Bücher der Saison

Politische Bücher

23.11.2016. Die politische Frage der Saison: Was ist Populismus? Jan-Werner Müller, Paul Lendvai, Carolin Emcke suchen nach Antworten. Timothy Gartn Ash verteidigt unsere Redefreiheit. Und wer ist nochmal dieser Trump?
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Populismus und die Zukunft der Demokratie

Der in Princeton lehrende Politologe Jan-Werner Müller hat mit seinem Essay "Was ist Populismus?" ganz gewiss ein Vademekum für diese Saison geschrieben. Was Populismus ist, müssen heute alle wissen, die dieses Phänomen bekämpfen wollen. Müller hat eine griffige These für den Begriff: Populismus sei diejenige politische Strömung, die behaupte, für das "ganze Volk", "the real people" zu sprechen. Wer widerspricht, wird zumindest diskursiv schon mal aussortiert. Interessant ist, dass Müller diese Idee ausschließlich der (mehr oder weniger extremen) Rechten zuordnet. Die "99 Prozent", die etwa Occupy für sich reklamierte, passen offenbar nicht in seinen Begriff. Wie auch immer: Nützlich ist Müllers Buch auf jeden Fall. Laut Marian Nebelin in der FAZ legt er die unterschiedlichen nationalen Ausprägungen dar und arbeitet Gemeinsamkeiten heraus. Leider kann Müller ihr allerdings keine Lösungen anbieten. Bei dem Versuch verliere sich der Autor in Gemeinplätzen und Unkonkretem, stellt Nebelin bedauernd fest. Jan-Werner Müller hat sich ausführlich auch in Interviews zu seinen Thesen geäußert, unsere Resümees.

Wer nach Müllers Überblick die Einzelfälle studieren will, der begebe sich mit dem großen österreichisch-ungarischen Publizisten Paul Lendvai in "Orbáns Ungarn" (dort wird sogar schon die Gewaltenteilung in Frage gestellt, so die Rezensentin Cathrin Kahlweit in der SZ), oder lese Can Dündars Aufzeichnungen aus dem Gefängnis (bestellen) (und auch im Fall Türkei staunen die Rezensenten darüber, wie skrupellos die einmal losgelassenen Charismatiker agieren). Nicht unbedingt als leichte Kost, aber instruktive Gegenlektüre empfehlen die Kritiker Pierre Rosanvallos "Die gute Regierung" die demokratiegeschichtlich heutige Miseren vor allem mit der Konzentration der macht bei der Exekutive erklärt.

Auch Timothy Garton Ash ist mit dem Thema befasst, hält jedoch in seiner "Redefreiheit" einige "Prinzipien für eine vernetzte Welt" hoch. Ash will einen "universellen Universalismus" begründen, der mit global gültigen Regeln die Meinungsfreiheit gegen identäre Versuchungen von religiöser, nationaler oder multikultureller Seite schützen soll. Der Historiker Andreas Rödder konnte damit in der FAZ wenig anfangen, doch in der SZ schätzt Gustav Seibt dieses Regelwerk für eine neue Welt als sachlich und konzise. Für die taz entnimmt Christiane Müller-Lobeck dem Buch die Empfehlung, sich ruhig "ein dickeres Fell" zuzulegen, um die öffentliche Debatte nicht durch Überemfindlichkeiten zu beschränken. Carolin Emckes Essay "Gegen den Hass" erhielt in den Zeitungen eher laue Kritiken (mit Ausnahme der FAZ), aber nach ihrer Friedenspreisrede zeigte sich, dass ihr Ansatz - Übertragung der political correctness nach angelsächsischer Schematik und besonders des Gender-Diskurses à la Judith Butler in die deutsche Diskussion - hier durchaus für heftige Debatten sorgen kann.


Donald Trump

Oder der siegreiche Populist. Die Verlage haben in aller Eile ein paar Bücher auf den Markt geworfen, die allerdings noch vor Trumps Wahlsieg geschrieben wurden. Am meisten besprochen wurde Michael D'Antonios Recherche "Die Wahrheit über Donald Trump" immerhin das Buch eines angesehenen Reporters, der aber laut Peter Praschl in der Welt das Geheimnis hinter Trump auch nicht finden könne: Er ist, was er ist und war es schon immer, ein größenwahnsinniger "Narzisst", ein "Hetzer" und Lügner. Gewissenhaft und untendenziös, lesen wir, vollzieht D'Antonio Trumps große Immobiliengeschäfte nach, lässt zahlreiche Zitate des Präsidentschaftskandidaten einfließen und kommt schließlich zur zentralen These, dass ein Mann wie Trump es nur deshalb so weit schaffen konnte, weil die Epoche, in der er es geschafft hat, "so klein geworden ist". Material über Trump findet sich außerdem noch in David Cay Johnstons "Die Akte Trump" das für den FAZ-Rezensenten Rolf Steininger das authentischste Trump-Bild vermittelt, und in Trumps eigenem Buch "Great Again" das Ansgar Graw zu der Beobachtung inspirierte, Trump sei weniger ein Populist als ein Narzisst, "der den Bezug zur Realität beim Flirt mit sich selbst" verloren habe.


Gleichheit und Ungleichheit


Lange bevor Thomas Piketty der internationale Star der kritischen Ökonomie wurde, war es Anthony Atkinson. Seit einem halben Jahrhundert arbeitet der der britische Ungleichheitsforscher zu Armut und Verteilung, doch erst jetzt ist er auch auf Deutsch zu lesen. Seine große Analyse zur "Ungleichheit" belässt es nicht beim Nachweis oder Beleg zunehmender Unterschiede, sondern wartet mit vielen sehr konkreten Maßnahmen gegen sie auf. Das ist keine leichte Kost, betonen die Kritiker, aber sachlich und fundiert: Atkinson fordert einen Spitzensteuersatz von 65 Prozent, staatlich garantierte Arbeitsplätze und eine auf alle verteilte Erbschaftssteuer. In der taz lobt Stefan Reinecke die kluge Argumentation, die keinerlei populistischen Unterton anschlage. In der FAZ freut sich Friedemann Bieber über Originalität und Drive des Buches, gibt aber zu bedenken, dass es sehr auf Großbritannien gemünzt sei. In der Welt findet Alan Posener Atkinsons Vorschläge zu "sozialdemokratisch". Im Interview mit der SZ erklärt Atkinson etwa, dass es für Unternehmen profitabler ist, ihre Angestellten gut zu bezahlen. Im Kölner Stadtanzeiger grenzt er sich vorsichtig von Piketty ab, der sich zu sehr auf die Supereichen konzentriere: "Ich konzentriere mich mehr auf die Menschen am Rand, um die Frage, wie man den Menschen unten helfen kann."

A propos Superreiche: Wolfgang Kemp hat dem "Oligarchen" eine kleine Phänomenologie gewidmet, mit der er den Typus des  Großkapitalisten erkundet, der seinen Aufstieg der kleptokratischen Akkumulation in der sowjetischen Umbruchszeit  verdankt. In der FAZ goutiert Kerstin Holm zwar auch die griffige Formulierungen ("der Wille zur Yacht"), noch erhellender findet sie allerdings Kemps "undogmatischen" Blick, etwa wenn er zwischen russischen und ukrainischen Oligarchen unterscheidet: Die einen haben ihren Reichtum blutiger und dramatischer erbeutet, die anderen gingen ihren Aufstieg etwas sanfter an, wurden dafür auch nicht entmacht. In der SZ betont Fritz Göttler, dass bei Kemp der Oligarch eine einzelne Person ist, nicht Teil einer Wirtschaftselite oder eines Korruptionssystems.

Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich die verarmten Dienstleister, die nicht für die Superreichen, sondern für die Mittelklasse Alte pflegen, Pakete schleppen und Essen liefern. Autor Christoph Bartmann spricht von der "Rückkehr der Diener" um deutlich zu machen, dass Service-Gesellschaft und Plattform-Ökonomie mit der Ausbeutung großer Bevölkerungsschichten einhergehen. In der FAZ erkennt Hannes Hintermeier, dass es für alle Seiten ein schlechtes Geschäft ist, in der SZ will Jens Bisky jetzt wieder selber putzen, im Deutschlandfunk vermisst Holger Heimann zwar Auswege aus der Misere, doch lobt er Bartmanns Essay als scharfsinnige und auch noch elegant geschriebene Beschreibung des Status quo.

Viele aktuelle Debatten sehen die Kritiker in diesem Band des Soziologen Oliver Nachtwey zusammengeführt, weshalb sie auch betonen, dass sein Blick auf die "Abstiegsgesellschaft" deutlich differenzierter ausfällt, als der Titel vermuten lasse. In der taz gefällt Stefan Reinecke sehr gut, wie kritisch Nachtwey den Postmaterialismus der heutigen Linken in den Blick nimmt, der statt auf Sozialkritik auf individuelle oder kulturelle Selbstbehauptung setzt, wobei Nachtwey nicht die emanzipativen Erfolge dieser Politik ignoriere. In der SZ atmet Jens Bisky erleichtert auf über diese endlich mal nicht gestrige Kritik an der "regressiven Moderne". Wer über Armut Bescheid wissen will und die Betrachtung von Einkommensungleichheit, Ost-West-Unterschiede, Rentenniveaus und Hartz IV nicht scheut, dem empfiehlt die SZ zudem Georg Cremers "Armut in Deutschland" Dass der Volkswirtschaftler und Caritas-Chef zudem viele Lösungsvorschläge unterbreitet, rechnet sie ihm ebenfalls positiv an.


Flüchtlinge

In der ersten Jahreshälfte noch Thema Nummer 1, nun überlagert von den populistischen Konvulsionen, die ihre demagogische Nahrung allerdings unter anderem aus der Flüchtlingthematik bezogen habe. Da kann Michael Richters Reportage "Neue Heimat Deutschland" durchaus trösten helfen. Sie erzählt die Ankunft der 890.000 Flüchtlinge im letzten Jahr als Erfolgsgeschichte und ist dabei nicht im geringsten blauäugig, schreiben die Rezensenten. Dass die Herausforderungen und Probleme, die ein solches Integrationsprojekt mit sich bringt, nicht verschwiegen werden, wertet Cord Aschenbrenner in der SZ als weiteres Plus. Der Guardian-Journalist Patrick Kingsley beschreibt in "Die neue Odysse" die Wege der Flüchtlinge und gewinnt mit der Schilderung der Strapazen und Schicksale die Sympathien der Leser. Gerade der heutige Europäer "zwischen seinen Yoga- und Veganwahlpflichtfächern" habe längst vergessen, wie existenziell und wegweisend einzelne Lebensentscheidungen wie die von Flüchtlingen sein können, schreibt Marc Reichwein in der Welt. Kingsley mache diese Diskrepanz durch seine Schilderungen deutlich, die stets nüchterne Protokolle und niemals zynisch seien.


Der Islamismus und der Westen

Gilles Kepel ist einer der besten Kenner des Islamismus, im Original erschien sein Buch "Terror in Frankreich" kurz nach den Anschlägen von Paris vor einem Jahr. Anders als sein soziologischer Gegenspieler Olivier Roy betrachtet der Politikwissenschaftler den Terrorismus in Frankreich nicht als nihilistische Revolte, sondern als weitere Variante des weltweiten Dschihadismus, der nun nicht mehr auf die fernen USA, sondern auf das nahe Europa zielt. Besonders hier, im "weichen Bauch des Westens", wollten die neuen Dschihadismus ein Klima des Schreckens erzeugen, das sich durch gegenseitige Radikaliserung zum großen Bürgerkrieg hochschaukeln soll. Frankreich nimmt aufgrund seiner Kolonialgeschichte und seiner sozial verelendeten Vorstädte eine besondere Rolle ein, die nicht unbedingt auf andere Länder übertragbar sei. In der FAZ findet Helmut Mayer das Buch zwar ein wenig mit heißer Nadel gestrickt und auch ein wenig grell, aber absolut erhellend und schlüssig in seiner Argumentation. Im Interview mit dem Deutschlandfunk erläutert Kepel ausführlich seine Thesen.

Mit Interesse gelesen haben die Kritiker von FAZ und SZ auch das Buch "IS und Al Qaida" wenngleich es nicht gerade Anlass zu Optimismus gibt. Die beiden jordanischen Sozialwissenschaftler Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman schildern darin mit viel Sachkenntnis und Detailwissen die destruktive Dynamik zwischen Sunniten und Schiiten, die Rivalität der Terrorgruppen und die fatalen Auswirkungen der irakischen Besatzung. Im Dradio Kultur erhebt Fabian Köhler allerdings Einwände gegen die selektiven Erklärungen der Autoren, die vor allem in der antisunnitischen Politik in Syrien und Irak den Geburtshelfer des Terrors ausmachen, den Anteil der Gelder und Waffen aus Saudi-Arabien und den Golftstaaten aber verschweigen. Ganz flau wurde Rainer Hermann in der FAZ beim Lesen von Abdel Bari Atwans "Das digitale Kalifat" Wie groß inzwischen die Cyber-Kompetenzen des Dschihadisten sind, hätte er nicht für möglich gehalten.

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