Vorworte

Leseprobe zu Shehan Karunatilaka: Die sieben Monde des Maali Almeida

Über Bücher, die kommen.
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Auf dem Dach des Hotels Leo treten die beiden Figuren, die um Maali Almeidas Seele streiten, im Gespräch mit dem Protagonisten, aber auch in direkter Konfrontation gegeneinander an. Maali und Ranee müssen erst einmal lernen, nicht ständig aneinander vorbeizureden, während Sena bereits die Selbstmörder-Seelen hinter sich schart. Wer aber bringt am Ende die überzeugenderen Argumente vor?

Gespräch mit toter Ärztin (1989)

"Was kümmert es Sie, ob ich ins Licht gehe?"
"Wir helfen Seelen, die an ihrer letzten Geburt hängenbleiben. Das Dazwischen ist übervölkert."
"Na und?"
"Es ist hier gefährlich geworden. Und ändern können Sie sowieso nichts. Ihr Leben ist vorbei. Wer Ihnen anderes erzählt, will Sie reinlegen."

Sena steht an der Kante und tut so, als würde er nicht lauschen. Mit seiner Kapuze sieht er aus wie eine Kobra, und der Umhang flattert wie Krähenflügel. Aus dieser Entfernung und im Mondlicht ist nicht mehr klar, ob seine Kluft aus Mülltüten oder aus Menschenhaut gemacht ist.

"Okay, wann lerne ich denn jetzt Gott kennen?"
"Wie ich höre, haben Sie Mahakali schon getroffen?"
"Ist Gott nicht fähig, das Böse aufzuhalten? Oder will er nicht?"
"Aiyo. Wie alt sind Sie denn, bitte?"
"Mein Vater hat mir die Uni in Berlin bezahlt. Er hat weder an Gott geglaubt noch an die University of Peradeniya."
"Mahakali ernährt sich von verlorenen Seelen. In letzter Zeit setzt sie Speck an."
"Wer bezahlt die weißen Saris?"
"Bleiben Sie im Dazwischen, werden Sie ein Yaka oder ein Preta oder ein Ghoul oder einem davon zum Sklaven."
"Wird in Peradeniya das Trolley-Problem gelehrt?"
"Sie sind nicht mein einziger Fall."
"Wenn der Mord an einem Einzelnen Hunderte retten könnte, sollten wir dann die Machete wetzen?"
"Putha. Meinen Sie, jede der Myriaden Bakterien, die auf Ihrer Leiche leben und sterben, darf Sie kennenlernen und Sie zu ihrem Lebenszweck ausfragen?"
"Jetzt komme ich nicht mehr mit."
"Wir sind hier im Dazwischen. Das ist kein Ort für Sie."
"Ich will, dass die Welt sieht, was ich gesehen habe."
"Das ist Ego. Das ist nichts als Illusion."

Am anderen Ende des Daches stolpert eine Selbstmördertruppe herum wie Kleinkinder, die vom Dreirad fallen. Ein Mädchen mit Schlips und verdutztem Blick tritt an die Kante und macht einen Schritt nach vorn. Eine Frau mit Rattenschwänzchen folgt ihr und legt einen sauberen Fosbury-Flop hin, was du im Sari nicht für möglich gehalten hättest. Eine bucklige Gestalt, die aussieht, als hätte sie seit der Zeit von König Buvenekabahu III im Ozean gelegen, torkelt an die Kante und kippt vornüber.
Das Ganze geht langsam, still und feierlich vonstatten. Weitere Silhouetten treten an die Dachkante und starren sieben Stockwerke in die Tiefe wie Galeerensklaven, die man über die Planke laufen lässt.

"Die Selbstmörder lieben Hochhäuser. Und Sie fürchten sich nicht vor den anderen Geistern?", fragt sie. "Ich hatte eine Heidenangst, als ich hier ankam."
"Anscheinend bemerken die mich gar nicht."
"Das stimmt. Machen wir weiter?"
"Hören Sie. Ich will nicht zurück. Auch nicht wiedergeboren werden. Ich will gar nichts sein. Geht das?"
"Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben."

Sena schwebt über der Kante und flüstert den Selbstmördern zu, die in den Abgrund starren. Mit Umhang und Kapuze hat er etwas Majestätisches. Anscheinend schwingt er Reden, aber es ist unklar, ob ihm irgendjemand zuhört. Als du dir den Himmel ausgemalt hast, dachtest du, Elvis oder Oscar Wilde würden dich begrüßen. Und nicht eine tote Professorin mit ihrem dicken Buch. Oder ein ermordeter Marxist mit Umhang.

"Wenn Sie alle guten und schlechten Dinge auf der Welt gegeneinander aufrechnen könnten, würden die sich in Ihrem Buch die Waage halten?"
Sie verschränkt die Arme und nickt.
"Alles gleicht sich irgendwann aus."
"Ich will Beweise."
"Dafür habe ich keine Zeit, mein Kind. Und Sie auch nicht."

Sie schlägt das Buch zu und späht hinüber zu den toten Selbstmördern, die sich noch mal umbringen wollen. Sie gibt die Fremdenführermasche auf. Du hebst die Kamera und rahmst Dr. Ranee mit den Selbstmördern im Hintergrund, wie ihre Silhouette das Buch hält.

"Ich war besessen von der Gerechtigkeit, vom Schützen der Schutzlosen, von meinen Studenten, vom Leid der Tamilen. Ich habe meine Töchter nicht aufwachsen sehen. Ich habe meine Ehe aufgegeben. Und wofür?"
"Warum engagieren Sie sich für das Licht?"
"Das Dazwischen ist verstopft. Das verseucht da unten die Gedanken. Zu viele Ghouls laufen herum und flüstern den falschen Ohren schlechte Gedanken ein."
"Wenn wir also alle ins Licht gehen, dann hören die Tiger auf zu kämpfen und die Regierung lässt niemanden mehr verschwinden? Wollen Sie mir das verkaufen?"
"Das Dazwischen ist voller Kreaturen, die sich von Verzweiflung ernähren."
"Wäre das Dazwischen leer, würden die Reichen das Raffen lassen und die Armen nicht mehr hungern?"
"Bleiben Sie hier, werden Sie einer von Ihnen. Vielleicht hat es schon angefangen."
"Ich muss meine Freunde warnen. Wer auch immer mich umgebracht hat, will auch meine Fotos klauen. Ich muss aufpassen, wer es macht."
"Das interessiert niemanden, Putha. Niemanden. Sie müssen es innerhalb von sechs Monden schaffen. Sollen wir?"
"Wer, wir?"
"Wir müssen Ihre Ohren untersuchen. Nur das."
"Wir müssen gar nichts mehr. Nie wieder."
"Madam Doctor, ich würde sagen, es reicht jetzt, oder?" Sena hat die Kapuze wieder hochgeschlagen und ein rot-weiß-kariertes Tuch um den Hals. Er lehnt den Kopf dort an, wo deine Schulter gewesen wäre.
Du erschauderst, und Dr. Ranee schimpft. "Wir hatten ausgemacht, dass Sie nicht sprechen."
"Immer wollen sie uns den Mund verbieten. Typisch intellektuelle Bourgeoisie."
"Sie können ihn sieben Monde lang nicht anrühren. Und Ihr Boss auch nicht."
"Ich habe keinen Boss. Ich bin Sena Pathirana, JVP-Organisator für den Distrikt Gampaha. Und das hier ist Maali Almeida. Fotograf von Weltrang. Vögler von allem südlich von Jaffna. Von einer Todesschwadron vom Dach geworfen. Maali-Hamu. Bitte lass dir gar nicht erst die Ohren untersuchen. Und lass dir auch nicht im Fluss das Bewusstsein auslöschen."

Dr. Ranee geht auf ihn zu wie eine Lehrerin mit Lineal in der Hand. Hinter ihr brechen zwei Männer im weißen Kittel aus den Schatten. Sie sprinten durch die Luft. Der ältere Herr mit dem Afro, den du am Tresen gesehen hast und der dich an Moses erinnert. Rauschebart, Krone aus Gestrüpp und ein Blick, als würde er beim nächsten Spruch jemandem das Meer teilen. Der andere ist groß und muskulös wie He-Man aus dem Cartoon, wäre er in Avissawella geboren worden.
Sie packen Sena und drücken ihn auf den Boden. Dr. Ranee schwebt über ihm und schüttelt den Kopf. Sena schaut mit blitzenden Augen zu ihr hoch.
"Sie haben gesprochen. Jetzt bin ich dran."

Unbarmherzige Samariter

Während Kartons unter Betten schlafen und Böse von den Sachen träumen, die sie klauen wollen, beschließt man im Geiste des Fair Play und der Demokratie - die nicht immer deckungsgleich sind -, dass Sena sprechen darf. Er nimmt sofort die Pose des Redners bei
einer JVP-Kundgebung ein, stellt sich an die Kante und geht langsam auf und ab. Die Selbstmörder kauern in den Schatten und lauschen wie Jünger.

"Meine Damen, Herren, Genossen, liebe Mitreisende. Ich erinnere mich an meine letzte Geburt. Ich musste mir keine Nummer am Tresen abholen und mir von irgendeinem Helfer Unsinn über das Licht erzählen lassen. Es kam mir alles von selbst."

Ein Raunen geht durch die Selbstmördermenge. Doc Ranee sieht dich an und schüttelt lange den Kopf. Sie kritzelt etwas in ihr Buch.

"Ich bin seit zweihundertfünfzig Monden im Dazwischen. Es gibt nichts Besseres. Ich habe nicht in der Geburtenlotterie gewonnen. Ich bin in einem Steinbruch in Wellawaya aufgewachsen. Ich habe als Diener in Gampaha gearbeitet. Da unten hat man mir
gesagt, meine Armut wäre mein Karma, mein Kreuz, mein Gebrechen. Meine Schuld. Ich bin nicht der JVP beigetreten, weil es in Mode war, sondern weil es sein musste. Ich habe Armut erfahren, und ich kenne die Armen. Ich kenne ihren Kampf, und ich kenne ihren Schmerz."

Er geht am Rande des Publikums entlang, bleibt bei dir stehen, hockt sich hin und spricht im Flüsterton weiter.

"Wenn das Licht der Himmel ist, wie diese Frau Doktor uns sagt, und das Dazwischen ein Fegefeuer voller verlorener Seelen, was ist dann bitteschön das Da unten?"
"Die Hölle!", ruft jemand aus der Menge.
Sena lacht leise. "Jeder Seele werden sieben Monde zugestanden, um im Dazwischen zu wandern. Sich auf vergangene Leben zu besinnen. Um dann zu vergessen. Ihr sollt vergessen, denn wenn ihr vergesst, ändert sich nichts.
Die Welt korrigiert ihren Kurs nicht von selbst. Die Rache ist euer Recht. Hört nicht auf die unbarmherzigen Samariter. Verlangt Gerechtigkeit. Das System hat euch hängenlassen. Das Karma hat euch hängenlassen. Gott hat euch hängenlassen. Wie auf Erden, so hier oben."

Das Raunen der Selbstmörder ist ein paar Dezibel lauter geworden. Sie springen jetzt nicht mehr in die Tiefe. Dr. Ranee schwebt bei Moses und He-Man und schnaubt.
"Das sind Heucheleien", ruft sie. "Rache ist keine Gerechtigkeit. Die Rache bringt den Rächer selbst nieder. Nur das Karma gibt euch, was euch zusteht. Doch ihr müsst Geduld haben. Sonst nichts."

Sena verzieht das Gesicht und spuckt die Worte aus. "Typisches Behördensprech. Zieht eine Nummer und setzt euch, bis ihr vergessen habt, weshalb ihr gekommen seid."

Moses baut sich zu voller Gnomengröße auf. "Ein bisschen mehr Respekt, du Schwein!"

"Viele von euch wurden umgebracht. Viele wurden in den Selbstmord getrieben", sagt Sena. "Vielleicht ist es einfacher zu vergessen. Aber vergessen ändert nichts. Verbrechen müssen in Erinnerung bleiben. Sonst haben eure Mörder weiter freie Hand. Und ihr findet niemals Frieden."

Diesmal packt dich der Schmerz bei der Kehle und würgt dich, während Erinnerungen an Sachen zurückkehren, die du hattest vergessen wollen. Welche Angst du bei deinem ersten Auftrag für die Army hattest, wie es wehtat, als dein Vater ging, und wie enttäuscht du warst, nach der Überdosis im Krankenhaus wieder aufzuwachen. Wie sehr dein neunundzwanzigjähriges, dein elfjähriges und dein siebzehnjähriges Ich einander gehasst hätten. Und wie sehr dein totes Ich sie alle verabscheut.

Mit dem rot-weiß-karierten Tuch, wie es Ölscheichs, Terrorgruppen und Hippies lieben, wischt Sena sich den Schweiß vom Hals. Er schwebt auf dich zu und packt dich bei den Ohren. "Die Todesschwadron, die mich umgebracht hat, hat auch dich getötet, Maali. Sechs Männer sind für unsere Morde verantwortlich. Und wenn du mir hilfst, lasse ich sie büßen."
"Chik!", schimpft Dr. Ranee. "Genau wie Ihre Anführer. Billige Schurken, die Märchen und falsche Hoffnungen verkaufen. Sie sind tot! Sie können niemanden mehr büßen lassen."
"Unschuldige haben das Recht, ihren Tod zu rächen."
"Rache ist kein Recht. Die Insel braucht nicht noch mehr Leichen. Sie führen sich kindisch auf."
"Die Mächtigen kommen mit Morden davon. Und alle Götter des Himmels schauen weg. Das ändert sich jetzt. Und zwar mit uns."
"Wie denn? Sie haben keine Hand mehr, die ein Messer führen könnte. Die Lebenden können Sie weder sehen noch hören. Wie wollen Sie da irgendetwas rächen?"
"Ich kann flüstern."
Wieder geht ein Raunen durch die Menge.
"Und ich kann es euch allen beibringen."
"Das ist schwarze Magie. Sie macht euch alle zu Sklaven", brüllt Dr. Ranee. "Wie euer Crow Man. Er ist ein Sklave der Mahakali."
"Wen kümmert die Farbe der Magie, solange sie wirkt?", fragt Sena und starrt dir in die Augen.
"Hören Sie das, Maal?" Dr. Ranee wirkt aufgebracht. "Wen kümmert's?"
"Magie ist weder böse noch gut. Weder schwarz noch weiß. Sie ist wie das Universum, wie jeder abwesende Gott. Mächtig und ganz und gar gleichgültig."

Die Selbstmörder trommeln auf den Dächern, während die Elenden applaudieren. Sena hat sein Publikum gefunden, und trotz Dr. Ranees bösen Blicken schwebst du hinab zu ihnen. Doch dann hat Mahakali ihren Auftritt.

Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags