Vorworte

Ein kanadischer Kosmos

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
16.10.2023. In Kanada hat ihr Name Gewicht. Auf der internationalen Bühne dagegen steht Margaret Laurence ganz im Schatten der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro oder der vielfach ausgezeichneten Margaret Atwood. Ihre facettenreiche Auseinandersetzung mit dem sich wandelnden Frauenbild macht der Eisele Verlag nun mit der blendenden Übersetzung ihres fünfbändigen Manawaka-Zyklus auch dem hiesigen Publikum zugänglich.
Margaret Laurence
Was heißt: sich freischreiben? Geht es darum, vom Autobiografischen loszukommen, oder im Gegenteil ums Durchleuchten und Ergründen dessen, was im eigenen, realen Leben unlösbar scheint? Liegen die Parameter ganz woanders, nämlich im Vordringen zu einem innovativen Umgang mit Sprache und Form? Unter all diesen Aspekten ließe sich das Schaffen der Kanadierin Margaret Laurence betrachten. Und wäre die erste der genannten Optionen die richtige Antwort, dann hätte die 1926 geborene Schriftstellerin ihre Karriere quasi auf dem Gipfelpunkt begonnen. Mit einer Anthologie somalischer Dichtung und Prosa, die sie zusammenstellte und ins Englische übertrug, erschloss sie sich zunächst den fremden Kontinent, die andere Kultur, mit denen sie der Beruf ihres Ehemanns konfrontierte: Ab 1950 war Jack Laurence als Ingenieur in leitender Position bei Entwicklungsprojekten in Somaliland und später in Ghana tätig.

Margaret freilich erkannte in dieser Hilfeleistung bald schon ein ähnliches Gefälle zwischen Weißen und Afrikanern wie in der Überheblichkeit der europäischen Kolonisten, die sie abstieß. Mittels der kulturellen Annäherung suchte sie stattdessen - so ihr Biograf James King - "Wege zu einem Verständnis, das die Ähnlichkeiten hervorhob, aber zugleich Differenzen erkannte und anerkannte". In ihrem 1960 erschienenen ersten Roman, "This Side of Jordan", versuchte sie dann, die komplexe Phase des Übergangs vom Kolonialismus zur Unabhängigkeit, die sie in Ghana beobachtet hatte, literarisch zu gestalten. Dabei ging sie auch das Wagnis ein, um dessentwillen manche heute umgehend den Stab über ihr brechen würden: Sie stellt einen Afrikaner, den Lehrer Nathaniel Amegbe, ins Zentrum des Geschehens, schreibt einen Teil des Buches aus seiner Sicht und Erfahrung heraus und greift dabei auch stark auf Kultur und Traditionen der Ashanti zurück. Allerdings gibt die Autorin der Engländerin Miranda, die im Roman als ein entferntes Nachbild ihrer selbst auftritt, schon bald mal eins auf die Finger. Der schwarze Journalist Victor Edusei hat die Nase gründlich voll von derlei "verdammten Amateur-Anthropologen", die sich so wohlmeinend wie dumm gebärden. Eine Dame der Zunft habe ihn einmal gefragt, wie Afrikaner Liebe machten: "Ich sagte, wir tun es in der Regel hängend, mit dem Hals in einer festen Schlinge. Und riet ihr, das doch auch mal auszuprobieren."

Es ist jedoch nicht der "afrikanische" Teil ihres Œuvres - er umfasst nebst den erwähnten Werken eine Erzählsammlung und einen Erinnerungsband über die Zeit in Somaliland -, der Margaret Laurences Namen bekannt machte, sondern der fünfbändige Manawaka-Zyklus, mit dem sie insbesondere in ihrer Heimat zur hochgeschätzten Autorin avancierte. Er ist hauptsächlich in Kanada angesiedelt und greift von Manawaka - dem fiktiven Pendant zu Laurences Geburtsort Neepawa - nach Winnipeg, Vancouver, Toronto und London aus, den Städten, die weitere Lebensstationen der Schriftstellerin markieren. In den deutschen Sprachraum hatten es bis vor wenigen Jahren nur zwei Bände der Pentalogie geschafft; doch seit 2020 haben die brillante Übersetzerin Monika Baark und der Münchener Eisele-Verlag eine integrale Neuausgabe in Arbeit, in deren Rahmen nach "Der steinerne Engel" und "Eine Laune Gottes" demnächst "The Fire-Dwellers", der dritte Band des Zyklus, unter dem Titel "Das Glutnest" erstmals in deutscher Sprache vorliegen wird.

Auf den ersten Blick scheint auch "The Stone Angel", 1964 als erster Band der Reihe publiziert, noch viel Distanz zur eigenen Biografie zu wahren. Denn das Alter Hagars, der grandiosen Ich-Erzählerin, hat Margaret Laurence nie erreicht. Neunzig Jahre zählt die Frau mit dem herben biblischen Namen, aber sie denkt nicht daran, den schwindenden Kräften auch nur einen Fußbreit ihres Eigensinns zu opfern. Für die Schriftstellerin, die ihre Gesundheit mit Alkohol- und Nikotinkonsum nachgerade systematisch unterhöhlt hatte, begann der letzte Kampf schon drei Lebensjahrzehnte früher. Kurz nach ihrem sechzigsten Geburtstag wurde bei ihr unheilbarer Nieren- und Lungenkrebs diagnostiziert. Vier Monate später, am 3. Januar 1987, ging sie in den Freitod.

Aus diesem Verlangen, dem körperlichen Verfall und dem Ende aufrecht entgegenzutreten, ließe sich vielleicht doch eine Art Wesensverwandtschaft zwischen Hagar und ihrer Schöpferin lesen. Aber was man im Blick auf Margaret Laurences letzte Lebenszeit nur als schmerzlich-tragisch empfinden kann, verhandelt "Der steinerne Engel" in ganz anderem Ton - und keineswegs mit Engelszungen. Hagar ist zwar nicht mehr ganz Herrin ihrer Körperfunktionen und ihres kurzfristigen Erinnerungsvermögens; ihre sprachliche Energie und ihr kratzbürstiger Trotz aber stehen in vollem Saft, sie weiß mit scharfer Zunge auszuteilen, auch und gerade gegenüber ihrem Sohn Marvin und dessen Frau Doris, die sie beide von Herzen verachtet, obwohl sie sich um sie kümmern. Margaret Laurence arbeitet die Schwächen und Härten ihrer Hauptfigur scharf heraus; dennoch sorgt nur schon deren bissig-kluger Mutterwitz dafür, dass kaum ein Leser, eine Leserin das Herz vor ihr verschließen wird.

Hagars materiell wie emotional karge Lebensgeschichte, die Stück für Stück in den Roman eingeblendet wird, mag in einiger Distanz zu unserer heutigen Erfahrungswelt liegen. Die Frage jedoch, ob und wann ein betagter Mensch zur Schonung der Angehörigen die eigene Mündigkeit aufgeben muss, hat angesichts des demographischen Wandels auch sechzig Jahre nach dem Erscheinen des Romans keineswegs an Aktualität verloren. Laurences alte Lady, Meisterin der selektiven Wahrnehmung, ignoriert Hinweise auf Doris' angeschlagene Gesundheit ebenso standhaft wie "das mit dem Bettzeug" - ein Fakt, das die Schwiegertochter dann in einem Moment erbitterter Gegenwehr ausbuchstabiert: Seit einiger Zeit hat sich Hagar praktisch jede Nacht eingenässt. Nun soll sie ins Altersheim - und liefert dem Schicksal einen letzten Kampf, den Margaret Laurence auf literarischer wie emotionaler Ebene überragend gestaltet.

Der hier entworfene Generationenkonflikt scheint die Schriftstellerin beschäftigt zu haben, denn "A Jest of God" (dt. "Eine Laune Gottes"), zwei Jahre nach "The Stone Angel" erschienen, beleuchtet ihn von der anderen Seite her. Die Ich-Erzählerin Rachel Cameron musste nach der Heirat ihrer älteren Schwester das Studium abbrechen, um sich in der verschlafenen Kleinstadt Manawaka um die verwitwete, kränkliche Mutter zu kümmern; mittlerweile vierunddreißig, schläft sie noch immer im selben Zimmer zwischen denselben artig weiß lackierten Möbeln, die sie mit dem Wechsel an die Universität für immer hinter sich lassen wollte. Zwar sind ihre erotischen Tagträume nicht mehr ganz so proper wie das jungfräuliche Mobiliar, doch Jungfrau ist sie immer noch - und sich schmerzlich bewusst, dass sie aus der Zeit gefallen ist: "Frauen wie ich sind ein Anachronismus. Wir existieren nicht mehr. Und doch schaue ich in den Spiegel und sehe, ich bin da."

Rachels Mutter ist punkto Temperament quasi Hagars Antipodin: "Ihre Waffen sind unsichtbar und sie würde niemals zugeben, sie zu besitzen, geschweige denn Gebrauch von ihnen zu machen", heißt es von Mrs. Cameron, die ihr schwaches Herz bei Bedarf als ziemlich potentes Druckmittel einzusetzen weiß. Es bedarf einer - wenn auch kurzen und in mehr als einer Hinsicht trügerischen - Liebesaffäre, bis Rachel den Mut aufbringt, ein eigenes Leben einzufordern und den Ansprüchen der Mutter zu begegnen.

Margaret Laurence selbst kannte die frustrierende Tochterrolle Rachels ebenso wenig aus eigener Erfahrung wie das hohe Alter Hagars. Ihre Mutter starb, als sie vier Jahre zählte, den Vater verlor sie mit neun; eine Tante nahm sich ihrer an, Obdach, wenn auch kein Heim boten über längere Zeit die Häuser der Großeltern. Der Protagonistin des "Steinernen Engels" ist zumindest insofern ein autobiografisches Element eingeschrieben, als sich in Hagar Schicksale und Charakterzüge der Verwandten mischen, die über Laurences Kindheit wachten. Der Impuls, die späten Jahre eines Menschen in den Fokus zu nehmen, kam ihr Mitte der 1950er Jahre, als sie die Tante, die sie aufgezogen hatte, durch ihre letzte Lebenszeit begleitete; doch Hagars Charakter formte sie dann nicht nach deren Bild. Vielmehr gingen Wesenszüge der voraufgehenden Generation in die Figur ein: ein Quäntchen der Überheblichkeit, welche die aus großbürgerlichen Verhältnissen stammende, verwitwete Großmutter väterlicherseits zur Schau trug, und eine gute Portion des Starrsinns, mit dem der Großvater mütterlicherseits seinen Hausstand tyrannisierte.

Diesen familiären Kosmos wird "A Bird in the House", der vierte Band der Pentalogie, dann direkt beleuchten. Er versammelt acht zwischen 1963 und 1970 entstandene Erzählungen, in denen Vanessa MacLeod als kindliches Alter Ego der Autorin auftritt. Vieles im Buch deckt sich weitgehend mit Margaret Laurences Biografie, auffallend ist jedoch die Tilgung des ersten traumatischen Verlusts: Der Tod der Mutter wird ausgeblendet, in Beth, der Ehefrau von Vanessas Vater, fusioniert die Schriftstellerin ihre leibliche Mutter und die Tante. Den Vater verliert das Mädchen erst mit zwölf, also drei Jahre später als Margaret Laurence.

Wir begleiten Vanessa vom sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr, einzelne Texte greifen aus bis ins Erwachsenenalter. Mit einer Ausnahme spielen die Erzählungen in den ganz unterschiedlich geprägten, doch gleichermaßen ungemütlichen großelterlichen Häusern. Weitläufig, aber geisterhaft und beklemmend ist dasjenige der Witwe MacLeod mit seinem museal erstarrten Salon und den seit Jahren nicht mehr genutzten Türen, hinter denen sich "staubige Tunnel und verborgene Nischen" auftun; dort stapeln sich düster-dumpfe Ölbilder, lagern Truhen voll alter Fotoalben und aus der Mode gekommener Kleider. Mit dem Hauch toter Vergangenheit mischt sich die von der Großmutter ausstrahlende Kälte: So weist sie das Kind etwa in barschem Ton an, statt der Haupt- die Hintertreppe zu benutzen.

Im Haus der Großeltern mütterlicherseits herrscht mehr, wenn auch gründlich gedämpftes Leben. Der Patriarch Timothy Connor, als Kaufmann zu Wohlstand gelangt, unterstützt auch mal Angehörige, die durch mangelnde Lebenstüchtigkeit oder die Wirtschaftsdepression in Not geraten sind. Die Hilfeleistung freilich hat ihren Preis - denn er weiß unter dem Hinterteil jedes dieser Schützlinge ein eigenes Höllenfeuerchen zu entzünden. So darf Chris, der begabte und sensible Sohn armer Verwandter, zwar hier wohnen, solange er die Highschool in Manawaka besucht, er muss aber die Begleitmusik regelmäßiger abfälliger Kommentare über seine Familie hinnehmen. Vanessas vife, ledige Tante Edna, die infolge der Depression ihre Stelle verloren hat, sitzt wehrlos dabei, während ihre Verehrer mit einer ungewöhnlichen Waffe in die Flucht geschlagen werden: Taucht ein Aspirant auf, begibt sich der alte Connor bald einmal auf seinen Schaukelstuhl, mittels dessen er seinen Unmut geräuschvoll in die Bodenbretter mahlt. Auch Vanessas guter Ruf wird später auf diese Art verteidigt. Nur einmal, nach dem Tod der sanften, duldsamen Großmutter, die das Leben im Haus erst erträglich machte, bricht die Fassade des grantigen Despoten auf: Ein absoluter Schock für das Mädchen, das erleichtert ist, als er wieder das bekannte hölzerne Gesicht zur Schau trägt.

Hatte sich Laurence mit diesen Erzählungen den guten und weniger guten Geistern ihrer Kindheit gestellt, so greifen der dritte und der fünfte Band der Pentalogie - allerdings wieder aus größerer erzählerischer Distanz - die Themen auf, die sie als Erwachsene umtrieben. Näher als die Protagonistin des "Glutnests" steht ihr sicherlich Morag Gunn, der sie den letzten Roman des Zyklus, "The Diviners" (1974), gewidmet hat. Wie Margaret Laurence ist Morag Schriftstellerin, und das einzigartige Bild, das den Roman eröffnet - ein Fluss, der zugleich vor- und rückwärts zu fließen scheint - ist direkt inspiriert vom Blick auf den Otonabee River, den die Autorin in späteren Jahren von ihrem Cottage aus genoss. Auch Morag verliert beide Eltern im frühen Kindesalter, gerät dann aber im Gegensatz zu Laurence in materiell und sozial elende Verhältnisse: Christie Logan, ein ehemaliger Kriegskamerad ihres Vaters, nimmt die Waise bei sich auf, obwohl er durch seinen Beruf als Müllmann, seine schrullige Wesensart und die fast vegetative Lethargie seiner Ehefrau gleich dreifach marginalisiert ist.

Dort, im gesellschaftlichen Abseits, wurzeln aber auch zwei Themen, die der Schriftstellerin nahe waren. Der Stolz auf die schottische Abkunft, den die Familie ihres Vaters pflegte, scheint in der heroisch verbrämten schottisch-kanadischen Emigrationsgeschichte auf, die Christie dem kleinen Mädchen vorträgt; und die Verachtung, die Morag von den besser gestellten Mitschülern erfährt, verbindet sie mit dem gleichermaßen ausgegrenzten Métis-Jungen Jules Tonnerre. In dieser Beziehung, die eine Spielart des kanadischen Rassismus ins Licht rückt, sieht Margaret Laurences Biograf den kritischen Geist ihrer frühen, der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus entsprungenen Werke wieder auferstehen.

Direktere biografische Parallelen zeichnen sich in Morags College- und Studienzeit ab. Auch sie beginnt früh zu schreiben, wie ihre Schöpferin amtet sie auf dem College als Herausgeberin der Schülerzeitung, arbeitet später beim Lokalblatt ihres Heimatorts und nimmt schließlich ein Literaturstudium in Winnipeg auf. Die jüdischstämmige Ella Gerson, mit der Morag sich dort anfreundet, ist eine direkte Hommage an die Autorin Adele Wiseman, der Laurence an der Hochschule begegnete und die sie als engste Vertraute durchs Leben begleiten sollte. In Morags Ehe mit dem umschwärmten Anglistik-Professor Brooke Shelton scheinen dann zumindest einzelne Aspekte der langjährigen und schwierigen Beziehung zwischen der Schriftstellerin und ihrem Gatten Jack Laurence auf. Beide Paare sind durch eine beträchtliche Altersdifferenz getrennt, bei beiden liegt das Konfliktpotenzial in divergierenden Vorstellungen über die Rolle der Ehefrau - ein Thema, dem Betty Friedans epochale Studie "The Feminine Mystique" (dt. "Der Weiblichkeitswahn") in den 1960er Jahren ein breites Forum geschaffen hatte.

In den "Diviners" liegt das Gewicht vor allem auf den Erwartungen des Mannes. Brooke relegiert Morag ganz auf die Rolle der heiteren Zierde des Heims, die seiner unruhigen Seele eine Zuflucht schaffen soll, und verweigert ihr deshalb den Wunsch nach einem Kind. Margaret Laurence dagegen blieb dieser nicht versagt - doch die Bedürfnisse der Kinder wurden zu einem weiteren Brennpunkt innerer Konflikte. Wenn etwas mit ihrer Leidenschaft fürs Schreiben konkurrenzieren konnte, dann war es die Liebe zu Tochter und Sohn; dennoch ging ihre Arbeit - insbesondere als sie infolge von Trennung und Scheidung zunehmend auf ein eigenes Einkommen angewiesen war - oft auf Kosten dessen, was sie ihnen bieten konnte.

Es ist also kein Zufall, dass die Schriftstellerin eine vierfache Mutter ins "Glutnest" setzt - der deutsche Titel trifft das Thema noch genauer als die "Fire-Dwellers" des Originals. Die Verwandtschaft zwischen dem 1969 erschienenen Roman und "The Diviners" beschränkt sich aber nicht auf die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Rollenbild; in den beiden Büchern kommt Margaret Laurence auch dem dritten der eingangs genannten Kriterien, der Suche nach neuen formalen Mitteln, am nächsten. In den "Diviners" fasst sie die Lebenserinnerungen der Hauptfigur in "Snapshots" und "Memory Movies", die allerdings den Rahmen der konventionellen Erzählform nicht wirklich sprengen. Daneben entwirft sie die mythisch überhöhten, gegenläufigen Erzählungen über die schottischen Einwanderer und den Widerstand der Métis gegen diese Siedler oder fügt imaginäre Gespräche Morags mit einer Botanikerin aus dem 19. Jahrhundert in den Text; auch einige Songs sind eingeschlossen, für die am Ende des Buches sogar ein Notentext nachgereicht wird.

Punkto Gestaltung wirkt jedoch "Das Glutnest" insbesondere im ersten Teil weit mutiger und innovativer. Stacey Cameron, die neununddreißigjährige Protagonistin, kennt man schon aus "Eine Laune Gottes", sie ist Rachels ältere Schwester. Auch in "The Diviners" findet sie Erwähnung - und sie ist nicht die einzige Figur, die Spuren in mehreren Manawaka-Romanen hinterlassen hat. Ihre Geschichte eröffnet Margaret Laurence mit einem sinistren Kindervers, der Stacey gleich nach dem Erwachen durch den Kopf schießt; nach einem kurzen inneren Monolog wechselt der Text dann in die Außenperspektive, die - ein Geniestreich - in einem Spiegel eingefangen und damit entrückt und gebrochen wird. Solche ständigen Wechsel zwischen Innen und Außen treiben Stacey, und mit ihr die Leserin, durch den Roman; Fernseh- und Radionachrichten dringen fetzenhaft ins Geschehen, markieren die Ära des Vietnam-Kriegs, ohne dass das Wort je ausgesprochen wird. Werbung schillert in allen Regenbogenfarben, sei es bei einer fiktionalen Variation auf die berühmten Tupperware-Parties, sei's bei der breit angelegten Kampagne für ein neues Wundermittel, für die Staceys Ehemann sich alles abprügeln muss, was er an Leistung bringen kann. Bohrend fragen Frauenmagazine nach dem Schadenpotenzial der Mutterliebe und ziehen Stacey, die mit den Dissonanzen zwischen ihren Söhnen, dem erwachenden Widerstandsgeist der pubertierenden Tochter und der Sprachstörung der zweijährigen Jen schon mehr als gefordert ist, den Boden unter den Füssen weg. Die Gespräche mit dem abgehetzten Gatten haben fast schon rituellen Charakter: Missverstehen beiderseits, zänkisches Crescendo, zu unguter Letzt streckt Stacey die Waffen und entschuldigt sich. Kein Wunder, dass ihr Inneres diese Zumutungen in Albträumen oder Angstvisionen spiegelt, dass sie beim Alkohol oder in imaginären sexuellen Abenteuern Zuflucht sucht.

Man könnte den Finger darauf legen, dass das hellwache, scharfe und manchmal fast poetische Wahrnehmungs- und Reflexionspotenzial, das Laurence ihrer Protagonistin zuschreibt, die in der Figur angelegten Fähigkeiten eigentlich sprengt. Doch diese Klage wäre müßig. So sehr sich Staceys Lebenssituation von der ihrer Schöpferin unterscheiden mag: Mit ihren Ängsten und Sorgen stehen die beiden Frauen auf Augenhöhe, und dass Margaret Laurence ihre ganze Kunst in die Ausgestaltung dieses Seelenzustands investiert, ist für die Leserschaft nur Gewinn. Eher darf man sich daran stören, dass der schnelle, inspirierte Takt des Perspektiven-, Themen- und Medienwechsels, den der Roman zu Beginn anschlägt, nicht durchgehalten wird. Gegen Ende setzt Laurence stattdessen auf eine eigentliche Serie größerer und kleinerer Katastrophen, die den ohnehin brüchigen Mikrokosmos von Staceys Familie durchrütteln - scheinbar nur, damit dann ein verlässlich agierender Deus ex machina für eine hoffentlich stabilere Ordnung sorgen kann. Natürlich ließe sich sagen, es sei ebenfalls eine Sache der Form, wenn gegen Ende hin die offenen Rechnungen beglichen und abgeschlossen werden; doch diese Regel entspricht älteren literarischen Konventionen und nicht dem kühnen, weltoffenen Entwurf, den Margaret Laurence mit dem Beginn des "Glutnests" vorgelegt hat.

Margaret Laurence: Das Glutnest
Roman
Aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark. Eisele Verlag, 2023. 368 Seiten, gebunden, 25 Euro

Erscheint am 26. Oktober 2023

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