Im Kino

Wie das Unerträgliche normal wird

Von Lutz Meier
11.09.2020. Jetzt findet Venedig tatsächlich statt, und es ist fast wie ein normales Kinofest, was alleine schon ein hoffnungsfrohes Zeichen ist. Fast normal wohlgemerkt, das bedeutet, dass schon einiges anders ist:Viel weniger Besucher, so gut wie keine Stars, dafür ein paar sehenswerte bis  brillante Filme von Julia von Heinz, Gianfranco Rosi, Andrej Kontschalowski und Malgorzata Szumowska.
Ein Lebenszeichen kann ja vieles sein: Ein schwacher Atemzug, ein verzweifeltes Stöhnen, ein letztes Röcheln - oder eben ein unüberhörbarer Schrei des Überlebenswillens. Als Alberto Barbera, der Chef des traditionsreichsten Filmfestivals der Welt vor dessen Beginn in Venedig Anfang September erklärt hatte, man müsse es auch dieses Jahr stattfinden lassen, um ein Lebenszeichen des Kinos zu senden, da hat er natürlich automatisch die Frage aufgeworfen, wie hoch überhaupt die Chancen sind, dass es der Patient schafft.

Jetzt findet Venedig tatsächlich statt, und es ist fast wie ein normales Kinofest, was alleine schon ein hoffnungsfrohes Zeichen ist. Fast normal wohlgemerkt, das bedeutet, dass schon einiges anders ist: Viel weniger Besucher, so gut wie keine Stars, große Namen im Programm oder gar Hollywood-Filme fehlen ebenfalls vollständig. Und auch die Kinosäle sind leer, gewollt leer wegen der Regel, dass nur jeder zweite Platz besetzt wird. Das mag nach einer durch und durch trübseligen Veranstaltung klingen, aber das Interessante ist, dass das, was fehlt, sich kaum bemerkbar macht - das was da ist aber umso mehr: Diszipliniert und bemaskt tröpfeln die Gäste auf ihre vorher zugewiesenen Plätze, es gibt keine Enge, keine Schlangen und dank der guten Organisation auch kaum Enttäuschungen beim Zugang, weil die Veranstalter die Zahl der Vorführungen parallel zur Beschränkung der Plätze ausgeweitet haben. Barbera und seine Mannschaft wollen es also hier wirklich der Welt zeigen, dass man ein Filmfest auch in Pandemiezeiten abwickeln kann. Dass das gelingt, ohne dass das Gefühl von Corona-Leichtsinn aufkommen muss, ist für den Patienten Kino ein uneingeschränkt positives Zeichen.

Das gilt umso mehr, als es die Veranstalter auch vermocht haben, die Lücken im Programm überwiegend gut zu füllen. Es sind zwar deutlich weniger Wettbewerbsfilme dieses Jahr, Blockbuster in spe oder Oscar-Anwärter wie sonst in Venedig üblich gibt es nicht und es fällt auf, dass Barbera unangemessen viele Plätze mit italienischen Produktionen besetzt hat. Aber der Rest gewährt doch immer wieder jenen Blick auf die ganze Welt, mit einem Reichtum, den man in Berlin und Cannes zum Beispiel in den vergangenen Jahren auch ohne Corona oft vermissen konnte: Die Mythen von Belize, die Steppen in Aserbaidschan, die Abgründe des Rassismus in den USA, die Tiefen des Scheiterns des Sowjet-Sozialismus, das Trauma von Srebrenica, die Kriege in Nahost oder eben auch: eine Antifa-Radikalisierung im Deutschland dieser Tage.

Mala Emde in "Und morgen die ganze Welt" (Credits: Seven Elephants, Oliver Wolff) 



Denn zwei Jahre nach dem ziemlich misslungenen "Werk ohne Autor" von Florian Henkel von Donnersmarck geht auch wieder ein deutscher Film ins Rennen um den Goldenen Löwen. Julia von Heinz beginnt "Und morgen die ganze Welt" als eine Geschichte der Radikalisierung. Wir erleben im Schnelldurchgang wie Luisa, 18, aus ihrer elterlichen Vorstadtvilla in ein besetztes Haus in Mannheim zieht, bei Antifa-Aktionen gegen Neonazis mitmacht und sich schließlich mit einem Kofferraum voller Sprengstoff wiederfindet.

Radikalisierung ist in den vergangenen Jahren immer wieder Filmthema gewesen: Radikalisierung junger Muslime, Radikalisierung der Mitte oder wie ganze Länder Nationalismus und Illiberalismus anheimfallen. Doch die Verwandlung einer jungen schüchternen Studentin in eine Gewaltapologetin im Kampf gegen neofaschistische Kundgebungen ist noch etwas völlig anderes und daher umso Erzählenswerteres: Geht es hier nicht im Gegensatz zu all den anderen Radikalisierungen darum, dass jemand das Richtige will, aber vielleicht nicht mit den richtigen Mitteln? Genau darum führt der Film geradezu mottohaft das berühmte Widerstandsrecht des Grundgesetzes an, das jeden zur Gegenwehr berechtigt oder sogar verpflichtet, wenn jemand die verfassungsgemäße Ordnung zu beseitigen versucht. "Ist es schon soweit?", wäre die naheliegende Frage und sie wird im Film sogar gestellt, in einem Juraseminar, das die Hauptfigur besucht. Also sind wir etwa schon wieder auf bestem Wege in den neuen Faschismus? Und Polizei und Gerichte helfen nicht weiter, weswegen wir selbst zu Stahlrohr und Jagdgewehr greifen müssen?

Julia von Heinz ist eigentlich prädestiniert, diese Geschichte zu erzählen, weil es ihre eigene ist. Die Regisseurin war selbst in der Szene aktiv, studierte Jura und wollte linke Anwältin werden, bevor sie sich dem Kino zuwandte und eher harmlose Filme wie "Hanni und Nanni 2" oder "Ich bin dann mal weg" drehte, von denen sie sich heute aber distanziert. Den Antifa-Film hingegen wollte sie seit zwanzig Jahren machen, jetzt ist es soweit. Szenekenntnis muss man dem Film durchaus attestieren, mit Liebe zum Detail schildert er die Anziehungskraft und die wilde Emotion in dem Hausprojekt, das sein Zentrum ist ebenso wie Konflikte und den latenten Gewalt- und Machokult, wenn hier zum Beispiel Selbstverteidigung geübt wird ("Zugucken is nicht, mitmachen oder raus"). Die Wärme und Zugehörigkeit, die Luisa dort findet, kann man nachfühlen. Aber dann? Warum wird sie keine von den Soliparty- und Demo-Organisatorinnen, sondern eine, die auch mitgeht, wenn das Ziel ist, die Gegner krankenhausreif zu prügeln? Die wichtigste Erklärung, die der Film hier anbietet ist, dass Luisa von dem Ober-Militanten fasziniert ist, einer Andreas-Baader-Reinkarnation mit dem sprechenden Namen Alfa. Da kann man verstehen, dass das Nürnberger Hausprojekt, in dem Heinz den Film ursprünglich drehen wollte, die Kooperation mit der Begründung abgelehnt hat, die Geschichte sei zu "heteronormativ" und "klischeehaft".

Und wie sieht es nun mit dem Widerstandsrecht gegen rechte Umtriebe aus, weil der Faschismus nur noch mit Gewalt aufzuhalten ist? Das wäre eine radikale These, aber es wäre immerhin eine. Eine Antwort gibt der Film leider nicht. Verblüffender Weise bleibt "Und morgen die ganze Welt" ausgerechnet in seiner politischen Bewertung unklar. Die alten linken Diskussionen um Militanz etwa werden zwar kurz angerissen, auch die Frage, ob die Antifa jene Verirrten, die den Rechten folgen, zurückgewinnen müsse. Aber eine Haltung dazu entwickelt der Film nicht. Es geht so hin und her. Gerade warnt Luisa noch vor bodenloser Gewalt: "Dann sind wir wie die" sagt sie mit Blick auf die Nazis. Schon ist sie aber im nächsten Atemzug als erste mit dabei, wenn es darum geht zuzuschlagen. Warum, ist schwer nachzuvollziehen. Es mag jetzt sehr verächtlich klingen, aber es gibt Szenen, da fragt man sich, ob Julia von Heinz bei aller Distanziererei vielleicht "Hanni und Nanni" treuer geblieben ist, als es dem Thema gut tut: Wir sehen viel Abenteuer mit Waffenverbuddeln und Verkleidung für die Polizei, aber zu wenig Skizze der politischen und geistigen Radikalisierung.

Standbild aus "Dorogie Towarischi!" ("Liebe Genossen")



Eine ganz andere selbstbewusste Heldin mit Hang zur gewalttätigen Lösung zeigt der russische Altmeister Andrej Kontschalowski in "Dorogie Towarischi!" ("Liebe Genossen"). Lyudmilla, in allen Facetten der anschwellenden Desillusionierung gespielt von Julia Vysotskaja, ist eine Parteifunktionärin im südrussischen Nowotscherkassk des Jahres 1962. Der ungewöhnlicherweise in schwarzweiß und im fast quadratischem 4:3 "Normalbild" gedrehte Film lässt mit seiner außerordentlich liebevollen Ausstattung die Sowjetjahre wieder lebendig werden. Kontschalowski rekonstruiert eine Bankrotterklärung des Sowjetsystems, das Massaker an streikenden Arbeitern, das die Rote Armee hier in jenem Sommer auf Befehl aus Moskau verübt hat. Lyudmilla ist eine ganz normal korrupte, verbitterte, verzweifelte alleinerziehende Mutter, deren Tochter mit den Streikenden geht und deren alternder Vater in der Funktionärswohnung regelmäßig die Zarenzeit verherrlicht. Und obwohl "Liebe Genossen!" als ganz und gar historischer Film daherkommt, muss man ihn auch als Kommentar zur Gegenwart lesen: Über die verlorene Selbstachtung der Korrupten; über die zunehmende Verherrlichung der Sowjetzeit, die sich darin ausdrückt, wie Präsident Wladimir Putin einen Corona-Impfstoff "Sputnik" tauft; über das organisierte Totschweigen staatlicher Gewalt; oder über die Ereignisse in Belarus - Streiks, Repression, Verzweiflung. Umso erstaunlicher ist, dass Kontschalowski, der lange in Hollywood gearbeitet hat, diesen Film mit Geld des russischen Kulturministeriums realisiert hat.

Ebenso charakteristisch, dass die Mehrzahl der Filme, die in Venedig etwas zu sagen haben, dies mit überragenden Frauenfiguren tun. Es mag auch ein Resultat von Corona-Improvisationskunst sein, aber immerhin ist es 2020 Venedig als erstem großen Festival gelungen, die feministische Forderung zu erfüllen, dass die Hälfte des Wettbewerbsprogramms von Regisseurinnen kommen soll. Nicht nur in diesen Filmen dominieren weibliche Figuren.

Ein Frauenfilm, wie ihn Festivals und der Markt lieben, ist "The World To Come", eine US-Produktion unter Regie der Norwegerin Mona Fastvold. Es ist die Liebesgeschichte zweier Farmerinnen im Bundesstaat New York des Jahres 1856 und handelt von der emotionalen Überlegenheit der beiden Freundinnen gegenüber ihren ganz in der Zeit verhafteten Ehemännern. Die Geschichte vollzieht sich zwischen erschütternden Winterstürmen, dem entbehrungsreichen Landleben und dem warmen Sommerlicht, das auf die Veranda des pittoresken Farmhauses fällt. Sie lebt von der zwingenden Interaktion der beiden Hauptdarstellerinnen Katherine Waterston und der noch direkt in Venedig zum neuen Star ausgerufenen Vanessa Kirby. Die Tragödie nimmt ihren Lauf und das ist wirklich und im Ernst großes Kino, einerseits. Aber andererseits ist eine solche Geschichte, so erzählt heutzutage auch ganz und gar risikolos, weswegen man den Festivalpreis vielleicht eher einem anderen Film wünschen sollte.  

Standbild aus "Quo Vadis, Aida"

Einer Heldin, wie sie "Quo Vadis, Aida" zeigt vielleicht: Hier spielt Jasna Duricic eine UN-Übersetzerin in dem Stützpunkt der Vereinten Nationen nahe dem bosnischen Srebrenica, der traurige Berühmtheit errungen hat. Noch gerade zum 25-jährigen Jahrestag des Massakers an den bosnischen Bewohnern der Stadt zeichnet die Berlinale-Gewinnerin Jamila Zbanic ("Esmas Geheimnis - Grbavica") die Geschichte des Völkermords unter UN-Aufsicht nach. Auf einen Schlag werden die Ereignisse wieder aktuell, weil Zbanic sich auf die Opfer des Krieges konzentriert und auf deren Hilflosigkeit, die die der eigentlich zu ihrem Schutz entsandten Vertreter der Völkergemeinschaft ist.

Ins Zentrum der Kriege von heute führt uns der mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi. Rosi hat 2013 als erster Dokumentarist den Goldenen Löwen gewonnen (für sein Stadtportrait "Das andere Rom") und 2016 die Berlinale mit "Seefeuer", dem Film über das Alltag gewordene Flüchtlingsdrama in Lampedusa. Auch "Notturno" geht jetzt wieder in den Alltag, der keiner sein dürfte, nämlich den Alltag des Krieges: In dem Film zeigt er die Konflikte in Syrien, Libyen, Irak und Libanon. Oft ist nicht ganz klar, in welchem Kriegsgebiet wir uns gerade befinden, aber das ist für "Notturno" nicht wichtig, denn es geht darum, was der Krieg mit den Menschen macht. Und so zeigt Rosi wie der Krieg Teil des Lebens dieser Menschen geworden ist, wie das Unerträgliche normal wird.

Es sind teilweise spektakuläre Bilder, nach denen sich auch die Kriegsreporter die Finger lecken würden. Teilweise sind es auch banale, poetische oder beklemmende Szenen jener Normalität. Ein Fischer fährt immer wieder in der Nacht mit seinem schmalen Ruderboot hinaus in die sumpfigen Seen, um mithilfe von Gips-Enten auf Fischfang zu gehen. Auf der anderen Seite des Sees mischen sich die Feuer der Ölfelder mit dem nahenden Geschützdonner, während der Mann im Sumpf sich in absoluter Geräuschlosigkeit übt, damit die Beute anbeißt. In einem Waisenhaus zeigen Kinder die Bilder, die sie gemalt haben über ihre Erlebnisse in der Gefangenschaft des IS: Mord, Folter, Vergewaltigung. In einem Gefängnis in der Wüste sind orange-gekleidete IS-Kämpfer inhaftiert. "Notturno" zeigt also Krieg als Normalzustand, aber gleichzeitig klagt der Film mit seinen stillen, zwingenden Bildern an, dass Krieg nicht Normalzustand sein dürfte.

Szene aus "Khorshid" ("Sun Children") von Majid Majidi.

Und es gibt noch (mindestens) zwei Filme, die für einen Goldenen Löwen wenigstens in Frage kommen sollten: Der iranische Film "Khorshid" ("Sun Children") von Majid Majidi erzählt eine ergreifende Geschichte über die Hoffnungen der chancenlosen vernachlässigten Kinder aus Teheran, Kinder von psychisch Kranken, Alleinerziehenden, Süchtigen, Kleinkriminellen. Der 12-Jährige Ali glaubt verbissen an einen Schatz, der die Wendung in seinem Leben sein kann. Zwei Lehrer geben Kindern wie Ali einen Ort. Einmal darf gar der Held einen Taubenschwarm in die Freiheit entlassen, eine Szene des Glücks. Aber obwohl Majidi weiß wie man Kinogefühle erzeugt, wir sind hier nicht im Märchen. Daher endet diese Geschichte, wie Tragödien enden sollen, wie die Wirklichkeit eben.

Es ist bei all dem vielleicht noch nicht tröstlich, aber ein Zeichen für die Vielfalt des Kinos, dass auch eine Komödie unter den besten Filmen von Venedig ist, Malgorzata Szumowskas böse Satire "Never Gonna Snow Again", die kaum ein gutes Haar an der polnischen Mittelschicht lässt und dieser etwas Magisches gegenüberstellt.

Das Lebenszeichen des Kinos aus Venedig im Coronajahr ist somit doch noch laut geworden, laut. Es ist weiblich und vielstimmig. Jetzt müssen nur noch die Kinos her, die all diese Filme zeigen, dann hat es der Patient wirklich geschafft.

Lutz Meier