Im Kino

Stummes Bild, blinde Sprache

Die Filmkolumne. Von Ronya Othmann
11.06.2024. Vom 13. bis 16. Juni findet in Frankfurt die Reihe "Kino & Lyrik" statt, in der zeitgenössische Lyrikerinnen und Lyriker Filme in Bezug zu ihrer literarischen Arbeit setzen. Kuratiert wurde das Programm von Ronya Othmann, organisiert wird es von Filmkollektiv Frankfurt, Projektionsraum für unterrepräsentierte Filmkultur. Wir bringen Othmanns Einführungstext zur Reihe, der auch in einer Publikation des Filmkollektivs enthalten sein wird, die im Rahmen der Veranstaltung entsteht.
1.

Kino und Lyrik. Zwei Gattungen, bei denen man erstmal an Äpfel und Birnen denkt, nicht miteinander in Beziehung zu setzen, die eine jung, die andere alt, die eine lang und die andere kurz. Was sich dazwischen auftut, zwischen Bild und Schrift, zwischen dem gemeinsamen Schauen und dem einsamen Lesen, lässt sich vielleicht im Ton wieder zusammenführen, im gesprochenen Wort. Im Rhythmus der Sätze und Bilder, in der Montage, im Schnitt, oder aber an diesem Ort, im Filmtheater. Vorhang auf! 

Heute sind wir längst weiter. Der Fernseher ist schon Jahre vor unserer Geburt in die Wohnzimmer eingezogen, die Laptops, Smartphones und Tablets in unsere Leben. Das Sehen wurde privatisiert. Und dagegen kommt das Kino fast schon ein wenig aus der Zeit gefallen daher. Mit seinen schweren Sitzen, der großen Leinwand, dem Licht. Vorspann und Abspann, dazwischen ein Film. Das Kino ist ein Raum und eine Zeit. 

Wann hat das Kino Einzug in die Gedichte gehalten? Man müsste in die Bücher sehen. Zurückdatieren, Ende des 19. Jahrhunderts, als die Brüder Lumière den Kinematografen erfanden, mit dem Einzug der Lichtspielhäuser in die Städte. Wo ist es zu finden, das Kino? Zwischen den Zeilen, im Schnitt, in der Montage, in der Abfolge der Bilder. Beim Herein und Herauszoomen, beim Ab- und Aufblenden, Schuss und Gegenschuss, beim Sprung von Zeile zu Zeile, den Versen.

Hat es sich vielleicht dort längst schon eingerichtet? Das Kino im Gedicht, dass wir es kaum mehr bemerken. Wie die Fotografie die Malerei verändert hat, so veränderte das Kino das Gedicht? Und wir sehen nicht mehr durch die Sprache, wir sehen Sprache. Vielleicht ließe sich das erstmal so stehen lassen. Wie eine Projektion auf weißer Leinwand, wie aufflimmerndes Licht. 

Die Veranstaltungsreihe "Kino und Lyrik" ließe sich so auch als Versuch verstehen, als Skizze

Das Sehen kommt vor dem Schreiben. Das Bild ist stumm. Die Sprache ist blind. Im Kino kommt beides zusammen. 


2.

Für die Reihe "Kino und Lyrik" habe ich fünf Kolleginnen und Kollegen eingeladen, einen Film auszuwählen, der in Verbindung mit ihren Gedichten steht. Diese Verbindungen können ganz unterschiedlich sein, über das Thema, seine Motive, Erzählweise oder Ästhetik. An vier Tagen im Juni 2024 in Frankfurt wollen wir miteinander ins Gespräch kommen über den Film, die Gedichte. Und den Fragen nachgehen: Welchen Platz nimmt das Kino heute in unserem Schreiben ein? Wo kommt es zur Sprache? Und was hat das Kino uns zu erzählen? 

Als Garegin Vanisian mich vor einer Weile fragte, ob ich Interesse hätte, mit ihm so eine Reihe zu organisieren, zögerte ich nicht lange. Das Kino fasziniert mich schon lange.  Die Tatsache, dass da Menschen zusammenkommen, um sich gemeinsam denselben Film anzusehen, dass sie also für die Dauer eines Films, also die Dauer einer Vorführung eine Gemeinschaft bilden, nämlich die Gemeinschaft der Zuschauer. Und darüber hinaus, dass dieser Film dann beliebig oft zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten abgespielt, also reproduziert wird. Folgt man Erika Fischer-Lichtes Theorie der Ästhetik des Performativen, wird eine Aufführung gemeinsam von Akteuren, also Schauspieler, Performer, und Zuschauern hervorgebracht. Im Kino liegt die Sache jedoch anders. Nur noch die Zuschauer sind körperlich anwesend und der Film ist schon festgeschrieben. Nichtsdestotrotz hat auch das Kino etwas Theatrales, obwohl es nur eine Leinwand ist und Licht. 

Und die Verbindung zur Lyrik? So scheint doch die Lyrik auf den ersten Blick die literarische Gattung zu sein, die vom Kino am weitesten entfernt liegt. Anders als das klassische Theater, in dem es Figuren gibt, eine Handlung und wo der Text die Grundlage für das bietet, was dann auf der Bühne passiert - ähnlich wie das Drehbuch beim Film. Oder die Prosa, der Roman, man denke nur mal an die zahlreichen filmischen Romanadaptionen. Aber Kino und Lyrik? Ich konnte die Frage erst einmal für meine eigene Arbeit beantworten. Da hat das Kino, der Film immer eine Rolle gespielt, in mehrerlei Hinsicht. Das was ich gesehen hatte, schrieb sich ein. Das konnte ein Bild sein, ein Mann trägt seine Frau auf dem Rücken durch den Schnee, ein Hubschrauber durchkreuzt das Blau des Himmels, eine Frau steht, hat die Gardine ein wenig beiseite geschoben, sieht aus dem Fenster und wartet. Das konnte eine gewisse Ästhetik sein, eine Langsamkeit im Erzählen, eine Schnittfolge. Das konnten auch Sätze sein, die eine Protagonistin sagt. Meist blieb das Gesehene und Gehörte eine Weile, bis nur noch die Erinnerung daran übrig war, bis es also von der Erinnerung überschrieben war und bis es durch sie zur Sprache kam. Und das Gesehene und Gehörte brachte weitere  Bilder hervor, sie schreiben sich fort.

Ich dachte, dass es interessant sein könnte, diesen Beziehungen zwischen Kino und Lyrik auf den Grund zu gehen. Doch weil sie so unterschiedlich, so spezifisch sind und weil es unmöglich schien allgemeine Aussagen zu machen, beschlossen wir, die Lyriker und Lyrikerinnen nach Filmen zu fragen. Alexandru Bulucz, Juliane Liebert, Katia Sophia Ditzler, Volha Hapeyeva, Yevgeniy Breyger, wenn auch mit unterschiedlichen Schreibweisen und Poetiken, gehören in etwa der selben Generation an. Ich habe sie ausgewählt, weil ich einerseits ihre Arbeiten seit längerem verfolge und sehr schätze, anderseits, weil ich mir vorstellte, dass ihre Antworten auf die Frage nach der Verbindung von Lyrik und Kino sehr unterschiedlich ausfallen würden. Und ich freue mich sehr, dass sie die Einladung zu dieser Art von Experiment angenommen haben.

Ronya Othmann

"Kino & Lyrik" findet im Kino des Deutschen Filminstituts und im Frankfurter Mal Seh'n Kino statt. Mehr Informationen hier.