Im Kino

Geburtsname Hoffnung

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Rajko Burchardt
16.09.2020. "Ich sah einen Mann/eine Frau/Leute..." Roy Anderssons Film "Über die Unendlichkeit" erzählt in minimalistischer Abstraktion von einer hermetisch abgeriegelten Welt. Nicola Hens porträtiert in ihrem Dokumentarfilm "Chichinette: The Accidental Spy" die französische Widerstandskämpferin und Spionin Marthe Kohn, die die Rückzugsstrategien der Nazis auskundschafte.


Ein Paar schwebt am Himmel, chimärenhaft, eng umschlungen. Dazu erklingen Choräle. Aus weißen Punkten auf schwarzem Hintergrund, es könnten Sterne am Nachthimmel sein, wird der Titel des Films auf die Leinwand geschrieben: "Über die Unendlichkeit". Ein anderes Paar sitzt auf einer Parkbank mit Blick über die Stadt, die grau vor ihnen liegt. Am wolkenverhangenen Himmel (Grau in Grau) ziehen Vögel in Pfeilformation. "Es ist schon September," bemerkt die Frau lakonisch. Der Mann quittiert das mit einem "Hmm."

So geht das weiter, 75 Minuten kurz. In langen, komplett statischen Einstellungen. Zwischen diesen Bildern äußerster Starre immer wieder lange Schwarzblenden. Dazu gibt es einen Voice-Over, gesprochen von einer Frau, der in der immer gleichen Formel: "Ich sah einen Mann/eine Frau/Leute, der/die…" das Geschehen im Bild kommentiert, teilweise auch kontextualisiert. Von dem Mann, der in einem U-Bahnhof auf der Erde sitzt und Zither spielt, neben ihm sein Rollstuhl, erfahren wir, dass er seine Beine im Krieg verloren hat. Von dem Priester, der sich bei der Vorbereitung der Messe mit dem Messwein besäuft, dass er seinen Glauben verloren hat. Von dem älteren Paar, das Blumen auf ein Grab legt, dass ihr Sohn im Krieg gefallen ist.

Einerseits hilft diese Stimme (die einer Fee gehören soll, der Scheherazade aus den "Erzählungen aus 1001 Nacht" gleich, an die der Film lose angelehnt ist), die Themen des Films zu setzen: es geht um den Krieg, Religion, ein Leben im Angesicht des Grauens und der (eigenen) Vergänglichkeit. Andererseits aber kontrastieren die Worte die Bilder auch in doppelter Hinsicht. Zunächst, weil der Film mit seinen exakt kadrierten und arrangierten, in gedeckten Braun- und Grautönen gehaltenen Bildern von alltäglichen, zufälligen Beobachtungen kaum weiter entfernt sein könnte. Aber auch, weil "Über die Unendlichkeit" in seiner speziellen Art der Stilisierung eine derart hermetisch abgeriegelte Welt erschafft, dass es das Off, aus dem die Frau zu uns spricht, hier eigentlich überhaupt nicht mehr geben kann.



Dem widerspricht nicht, dass der seit den Siebziger Jahren als Filmemacher aktive Roy Andersson, der für "Über die Unendlichkeit" 2019 in Venedig den Preis für die beste Regie erhielt, die Themen seines Films um eine historische Ebene erweitert, sie quasi zur Vergangenheit hin öffnet, indem er einige Szenen im Zweiten Weltkrieg spielen lässt. Wir sehen, zwischen den Bildern oder "Erzählsträngen" (kein wirklich passendes Wort für diesen Film) im Stockholm der Gegenwart eine Szene im Führerbunker, kurz vor der Kapitulation. Deutsche Soldaten, die durchs ewige Grau (Grau und Grauen hängen in der Welt des Films eng zusammen) des sibirischen Schneetreibens in ein Gefangenenlager marschieren, die Niederlage unmittelbar in ihre Körper eingeschrieben, geschlagen, hängenden Hauptes ziehen sie von dannen. Das Paar aus der ersten Einstellung des Films, das nunmehr über dem komplett zerstörten Köln unmittelbar nach dem Krieg schwebt.

Doch der Nationalsozialismus ist nur eine der historischen Ebenen, durch die Anderson seinen Film über gegenwärtige  gesellschaftliche Grausamkeit erdet. Zwei der erschütterndsten Szenen zeigen, relativ zu Beginn, einen Prozessionszug, bei dem die Männer und Frauen den unter der Last seines Kreuzes zusammenbrechenden Jesusdarsteller auspeitschen, immer wieder auf ihn einschlagen und nach ihm treten. Und dann, relativ gegen Ende, was strukturell schon deshalb wichtig ist, weil die Brutalitäten zweier Weltreligionen einander spiegeln, eine blutüberströmte junge Frau, die in den Armen ihres weinenden Vaters liegt, der das Messer noch in der Hand hält, mit dem er den "Ehrenmord" beging.

In einer der stets in einer einzigen Einstellung aufgelösten Szenen erklärt ein Jugendlicher, in der Hand ein Physikbuch, einem Mädchen das erste Gesetz der Thermodynamik, nach dem Energie unendlich ist und immer nur neue Formen annehmen kann. So dass sie beziehungsweise ihre Energien sich theoretisch in Millionen von Jahren wieder begegnen könnten. Gibt Andersson damit dem Publikum einen Schlüssel zum Verständnis des Geschehens des Films in die Hand, ist es doch sicherlich nur einer von vielen.

Unendlich scheint in "Über die Unendlichkeit" das Grau und die Grausamkeit der Menschen - und zwar im doppelten Sinn von "nie aufhörend" und "unendlich groß", unermesslich. Dass es Anderson gelungen ist, einen berührenden Film über das Leben im Angesicht der (Un)Endlichkeit zu drehen, hat zwei Gründe: zum einen weiß er, dass weder die Unendlichkeit des beschriebenen Grauens, noch die lose narrative Struktur und die bis zum Äußersten gehende minimalistische Abstraktion der Form ihn davon entbinden, in den einzelnen Szenen und Situationen sehr konkret zu werden. Zum anderen aber ist das Ganze, trotz allem, nicht ohne Hoffnung. Im vielleicht schönsten der berückend schönen Tableaux Vivants des Films bringen drei junge Frauen mächtig Schwung in die Kiste, indem sie auf der einen Seite des Bildes ausgelassen zu schwedischem Swing tanzen, während auf der anderen die Gäste auf den Bänken vor einem Restaurant vor sich hin starren. In der letzten Einstellung des Films ziehen - als Kontrast zum Stillstand eines Mannes, der auf einer Landstraße eine Autopanne hatte - wieder die Vögel über den Himmel. Immerhin. 

Nicolai Bühnemann

Über die Unendlichkeit - Schweden 2019 - OT: Om det oändliga - Regie: Roy Andersson - Darsteller: Bengt Bergius, Anja Broms, Marie Burman, Amanda Davies - Laufzeit: 78 Minuten.

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In Los Angeles sitzt Marthe Cohn an einem großen Computerbildschirm, ihre Schultern sind nach oben bezogen, der schmale Kopf versinkt im Nacken. Vor schriftlichen und telefonischen Anfragen kann die Frau sich kaum retten. Interviews, Lesungen, Vorträge: "Ich bin extrem beschäftigt", sagt sie kurz vor ihrer Reise nach Europa. Im 10.000 Kilometer entfernten Metzer Hotel fehlt dann ausgerechnet ein Internetzugang auf den Zimmern. Keine Mails lesen und beantworten zu können, das ist für die 1920 geborene Französin nur schwer hinnehmbar - sie will es sich nicht erlauben, unproduktiv zu sein. Resigniert beißt Marthe Cohn auf der Bügelrundung ihrer Brille herum, schaut ins Kameraobjektiv und streckt die Zunge raus.

Zeit als treibende Kraft ist ein übergeordnetes Thema im Dokumentarfilm "Chichinette - Wie ich zufällig Spionin wurde" (den grellen Untertitel hätte es eher nicht gebraucht). Nicola Alice Hens begleitet Marthe Cohn durch einen straff organisierten Aufenthalt in Frankreich, der von öffentlichen Veranstaltungen zu biografisch rekonstruierten Orten der Erinnerungen führt, vorbei an Weggabelungen, die einstmals augenblicklich über Leben und Tod entschieden. 1945 verhalf Cohn den Westalliierten im südbadischen Raum zum Sieg über die Nazis: Als deutsche Krankenschwester getarnt, spionierte die französische Jüdin jene militärisch geschwächten Gebiete aus, deren Abwehrlinien mit ihrer Hilfe durchstoßen werden konnten.

Lange behielt Marthe Cohn diese spektakuläre Erzählung für sich, jetzt möchte die mittlerweile 100-jährige Zeitzeugin sie noch mit möglichst vielen Menschen teilen. Ende der 1990er Jahre, inspiriert durch eine Annonce der von Steven Spielberg gegründeten USC Shoah Foundation, berichtete sie erstmals über ihre konspirativen Tätigkeiten und veröffentlichte kurz darauf das Buch "Im Land des Feindes". Die Schilderungen der pensionierten Wahlkalifornierin sorgten weltweit für Aufmerksamkeit, in amerikanischen und französischen Medien wurde sie als Kriegsheldin gefeiert. Unvermittelt standen Cohn und ihr bis dahin ebenfalls ahnungsloser Ehemann ("Ich war seine Assistentin, jetzt assistiert er mir") im Fokus einer staunenden, wissbegierigen Öffentlichkeit. Überfüllte Terminkalender mussten fortan verlorene Zeit gutmachen.



Das auf traumatische Erfahrungen verweisende Schweigen ergründet der Film angemessen vorsichtig. Niemand habe über den Krieg sprechen wollen, erklärt seine Protagonistin, und keiner habe je gefragt, wie sie die Besatzung überlebte. Mit der Familie floh Marthe Cohn, Geburtsname Hoffnung, 1939 aus Lothringen zunächst nach Poitiers. Ihr Verlobter, ein Mitglied des Widerstands, wurde von den Nazis hingerichtet; die Schwester in ein Gefangenenlager gebracht und später nach Auschwitz deportiert. Unter Lebensgefahr gelang Marthe, ihrer Unermüdlichkeit wegen Chichinette ("kleine Nervensäge") genannt, der Weg über die Demarkationslinie in die Freie Zone und mit gefälschten Papieren nach Paris. Dort trat sie 1944 der Armee bei, wo die exzellenten Deutschkenntnisse der bilingual in Grenznähe aufgewachsenen Frau nur ganz zufällig bemerkt wurden.

Im Geheimdienst sollte Marthe Cohn schließlich von der Stimmungslage deutscher Zivilisten berichten und Einzelheiten zur Rückzugsstrategie der um letzte Gebiete im Elsass kämpfenden Nazis herausfinden. Ausgegeben hatte die Spionin sich als besorgte Deutsche auf der Suche nach ihrem Geliebten, wobei hinter dem angeblichen Verlobten ein tatsächlicher Wehrmachtssoldat namens Hans steckte, der in französischer Gefangenschaft glaubhafte Liebesbriefe aufsetzen musste - das vielleicht schönste Detail des waghalsigen, von einer wunderbar agilen Cohn aufgeweckt und bildhaft wiedergegebenen Erlebnisberichts (an dieser Stelle fallen zum einzigen Mal deutsche Worte: "meine Liebste", erinnert sich die Ideengeberin der Aktion, habe Hans sie in seinen Briefen genannt).

Nicht immer trifft Regisseurin Nicola Alice Hens den richtigen Ton. Die allzu dramatisch Gefühlslagen evozierende Musik ist ebenso verzichtbar wie der überwiegend wahllose Einfall, reale Landschaftsaufnahmen in animierte Stimmungsbilder zu verwandeln - von formaler Zurückhaltung und mehr Gründlichkeit hätte der kaum eineinhalbstündige Film klar profitiert. Dennoch ist "Chichinette" als Porträt einer faszinierend unerschütterlichen Persönlichkeit sehenswert. Am Ende wirft er die bittere Frage auf, wie viele vergleichbare Geschichten nie erzählt oder möglicherweise schlicht nie gehört worden sind - und welcher reichhaltige Erfahrungs- und Wissensvorrat damit unwiederbringlich verloren gegangen sein könnte.

Rajko Burchardt

Chichinette: The Accidental Spy - Deutschland, Frankreich 2019 - Regie: Nicola Hens - Laufzeit: 86 Minuten