Vorworte

Du sollst dir (k)ein Bildnis machen

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
19.02.2024. "Tremor" heißt Teju Coles neuer Roman, und er schüttelt auch Erwartungen durch, die man gemeinhin ans Genre stellt: Der schweifende Geist des Essayisten prägt die Form des Buches durchweg - und bis zum fast totalen Zerfall. Bei der Gestaltung der Hauptfigur treibt der Autor sein Vexierspiel mit autobiografischen Elementen noch einen Tick weiter.
Teju Cole. Foto: Maggie Janik
Ein wenig Befangenheit versteckte sich in der ersten Frage, die ich 2014 an Teju Cole richtete. Drei Jahre nachdem er mit "Open City" einen Markstein in die zeitgenössische US-Literatur gesetzt hatte, kam der Schriftsteller, Essayist und Fotograf als Writer in Residence nach Zürich; allein schon der breite Wissenshorizont, den seine Arbeiten auswiesen, ließ die Journalistin leicht klammen Herzens zum Interview antreten. Und ja, zusätzlich spielte auch das Unbehagen eine Rolle, das von der Hauptfigur von "Open City" ausgeht.

So galt die Frage den vom Visuellen geprägten, noch in ihrem oft düsteren Kolorit beglückenden Leseeindrücken: den Impressionen aus New York, in denen da und dort die Versehrung von 9/11 noch nachzittert, aber auch andere Verwerfungen beleuchtet werden, die in die Topografie der Metropole eingeschrieben sind - und wo verblüffende Kippmomente aufscheinen, wenn etwa in der U-Bahn-Station bei der Wall Street die fast sakrale Anmutung einer großen Halle jäh in sich zusammenfällt und das Billige, Kahle, Künstliche hervortritt. Bei der Lektüre, so die Frage, hätte ich gelegentlich an Stendhals Bild vom Roman als einem Spiegel gedacht, der eine Landstraße entlangspaziert; ob diese Idee tatsächlich etwas von Coles Buch reflektiere?

Entsprechend der Fragestellung antwortete der Schriftsteller auf der literarischen Ebene. Mit "Open City" habe er versucht, Stendhals Idee auf innovative Weise umzusetzen und "zumindest die Illusion zu schaffen, dass Realismus hier auf andere Art angegangen wird. Realer Realismus wäre entsetzlich langweilig, nicht mehr als eine Transkription von allem, was uns vor Augen kommt. (…) Es ging mir darum, das Gefühl zu vermitteln, dass das Leben hier genau so, wie es ist, eingefangen wird - aber wie kann man so etwas erfinden? Das war es, was mich interessierte."

Vier Jahre später führte eine Ausstellung zu seinem Foto-Text-Band "Blind Spot" den Autor erneut nach Zürich. Und im damaligen Gespräch folgte, was wie ein Postskriptum zur Antwort von 2014 wirkt: "Obwohl Literatur zweifellos eine tiefgreifende ethische Grundlage hat", so Cole, "beginnt sie für mich immer mit Beschreibung. Der Fotograf Garry Winogrand sagte: 'Nichts ist so mysteriös wie ein Faktum, das klar beschrieben wird.' Das trifft es genau - diese Idee, dass sich beim Beschreiben etwas Magisches ereignen kann."

Etwas Magisches: Genau das hatte er mit "Blind Spot" selbst geschaffen. Allerdings indem er im Literarischen auf einen Vektor setzte, welcher dem "Faktum, das klar beschrieben wird", diametral entgegenläuft. Denn oft stoßen sich die kurzen Texte, die Cole neben seine subtil komponierten Fotografien setzt, von diesen ab in ganz andere gedankliche Räume - wobei aber das Bild als verlässlicher Blickfang einen zugleich immer wieder in die Pflicht nimmt, dennoch Bezüge herzustellen. Teju Coles dreifaltige Begabung - der zugleich sichere und sinnliche Blick für Form und Farbe, der essayistische Ausgriff, die literarische Sensibilität - zeigt sich hier in vollkommenem, zu immer neuen gedanklichen Streifzügen einladendem Gleichgewicht.

Auffallend an den Fotografien in "Blind Spot" ist die weitgehende Absenz von Menschen. Sie figurieren nur auf rund einem Fünftel der Aufnahmen, wobei die Personen manchmal ferne, zufällige Staffage sind, anderswo lediglich als Bild im Bild - etwa auf Werbeplakaten oder Kunstwerken - erscheinen; liegt der Fokus direkt auf einem Menschen, dann wendet er dem Betrachter in der Regel den Rücken zu. Dieser Ansatz korrespondiert mit dem, was wir über den Fotografen und Kunstwissenschaftler Tunde lesen, der im Zentrum von Coles jüngstem Roman steht; von Anna Jäger ins Deutsche übersetzt, erscheint "Tremor" demnächst bei Claassen. Tundes Aufnahmen, so heißt es, seien "ruhig, voller Hinweise auf die Präsenz von Menschen, aufgeladen mit ihrer Abwesenheit. Sie sind Porträts von unbelebten Szenarien, von Brettern, Reifen, Rinnen, Becken, Steinen, Schiffen, Pflanzen." Warum? "Ich fürchte mich vor den Anforderungen, die Porträts von Menschen stellen", gibt der Protagonist zu; nicht nur die persönliche Scheu vor einer Konstellation, die "zugleich Vertrautheit, Verletzlichkeit und Fremdheit" erfordert, wirke dabei als Hemmnis, sondern auch das immer schärfer empfundene Gefühl, mit dem Fotografieren einen "Raub von Gesichtern" zu begehen, das "Leben der anderen zu kannibalisieren".

Spiegelt sich etwas von dieser Scheu auch in Teju Coles literarischem Schaffen? Er ist jedenfalls kein Autor, der sich im freien Kreieren von Figuren, im Entwickeln und Verflechten von Schicksalen, der Konstruktion von Handlungs- und Spannungsbögen ergeht, wie sie generell mit dem Handwerk des Romanciers assoziiert werden; und auffallend ist auch die Art, wie er sich in seinen bisher drei Romanen an die Hauptfiguren herantastet. Da sind etwa die biografischen Marker, die sie miteinander und auch mit ihrem Schöpfer gemein haben: Wie Cole sind der namenlose Protagonist des 2007 erschienenen Erstlings "Every Day Is for the Thief" (dt. "Jeder Tag gehört dem Dieb"), der Ich-Erzähler Julius in "Open City" und nun auch Tunde mit 17 Jahren aus ihrer Heimat Nigeria in die USA emigriert, wobei sich dahinter allerdings unterschiedliche Familiengeschichten abzeichnen. Julius und Tunde teilen mit dem Autor zudem das breite Interessenspektrum, die Leidenschaft für Klassik, Jazz oder afrikanische Musik - und vor allem die teils fruchtbaren, teils schmerzhaften Reibungen, die ein Leben "im Zentrum des weißen Wissens" mit sich bringt. Und Tunde unterrichtet, wie Cole selbst, an der Harvard University.

Wenn der Ich-Erzähler von "Jeder Tag gehört dem Dieb" bei den letztgenannten Engführungen außen vor bleibt, dann deshalb, weil er bloß ansatzweise Kontur gewinnt. Nur ganz am Rande geht das Buch auf ihn und seine Vorgeschichte ein; im Fokus steht stattdessen die endemische Korruption in Nigeria, die der Protagonist während einer Reise in die Heimat in ihren vielfachen, vom Absurden bis ins Gewaltsame reichenden Spielarten beobachtet. Das beginnt schon in New York, wo er seinen nigerianischen Pass erneuern lässt: Die zuständige Behörde gibt sich einen seriösen Anstrich, indem sie kein Bargeld, sondern nur Zahlungsanweisungen akzeptiert, was das stille Rüberschieben einer zusätzlichen Banknote auszuschließen scheint. Trotzdem ist Schmiergeld natürlich die Conditio sine qua non für eine einigermaßen speditive Bearbeitung des Antrags, der Klient stellt dafür einfach einen separaten Zahlungsauftrag aus. Verlässt er das Büro, prangt neben dem Fahrstuhl ein Appell, in Fällen von Bestechlichkeit Meldung zu erstatten - dies allerdings im Passbüro, also bei eben den Beamten, die zuvor abkassiert haben.

Das Buch verliert sich aber nicht im Episodischen, sondern liefert immer wieder scharfsichtige Analysen eines Systems, in dem Geld nicht als ein mit Leistung oder Bedürfnis korrelierter Wert, sondern als reines Schmiermittel funktioniert; wo man die Haie im Bestechungsgeschäft - etwa einen Politiker, der über hundert Millionen Dollar in die eigene Tasche abgezweigt hat - mit verblüffender Toleranz betrachtet, während sich Normalverdiener selbst in gehobenen Berufsklassen mit Gehältern abfinden müssen, die hinten und vorne nicht zum Leben reichen. Was sie letztlich, im Maße des ihnen Möglichen, ebenfalls zur Korruption verleitet, während die von Anfang an Aussichtslosen allenfalls eine Karriere als "Area Boy" einschlagen können - in einer der bewaffneten Jugendgangs, die mit Drogenhandel und Erpressung zu Geld kommen.

Auch Julius, der Protagonist von "Open City", steht seinem Umfeld keineswegs unkritisch gegenüber, aber der Roman fußt auf anderen emotionalen Prämissen als Teju Coles scharfsichtige Analyse des dysfunktionalen nigerianischen Staatswesens. Nach dem Terror des 11. September habe er zu einer völlig neuen Vertrautheit mit New York gefunden, notiert der Schriftsteller in einer der im Essayband "Black Paper" versammelten "Elegien", und aus diesem Gefühl habe sich einige Jahre später das Romanprojekt herausgebildet.
 
Julius arbeitet als Assistenzarzt für Psychiatrie an einem New Yorker Krankenhaus und parallel dazu an einem Forschungsprojekt; als Ausgleich zur fordernden Arbeit unternimmt er an manchen Abenden lange Streifzüge durch die Stadt, bei denen Teju Cole mittels dieses flanierenden Beobachters dem Leser sein geschärftes Auge leiht. Bildstarke Beschreibungen werden hinterfangen durch ein informiertes Bewusstsein, das die Stadt bis in die Tiefe liest - einschließlich der riesigen Wunde, die auf Ground Zero klafft. "Auf diesem Boden waren nicht zum ersten Mal Häuser ausradiert worden", heißt es einmal. "Diese Stelle war ein Palimpsest, wie die ganze Stadt, beschrieben, ausradiert, und erneut beschrieben." Und es gibt, nahebei, auch die Schrift an der Wand: eine in Stein gemeißelte Liste der New Yorker Polizeibeamten, die seit 1854 im Dienst umgekommen sind. Die Liste ist lang, doch auf der Tafel gibt es nach wie vor eine weite Leerfläche, "die auf die noch Lebenden in Uniform wartete, und auf die noch nicht Geborenen, die in die Uniform hineinwachsen und bei der Arbeit getötet werden würden". Auch an scheinbar unscheinbarem Ort, bei der Flanke eines Amtsgebäudes, wo Immigranten Schlange stehen - angespannt, ängstlich, hoffnungsfroh -, offenbart sich ein beklemmendes Palimpsest: Gleich gegenüber liegt die kleine Gedenkstätte, die vom einstigen Sklavenfriedhof übriggeblieben ist. Ursprünglich zweieinhalb Hektaren groß, bot er fünfzehn- bis zwanzigtausend Menschen die letzte Ruhestatt; die Überreste der meisten liegen mittlerweile unter dem Asphalt und Beton der Stadtlandschaft.

Eine verborgene Schrift allerdings kann oder will Julius nicht entziffern, während ihre Latenz schon früh Irritation bei den Lesenden weckt. Denn warm wird einem nicht mit dieser Figur, nicht einmal dort, wo sie Gefühle offenbart. Insbesondere in Julius' Reflexionen zur klassischen Musik bildet sich eine fast selbstgenießerisch zur Schau getragene Empfindsamkeit ab, die jedoch im Zwischenmenschlichen kein Pendant findet, sondern vielmehr in entscheidenden Momenten zur bloßen Empfindlichkeit zusammensackt: so etwa, als er den Kontakt mit einem intelligenten, seelisch umgetriebenen marokkanischen Immigranten brüsk abbricht, weil ihn der junge Mann "zu nah an sich und seinen Schmerz herangeführt" habe. So manövriert Teju Cole seinen Protagonisten sacht und gnadenlos dem finalen Showdown entgegen, der - vielleicht etwas zu augenfällig - mit dem passenden Schlüsselwort präludiert wird. Da überlegt Julius, "dass die psychiatrische Praxis und überhaupt jede Form psychologischer Betreuung ein großer blinder Fleck sei", nur um kurz darauf mit seinem eigenen "Blind Spot" konfrontiert zu werden: Vor bald zwanzig Jahren hat er ein Mädchen vergewaltigt und die Erinnerung daran bis dato ebenso solide und endgültig versiegelt wie New York die Grabstätten versklavter Menschen.

Er habe die Gefühle des Lesers gegenüber dieser Figur bewusst lange in der Schwebe gehalten, kommentiert Teju Cole im Gespräch. Das tat er nicht zuletzt, indem er Julius mehrfach an den Vorstellungen und Vorurteilen auflaufen lässt, die - von Weißen wie Schwarzen - allein seiner Hautfarbe wegen auf ihn projiziert werden: beengende Rollenbilder, die abzuwehren, auf die einzugehen der Protagonist sich weigert. "Ganz explizit", so Cole, "wollte ich ihn nicht zu einem Anwalt für die Sache der Schwarzen machen - und ebenso wenig zum Repräsentanten des Schwarzen, der intellektuell skeptisch gegenüber der Sache der Schwarzen ist."

Mit seinem jüngsten Romanhelden präsentiert der Autor nun eine Art Gegenmodell zu Julius. Er bindet ihn in ein größeres und festeres Beziehungsnetz ein - Tunde ist verheiratet, gesellig, Freundschaften liegen ihm am Herzen -, und schreibt ihm zudem ein formidables Pensum in die Agenda: Neben seiner Lehrtätigkeit und dem Fotografieren bespielt der Protagonist auch die Klaviatur der Debatten, die derzeit über Rassismus, Kolonialismus und den fragwürdigen Umgang mit nichtwestlichen Kulturen und Kulturgütern geführt werden. Erneut setzt Cole dabei auf das Konzept der "assoziativen Digression", das er schon in der relativ lose gefügten Handlung von "Open City" ausprobiert und in "Blind Spot" bewusst auf die Spitze getrieben hatte.

Bei "Tremor" allerdings stellt sich das Gefühl ein, dass diesbezüglich - der Bogen überspannt wird? So kann man es nicht sagen, denn gerade der das Werk in anderem Sinn überspannende Bogen ist es, den man in "Tremor" vermisst. Auch wenn, wie bereits erwähnt, erzählerische Dynamik und Geschlossenheit für Teju Cole kein prioritäres Anliegen sind, gibt es Punkte, an denen der innere Zusammenhalt eines als Roman präsentierten Buches unter die kritische Grenze sinkt. So werden zwei Handlungsstränge, die eigentlich direkt im Herzen des Protagonisten verankert sind - eine Ehekrise und die Krebserkrankung einer engen Freundin - dann eher nonchalant abgewickelt, vor allem aber irritiert das sehr lange Schlusskapitel: Es mutet an, als würde der Autor einfach die Reste aus dem reich bestückten Zettelkasten, der das Material für "Tremor" enthielt, über dem Kopf der Leserin ausschütten. Da wirbeln Filme von Bergman und Kiarostami durchs aktuelle Zeitgeschehen im Januar 2020, von der Erinnerung an einen Konzertbesuch in Mali hüpft der Text flott zur ersten Mondlandung und der Raumsonde "Voyager 1", wobei ein inhaltlich völlig anders gelagertes Zwiegespräch die Klammer um diese gedanklichen Eskapaden setzt. Brahms' Lieblingsschüler hat einen kurzen und keineswegs zwingenden Auftritt, die Geschichte eines Seitensprungs verschränkt sich mit dem verheerenden Erdbeben, das Haiti 2010 heimsuchte, dann wieder wird mit einer Passage, die Einblick in die brutale Sklavereigeschichte der USA gibt, ein schon früher beleuchteter Abgrund aufgerissen - kurz bevor der Roman seinem etwas brüchigen lieto fine entgegenstrebt.

Natürlich kann man die Parameter beim Einordnen und Beurteilen von "Tremor" anders setzen, indem man das Buch in Coles Œuvre etwa mittig zwischen den früheren, fürs Genre bereits eher atypischen Romanen und den Essaybänden verortet. In Bezug auf die letzteren rücken dann insbesondere die in den ersten Teil des Romans eingelassenen Reflexionen in den Vordergrund, die sich ausführlicher auf aktuelle Debattenthemen einlassen. Dabei schlägt Tunde in seiner Kritik an der "auslöschenden Arroganz der westlichen Kultur" da und dort schon stark begangene Pfade ein, auch der öfters erhobene Zeigefinger oder die gedankliche "Verbrüderung" des angesagten Harvard-Dozenten mit rebellischen Sklaven mögen etwas peinlich berühren; doch anderswo werden auch neue, überraschende Akzente gesetzt.

Eine besonders fesselnde Passage entwickelt sich aus der Auseinandersetzung mit Samuel Little, einem Serienmörder, der zwischen 1970 und 2005 laut eigenem Geständnis 93 Menschenleben auslöschte, oft mit brutaler Gewalt. Meist waren es schwarze Frauen: Prostituierte, Drogenabhängige, Randständige. Auch Little war schwarz. Und wusste eben deshalb, dass man seinen Opfern nur wenig Aufmerksamkeit schenken würde. Er selbst jedoch - und hier schlägt der Fall ins Verstörende, auf seltsame Art Berührende um - hatte sehr genau hingeschaut. Jahre, teils Jahrzehnte nach den Untaten begann er, bereits in Haft, mit Pastellkreide Porträts der Ermordeten zu malen, mittels deren das FBI weitere Informationen zu den Opfern zu sammeln hoffte. Die Bilder waren nicht nur präzise und individuell genug, um von Bekannten und Verwandten der Frauen möglicherweise wiedererkannt zu werden; darüber hinaus und vor allem frappieren die Darstellungen durch ihre Charakterstärke und eigenwillige Ausdruckskraft.

Auf diese Fallgeschichte folgt ein Exkurs über mithilfe von Computerprogrammen erstellte Phantombilder von Mordopfern, dann rücken die neuesten, gänzlich von KI generierten Porträts in den Blick. Auf einer Website, die solche "algorithmischen Phantome" versammelt, sieht Tunde fast nur weiße Gesichter - und kontert deren Dominanz mit einem überraschenden Aperçu: Für die australischen Aborigines hätten Weiße "kein Gesicht", weil ihre Mimik kaum Emotionen spiegle. Daraus wiederum lässt sich eine schlagkräftige Sentenz modellieren: "Weiße haben kein Gesicht, und dieses Gesicht ist überall." Sogar auf fiktionale Kontexte dehne sich diese normierende Optik aus; tauchten etwa in Filmen oder Büchern schwarze Figuren auf, dann werde das aus weißer Sicht schnell einmal "zu einer unangemessenen Übung in politischer Ausgewogenheit, so als ob die Anwesenheit von Schwarzen immer nur dazu da wäre, 'Schwarzsein' zu repräsentieren".

Der erste Teil von "Tremor" gipfelt in einem Vortrag, den Tunde im "Museum of Fine Arts" in Boston hält. Ausgehend von William Turners dort gezeigtem Gemälde "Das Sklavenschiff" nimmt der Protagonist die Zuhörer auf eine Jahrhunderte und Kontinente übergreifende Reise mit; dabei rückt er nicht nur Kunstwerke aus scheinbar radikal verschiedenen Welten - ein Bronze-Relief aus Benin und ein Gemälde von Pieter Bruegel d.Ä. - nebeneinander, sondern verbindet, im Blick aufs Thema Raubkunst und kulturelle Enteignung, auch die Zerstörung und Plünderung des blühenden Königreichs Benin mit dem Holocaust. Genau in dieser dramatischen Passage taucht es wieder auf: das Motiv des "Blind Spot". Tunde verliert für kurze Zeit die Sehkraft auf einem Auge - ein Leiden übrigens, das er mit seinem Schöpfer teilt.

Ist das, der Verwandtschaft zum Trotz, ein kritischer Marker - ein Signal, dass Teju Cole die Sicht seines Protagonisten nicht immer unterschreibt, noch wenn sich die Fragen, die Tunde umtreiben, in den Essaybänden des Schriftstellers wiederfinden? Es wäre einer der seltenen Punkte, an dem die Hauptfigur infrage gestellt wird. Am markantesten aber formuliert Tundes Ehefrau Sadako aus, was den Leser auf ähnliche Art irritiert und bedrängt wie seinerzeit das eigentlich ganz konträre Charakterbild von Julius. Sie liebe Tunde vor allem für seinen Wunsch, ein guter Mensch zu sein, überlegt Sadako, doch "ein Wunsch ist nicht dasselbe wie ein Wille, und manchmal stört es sie, wie wenig er sich seiner Schwächen bewusst ist. Noch hat sie das Wort 'Selbstzufriedenheit' nicht in den Mund genommen" - aber es steht nun manifest im Raum.

Unter diesen Prämissen lässt sich auch der direkt auf den Vortrag folgende Mittelteil des Buches vielleicht als Signal einer Distanznahme seitens des Autors lesen. Ohne jede Vorwarnung, ohne Begleitung durch den Protagonisten werden wir in Lagos abgesetzt, inmitten eines Chors wechselnder Stimmen, die unterschiedlichste, aber für die Verhältnisse im Land charakteristische Schicksale rapportieren. Das Spektrum der Figuren reicht vom urbanen Studenten, der unvermittelt ein traditionelles Königsamt antreten muss, bis zum von Drogen- und Alkoholsucht gezeichneten Hungerleider, von der progressiven Schulleiterin, die sich mit einem gewitzten Manöver dem Druck des Militärgouverneurs entzieht, bis zu den jungen Frauen, die sich - und oft auch ihre Angehörigen - als Hausmädchen oder Sexarbeiterin durchbringen müssen.

Wo diesen knapp gefassten Texten die Unmittelbarkeit eignet, die schon in "Jeder Tag ist für den Dieb" packte, verblüfft das folgende, nun auf die Stadt Lagos fokussierende Kapitel mit ganz anderen Mitteln. Hier ersteht die Metropole im Licht und Geist eines schon zu Beginn von "Tremor" wie nebenbei erwähnten Buches: als Variation auf die "Unsichtbaren Städte", die Italo Calvino im gleichnamigen Werk entworfen hat. Bestechend facettenreich, immer neue Schlaglichter einfangend und werfend, dreht und wendet sich dieses Vexierbild von Lagos vor den Augen des Lesers - bald als "sybaritisches Paradies", dann wieder gezeichnet von "stiller Verheerung" oder, im kollektiven Traumbild der Bewohner, als "nach vollendet vernünftigen Plänen" erbaute und funktionierende Musterstadt. In solchen Visionen erscheint sie wieder, auf höherer Ebene eingelöst: "diese Idee, dass sich beim Beschreiben etwas Magisches ereignen kann".

Teju Cole: Tremor
Roman
Aus dem Englischen von Anna Jäger.
Claassen Verlag, Berlin 2024. 304 Seiten, gebunden, 24 Euro.

Erscheint am 29. Februar 2024

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