes gesagt, dass unser Zimmer der reinste Hochofen ist. Aber was sollte ich denn machen? Wo meinem Mann doch so kalt war. Sehr freundlich, wenn dann einer raufkommt und so etwas sagt!"
Ich gab Mrs Dakin einen ganzen Stoß von den Illustrierten, die sich unter der riesigen viktorianischen Anrichte in meiner Küche stapelten. Ich hatte gesehen, dass die Strickmeisterin ihr auch welche gegeben hatte.
Mr Cooksey übte sich schon mal an einem kleinen Abgesang. Bekümmert, aber klinisch präzise erörterte er die Operation. "Wenn er im Körper durchbricht, vergiftet er den ganzen Organismus. Deshalb mussten sie auch schneiden. Um das Gift rauszuholen. Das überlebt kaum einer."
Mrs Cooksey sagte: "Er war so ein netter Mann. Was bin ich froh, dass wir an Silvester noch so viel Spaß miteinander hatten. Um sie tut?s mir leid. Er war ihr Zweiter, wissen Sie?"
"Ja", sagte Mr Cooksey. "Solche Frauen gibt es."
"Und er war so ein netter Mann", sagte ich zur Strickmeisterin.
"Nicht wahr?"
Aus jedem Zimmer im Haus hörte ich Mrs Dakins Schluchzen. Ich hörte ihr Schluchzen auf der Treppe.
Mrs Cooksey sagte: "Ach, ist das alles furchtbar. Gestern hat ihr Bruder geheiratet, und sie konnte nicht dabei sein. Sie musste ihnen ein Telegramm schicken. Sie wollen herkommen, um Mr Dakin zu besuchen. Was für ein Auftakt für die Flitterwochen!" 

Mrs Dakins Bruder und seine Braut kamen auf dem Motorrad von Wales heraufgefahren. Bei ihrer Ankunft war Mrs Dakin im Krankenhaus, und Mrs Cooksey machte ihnen Tee.
Mrs Dakin bekam ich an diesem Abend nicht zu Gesicht, aber spät in der Nacht sah ich das frisch vermählte Paar mit in Papier eingewickelten Flaschen die Treppe hinauflaufen. Er war ein Riese von einem Mann - ein Fußballer, sagte Mrs Cooksey -, und wenn er die Treppe hinauflief, hörte man es im ganzen Haus. Seine Braut war klein, bäuerlich und lebenslustig. Sie waren noch eine ganze Weile wach.
Als ich am nächsten Morgen hinunterging, um die Zeitung zu holen, war das Motorrad des Fußballers auf der untersten Stufe der Eingangstreppe aufgebockt. Es war eine Menge Öl ausgelaufen.
Auch an diesem Tag ließ Mrs Dakin sich bei keinem von uns blicken. Und abends stieg die nächste Party in der Wohnung über mir. Wir hörten die schweren Schritte des Fußballers, seine Rufe, das Gekicher seiner Frau, Mrs Dakins jammernde Stimme.
Mrs Dakin bedurfte unseres Beistands nicht mehr. Uns blieb es überlassen, uns nach Mr Dakins Befinden zu erkundigen, sie zu fragen, ob ihm die Zeitschriften gefallen hatten, ob er Nachschub brauchte. Und im Ton eines Menschen, der an eine tapfer vergessene Traurigkeit erinnert worden ist, antwortete sie, ja, Mr Dakin danke uns sehr.
Diese neue Zurückhaltung behagte Mrs Cooksey überhaupt nicht. Uns anderen auch nicht. Der Strickmeister gab sich nicht so schnell geschlagen, und zwei Tage später wurde er belohnt, als Mrs Dakin sagte: "Ich hab ihm das mit den Nerven erzählt, was Sie gesagt haben, und er fragt, woher Sie das wissen wollen." Und sie wiederholte die Geschichte von dem Sturz von der defekten Leiter, dem schief angewachsenen Arm und dem Meister, der die Leiter verbrannt hatte.
Wir staunten. Es war das erste Anzeichen, dass die Dakins sich für etwas anderes als das Krankenhaus interessierten.
"Ja, wirklich!", sagte Mrs Cooksey.
Die Strickmeisterin begann, sich über den nächtlichen Lärm zu beklagen.
"Pah!", sagte Mr Cooksey. "Durchgebrochener Blinddarm, dass ich nicht lache! Durch ein Glasröhrchen ernährt!"
Wir hörten die Frischvermählten die Treppe herunterpoltern. Die Haustür knallte zu, dann ertönte das donnernde Stottern des Motorrads.
"Man könnte ihn drankriegen", sagte Mr Cooksey. "Schalldämpfer abmontiert."
"Tja", sagte Mrs Cooksey. "Schön, dass wenigstens ein paar Leute ihren Spaß haben. Und so preiswert. Wo wollen die wohl hin?"
"Jedenfalls nicht ins Krankenhaus", sagte Mr Cooksey. "Eher zum Fußball."
Da fiel es ihm ein. Die Vorhänge wurden zugezogen und das kleine Fernsehgerät eingeschaltet. Wir schauten Pferderennen an, dann ein bisschen Fußball. Mrs Cooksey schenkte mir Tee ein. Mr Cooksey bot mir eine Zigarette an. Ich stand wieder in ihrer Gunst.

Am nächsten Tag, acht Tage nach Mr Dakins Einlieferung ins Krankenhaus, begegnete ich Mrs Dakin vor dem Tabakladen. Sie war auf Einkaufsbummel, die prall gefüllte Tasche passte gut zu ihrem frohen Gesicht.
"Morgen kommt er nach Hause", sagte sie.
Mit einer so schnellen Genesung hatte ich nicht gerechnet.
"Im Krankenhaus waren sie alle überrascht", sagte Mrs Dakin. "Aber das kommt nur, weil er so stark ist, wissen Sie?" Sie öffnete ihre Einkaufstasche. "Ich habe Sherry und Whiskey besorgt und" - sie lachte - "Guinness natürlich auch. Jetzt kauf ich noch eine Ente, die gibt?s dann mit Apfelmus. Er liebt Apfelmus. Er sagt, mit Apfelmus rutscht die Ente besser."
Ich schmunzelte über den kleinen Familienscherz. Dann sagte Mrs Dakin: "Und raten Sie, wer gestern im Krankenhaus war."
"Ihr Bruder und seine Frau."
Sie schüttelte den Kopf. "Der Meister!"
"Der Kerl, der die Leiter verbrannt hat?"
"Oh, und er war so liebenswürdig. Weintrauben und Zeitschriften hat er mitgebracht, und er hat zu meinem Mann gesagt, er muss sich gar keine Sorgen machen. Anscheinend haben sie?s jetzt mit der Angst bekommen. Mein Mann war kaum im Krankenhaus, da hat mein Anwalt ihnen einen Brief geschrieben. Und mein Anwalt sagt, jetzt haben wir gute Chancen, mehr als dreihundert Pfund zu bekommen."
Am selben Abend begegnete ich dem Strickmeister auf der Treppe und berichtete ihm von Mr Dakins Genesung.
"So ernst waren die Komplikationen dann wohl doch nicht", sagte er. "Aber das sind die Nerven. Nur die Nerven."
Die Strickmeisterin öffnete die Küchentür.
"Morgen kommt er raus", sagte der Strickmeister.
Die Strickmeisterin schenkte mir ihr schrecklichstes Lächeln.
"Fünfhundert Pfund dafür, dass einer von der Leiter fällt", sagte Mr Cooksey. "Ha! Das nächste Mal kippt er uns vom Baumstumpf, was, Bess?"
Mrs Cooksey seufzte. "Was hat die Labourpartei nur aus diesem Land gemacht. Und für den Mittelstand rühren sie keinen Finger."
"Schiefer Arm! Kann nicht ans Meer fahren! Verpimpelt ist der! Der Hitler hat seine Leute nicht so verpimpelt."
Das Knattern eines Motorrads zerriss die Stille.
"Unsere glücklichen Flitterwöchner", sagte Mr Cooksey.
"Die sind wir bald los", sagte Mrs Cooksey und ging ihnen in den Flur entgegen.
"Was für einen Schlüssel haben Sie eigentlich?"
"Evas", antwortete der Fußballer, die Treppe hinaufstürmend.
"Darüber müssen wir noch reden", rief Mrs Cooksey ihm nach.

Mrs Dakin sagte: "Da bin ich runter zu Mrs Cooksey und sage zu ihr: 'Mrs Cooksey, wie kommen Sie dazu, meine Gäste zu beleidigen? Reicht es nicht, dass ihnen die Flitterwochen verdorben worden sind?' Und sie sagt, sie hat die Wohnung an mich und meinen Mann vermietet, nicht an meinen Bruder und seine Frau, und dass sie raus müssen. Und ich sag zu ihr, dass sie morgen sowieso abreisen, weil mein Mann morgen nach Hause kommt. Und dann frag ich sie, ob sie zufrieden ist, jetzt, wo sie ihnen die Flitterwochen verdorben hat, die man schließlich nur einmal im Leben hat. Manche Leute auch zweimal, sagt sie, was ich als Anspielung auf mich genommen hab, weil doch mein erster Mann während des Krieges verstorben ist. Ich sag zu ihr, wenn sie meint, sich mir gegenüber so aufführen zu müssen, dann hätte ich ihr nichts mehr zu sagen. Sie sagt, sie will hoffen, dass ich das Öl von dem Motorrad von meinem Bruder noch wegputze. Und ich sag, wenn mein Mann nicht so krank wäre, würde ich ihr auf der Stelle kündigen. Und sie sagt, nur weil mein Mann so krank ist, hat sie mir noch nicht gekündigt, wie jeder andere Hauswirt es längst getan hätte." 

Am nächsten Tag geschahen drei Dinge. Der Fußballer und seine Frau reisten ab. Mrs Dakin teilte mir mit, dass die Firma ihrem Mann vierhundert Pfund gezahlt hatte. Mr Dakin kam aus dem Krankenhaus zurück, so unbeachtet von der Hausgemeinschaft, als wäre er von der täglichen Arbeit heimgekehrt. Außer dem vertrauten Maunzen und Gebrumm drang an diesem Abend kein Laut aus der Wohnung der Dakins.
Zwei Tage später kam Mrs Dakin zu meiner Wohnungstür heruntergestürzt. Anklopfen und Eintreten waren eins. "Heute kommt unser Fernseher", rief sie.

Teil 3
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