Wo wir nicht sind

Unglück. Nichts als Unglück

Eine Kolumne zur Weltliteratur Von Thekla Dannenberg
28.04.2021. Von jeher muss Haiti herhalten für Rettungsfantasien und Abenteurertum. Auch im Zeichen des Postkolonialismus wird über das Land gestritten. Gegen den paternalistischen Blick und die Romantik hilft die Vielschichtigkeit einer intimen Literatur: Die haitianische Autorin Yannick Lahens zum Beispiel erzählt in ihrem neuen Roman "Sanfte Debakel" von Trauer, Furcht und Sehnsucht junger Menschen in Port-au-Prince.
Schon in Graham Greenes Roman "Die Stunde der Komödianten" von 1960 begegnen sich die beiden Prototypen des westlichen Blick auf Haiti: Auf der einen Seite der naive amerikanische Präsidentschaftskandidat, der das Land mit der Idee des Vegetarismus beglücken möchte und ausnahmslos freundliche Menschen sieht. Auf der anderen Seite der abgeklärte Hotelbesitzer, ein Engländer, immer Herr der Lage. Er kommt auch deswegen mit der Geheimpolizei klar, weil er noch zynischer ist als diese gefürchteten Tontons Macoutes. Greenes Roman mag heute aus anderen Gründen etwas veraltet sein, aber in einem bleibt er gültig: Es sind die Haitianer, die in diesem Roman lieben, kämpfen und sterben, und es auch noch tun, wenn die Fantasten und die Abenteurer das Land längst verlassen haben.

Eine ähnliche Konstellation begegnet einem gerade wieder: Genau zu dem Zeitpunkt, an dem der neue Roman "Sanfte Debakel" der haitianischen Schriftstellerin Yannick Lahens erscheint, entbrennt ein Streit zwischen deutschen Autoren um den legitimen Blick auf Haiti. Auf ZeitOnline beklagte die Literaturwissenschaftlerin Johanna Nuber den kolonialistischen Blick auf das Land, der nichts anderes sehe als einen Elendsstaat, geplagt von Erdbeben, Wirbelstürmen und anderen Katastrophen. Auch der entfesselte Wahnsinn des Voodoo werde gern beschworen, aber niemand blicke einfach mal auf den wunderbaren, mitreißenden Alltag des Landes, seine Schönheiten und kulturellen Reichtümer. Nuber erkennt im Bild des beklagenswerten Haiti jedoch nicht nur ein unbedarftes Klischee, sondern das Ergebnis einer jahrhundertelangen kolonialistischen Geschichtsschreibung, wie sie ohne Scheu vor Jargon schreibt: "Haiti musste mundtot gemacht werden, nachdem dort Ende des 18. Jahrhunderts der erste Gegenangriff auf das Sklavereisystem und eine durch den Kolonialismus in der ganzen Welt verbreitete White Supremacy gelang."

In einer harschen Replik erklärte der Schriftsteller Hans Christoph Buch in der FAZ Nubers Vorwürfe für blauäugig und blind gegenüber der Realität des von Naturkatastrophen und politischem Desaster gebeutelten Landes. Buch hat fantastische Reportagen aus Haiti und anderen Teilen der Welt verfasst (und einen "Nachruf" auf Haiti), aber mit seinem wütenden Artikel lieferte er auch ein Beispiel für genau die Elendsberichte, die Nuber beklagt. Buch geißelt die "Pest der Korruption", den Verfall des Landes und die Gewalt in den Elendsvierteln, in denen Polizisten "bestialisch massakriert" werden und Frauen vor den Augen ihrer Familien vergewaltigt. Das ist in seiner dramatischen Zuspitzung sehr journalistisch. Aber was dem Artikel fehlt, ist nicht die Schönheit des Alltags, es sind handelnde Menschen: Wo sind bei Buch die Haitianerinnen und Haitianer, die gegen die Misere aufbegehren?

Frustrierender als einseitige Berichte sind überhaupt keine Berichte. In die deutschen Medien schafft es Haiti seit Jahren nur höchst selten. Erst im Februar hatte die haitianische Autorin Evelyne Trouillot in Le Monde Alarm geschlagen: Die Repressionen und willkürlichen Verhaftungen im Land nehmen wieder ein Ausmaß an wie unter der rigiden Diktatur von François und Jean Claude Duvalier, von Papa Doc und Baby Doc in den Jahren von 1957 bis 1986. Aber Trouillot berichtete auch von Protesten der Bevölkerung gegen die eskalierende Gewalt, einem Streik der Richter gegen Willkür-Maßnahmen oder von einer Ärztin, die nach ihrer Verhaftung einer Mitgefangenen bei der Geburt helfen musste. Im Blog der London Review of Books schilderte auch Pooja Bhatia die zunehmende Brutalität, mit der sich Präsident Jovenel Moïse an der Macht hält, nachdem seine Amtszeit abgelaufen ist, wobei sie immer wieder betont, dass Moïse von den USA und der Organisation amerikanischer Staaten gestützt wird. Das berichtet auch die BBC.

Und auch die vielen neuen Arbeiten zu Haitis Geschichte etwa von Johnhenry Gonzalez ("Maroon Nation: A History of Revolutionary Haiti") finden hierzulande wenig Niederschlag, obwohl sie tatsächlich die Revolution von Haiti in ein neues Licht stellen. Es ist erschütternd, wie ambivalent und wie tragisch Haitis Geschichte von Beginn an war: Natürlich war der 1743 als Sklave geborene und zum Nationalhelden avancierte Toussaint Louverture ein inspirierender Freiheitskämpfer, nicht nur ein nützliches Instrument englischer oder spanischer Interessen, wie auch Hans Christoph Buch noch etwas abfällig insinuiert. Er hat mit dem Aufstand in der damaligen Kolonie Sainte-Domingue 1794 das revolutionäre Frankreich beim Wort genommen und gezwungen, in allen seinen Gebieten die Sklaverei abzuschaffen. Und als Napoleon Bonaparte sie wiedereinführte, kämpfte Louverture erneut. Er wurde gefangen genommen und starb 1803 in französischer Festungshaft, doch 1804 konnte Jean-Jacques Dessalines Haitis Unabhängigkeit ausrufen, als zweites Land in der Neuen Welt.

Für diese historische Größe hat Louverture nicht einmal ein eigenes Attribut bekommen. Er firmiert meist als der schwarze Jakobiner oder der schwarze Spartakus. Doch Louvertures Tragik bestand darin, dass sein Sieg dem Land eben nicht die "Zersetzung des kolonialen Plantagensystems" brachte, wie Johanna Nuber schreibt. Im Gegenteil: Politisch mögen die Haitianerinnen und Haitianer frei geworden sein, ökonomisch blieben sie quasi Leibeigene, auf Gedeih und Verderb den weißen und nun auch einigen schwarzen Plantagenbesitzern unterworfen. Denn das Land war wirtschaftlich abhängig von Zuckerrohr-Export, und Frankreich drückte ihm für die Unabhängigkeit eine immense Schuldenlast auf. Die Arbeiter durften nicht einmal ihr Unglück beklagen: Unter Androhung schwerer Strafen hatte Louverture die Behauptung verbieten lassen, die Rute, mit der sie nun geschlagen wurden, sei eine Peitsche. Seitdem wurde das Land immer wieder von außen und von innen geknebelt, ausgenommen oder demoralisiert.

Seit über zweihundert Jahren muss Haiti herhalten für Rettungsfantasien, Revolutionsromantik und Abenteuerlust. Besonders bitter erfahren haben es die Menschen dort nach dem Erdbeben von 2010, bei dem bis zu 300.000 Menschen ums Leben kamen. Die Weltgemeinschaft überschlug sich geradezu bei der Demonstration ihres guten Willens, nur um dem Land mit Milliarden von Hilfsgeldern, einer Nebenregierung unter Bill Clinton und Hunderten von NGOs dann doch nicht zu helfen. Sie hinterließen Investitionsruinen, unsinnige Projekte und ein gedemütigtes Land - ein Desaster, wie Raoul Peck in seiner Dokumentation "Tödliche Hilfe" nachzeichnet oder Jonathan Katz in seinem Report "The Big Truck That Went By".

In ihrem neuen Roman "Sanfte Debakel" lässt die 1953 geborene haitianische Schriftstellerin Yannick Lahens einen französischen Reporter das Land bemitleiden: "Haiti, nur eine halbe Insel, die aber so viel von sich reden macht wie ein ganzer Kontinent. Unglück. Nichts als Unglück. Haiti, das verfluchte, elende, wilde, widerspenstige Land, Haiti, das 'für immer kaputte Land', das aber einfach nicht totzukriegen ist." Der Reporter Francis ist ein freundlicher, wohlmeinender Mann. Er kommt in das Land, um es zu erleben, wie es wirklich ist, natürlich, aber er hofft auch darauf, dass etwas Aufregendes geschieht, damit er seine Reportage später in einem tollen Magazin unterkommt.

Kaum in Port-au-Prince gelandet, stößt er auf einen Kreis haitianischer Freunde, die den Problemen des Landes Tag für Tag ausgesetzt sind: Da ist die ernste Brune, Sängerin und Tochter eines ermordeten Richters. Der honorige Raymond Berthier war den Machthabern mit seinen hartnäckigen Ermittlungen zu unbequem geworden, er wurde von einem Straßengangster aus dem Weg geräumt. Den Tod vor Augen schrieb er einen letzten Brief an seine Frau. Mit ihm eröffnet der Roman. Brune ist ganz und gar ein Kind von Port-au-Prince, von Erschütterung, Zorn und Rausch.

Ihr Liebhaber Cyprien, ein junger Anwalt, träumt vom Aufstieg, der ihm mit seiner tiefschwarzen Haut eigentlich nicht offensteht: "Die Stadt ist ein kochender Kessel, und man muss zum Schaum streben, wenn man nicht beim Bodensatz landen will." Wenn ihn auf den Straßen von Port-au-Prince die Wagenkolonne eines Ministers zur Seite drängt, dann ist er nicht empört, sondern beeindruckt von der Aura der Macht. Er liebt Brunes Sinnlichkeit, ihre Stimme, ihre Schönheit, aber er weiß auch, dass sie nicht ganz "die Temperatur der Welt" erfasst.

Der junge, stets hungrige Dichter Ezechiel ist in beißender Armut aufgewachsen, Seite an Seite mit den Hoffnungslosen, die lieber jung als arm sterben wollen, und den Verzweifelten, die den Voodoo-Göttern opfern. Ezechiel sucht in der Todesverachtung die Poesie. Brunes homosexueller Onkel Pierre Martin musste Haiti als junger Mann verlassen - um seiner Familie keine Schande zu bereiten. Er genoss alle Seiten des Lebens, die süßen und herben, die salzigen und die bitteren. Nach dem Mord an seinem Bruder ist er heimgekehrt, voller Verachtung für die moralische Heuchelei des Landes, die religiöse Inbrunst und die Gemeinheit seiner Nachbarn.

Brune und ihre Freunde bewegen sich mit rastloser Energie durch die Stadt. Sie treffen sich in der vornehmen Villa des Onkels, in deren Garten es nach Eukalyptus und Vanille durftet, oder in der Bar Korosol, in der Brune ihre Konzerte gibt. In der Nacht mögen sie Gras rauchen und  trempé trinken, doch am Tag müssen sie sich dem Leben stellen, das ihnen Port-au-Prince bereit hält: Welchen Platz sollen sie in ihrem Land einnehmen? Wir hart müssen sie kämpfen? Dürfen sie gehen?

Mit jedem Kapitel stellt Lahens einen anderen Protagonisten in den Mittelpunkt, und mit der Person wechselt sie auch die Tonlage. Von der schwermütigen Poesie des Ezechiel, zur Melancholie bei Pierre, von der fiebrigen Energie bei Cyprien zum dunklen Groll bei Brune. Lahens schreibt hochmusikalisch, vielleicht manchmal etwas zu forciert und explizit, doch die Sätze klingen im Ohr. Ihre Sprache ist reich an starken Bildern. Ganz plötzlich wechselt die Erzählung von der dritten zur ersten Person, so dass man sich fragen muss, wer da denn jetzt spricht: Brune, die Erzählerin oder vielleicht die Stadt?

"Sanfte Debakel" ist ein schmaler Roman von kaum mehr als hundertfünfzig Seiten, ein vielstimmiger Gesang aus Furcht, Trauer und Sehnsucht. Lahens verbindet darin zärtliche Momente, einen scharfsichtigen Blick auf das Land und Genre-Elemente mit den Traditionen der haitianischen Lyrik. Die Intimität mit dem Denken und Fühlen der Menschen straft jeden ideologischen Blick auf das Land Lügen. Peter Trier, der mit seinem Litradukt Verlag die Fahne der haitianischen Literatur im deutschsprachigen Raum hochhält, hat auch diesen Roman toll übersetzt, mit viel Gespür für das Kreolische. Aus dem Radio erklingen die Lieder der Ikone Martha Jean-Claude, die Schnulzen singender Senatoren oder der harte Rap von Izolan: "Meine Männer sind ohne Waffen. Sie sind Kannibalen." Auf der Bühne des Karosols rezitiert eine junge Frau den Dichter René Depestre: "Der poetische Zustand ist das einzige bekannte Kap, von dem aus zu jeder Tages- und Nachtzeit die Nordküste der Zärtlichkeit mit bloßem Auge zu sehen ist. Er ist auch der einzige Zustand des Lebens, in dem man mit bloßen Füßen kilometerweit über glühende Kohlen und Scherben gehen kann." Und alle, Brune und Cyprien, Ezechiel und Pierre lernen in Port-au-Pince, ganz wie es sie der große Frankétienne gelehrt hat, auf dem Sturz zu galoppieren wie auf einem Pferd.

Thekla Dannenberg

Yannick Lahens: Sanfte Debakel. Roman. Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt Literaturverlag, Trier 2021, 160 Seiten, 14 Euro (Bestellen)
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