Im Kino

Zeit der Wunder

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann
06.02.2024. Andrew Haigh ist seit Beginn seiner Regiekarriere ein Meister im Manipulieren von Zeit. Sein neuer Film "All of Us Strangers" lässt die Figuren gleich zu Beginn in einen Zeitstrudel fallen, aus dem sie bis zum Ende nicht herausfinden. Es sagt viel über diesen wunderbaren Film, dass das nicht einmal besonders auffällt.


Eines Abends, eines Tages, eine Zeit lang. Dazwischen Faltung der Zeit und Zeit der Wunder. Am Ende wieder ein Abend, und es ist alles verändert, auch wenn es sein kann, dass überhaupt nichts stattgefunden hat.

Eines Abends steht der Mann (Paul Mescal) vor der Tür, den er (Andrew Scott) zuvor hinter einem Fenster gesehen hat, irgendwo in einem der oberen Stockwerke des Wohnturms. Dort, am Fenster, war er nicht mehr als ein Schatten. Jetzt hat er einen Körper und ein ziemlich junges Gesicht, und weil die Zeit bereits aus den Fugen ist und die verpassten Chancen keine Chance haben, wird dies nicht ihre letzte Begegnung sein, auch wenn er ihn erst einmal zurückweist. Sie werden sich wiedersehen; wann, wo, und wie das möglich sein kann, fragt in diesem Film niemand. Sie werden Zeit verbringen, sie werden sehr verliebt sein; und am Ende hätte er ihn gerne seinen Eltern vorgestellt.



Eines Tages fährt er zu seinen Eltern. Genauer: Er fährt, bei Tag, irgendwo im Time Warp, in den Vorort, in dem er als Kind lebte, bis die Eltern vor mehr als dreißig Jahren bei einem Autounfall ums Leben kamen. Das Haus gibt es noch, es sieht ungefähr so aus wie auf dem alten Foto, und als er später in den Park geht und zwischen den Bäumen auf eine Wiese tritt, steht dort auf einmal sein Vater (Jamie Bell), der so alt ist wie er. "Let's go", sagt der Vater, eine Flasche Whiskey unter dem Arm, die er zur Feier der unverhofften Begegnung auf dem Rückweg einkauft. Seine Mutter (Claire Foy) ist ebenfalls so alt wie er und sehr glücklich, ihn wiederzusehen.

Er träumt das nicht. Jedenfalls nicht bei dieser Gelegenheit, auf die einige weitere Besuche folgen, für die er in Regionalzüge steigt und bei denen eine Haustür geöffnet wird, und die auch sonst ziemlich normal aussehen, nur dass die Eltern in seinem Alter sind und es auf einmal möglich ist, mit ihnen zu sprechen. Sie hatten Zeit, damals; aber gesprochen haben sie zu wenig. Also führen sie die Gespräche jetzt, in einem Limbo bei Tee, Whiskey, Fast Food, so lange sie eben fortgesetzt werden können, und das ist (weiß er, wissen sie) nicht allzu lange.

Eine Zeit lang ist der Limbo jetzt überall. In dem Vorort, aber auch in der Stadt, dem Wohnturm, in seinem eigenen Apartment, in dem der junge Mann ein- und ausgeht, und wo er eines Morgens aufwacht, nachdem er während der Nacht in zu vielen Welten unterwegs gewesen ist. Mit dem Aufwachen beginnt (endgültig) die Phase der gestundeten Zeit; aber das Wunder besteht nicht zuletzt darin, dass sie trotzdem ausreichen wird.

Andrew Haigh, der nach "Weekend" (2011) und "45 Years" (2015) als ein Spezialist für den Umgang mit langer und kurzer Dauer bezeichnet werden kann (sein dritter Spielfilm, "Lean on Pete" von 2017, funktioniert deutlich anders), ist klug genug, in "All of Us Strangers" auf jede Erklärung zu verzichten. Was geschieht, geschieht, und dass es geschehen darf, ist ein Glück, so groß und unwahrscheinlich, dass nicht viel mehr übrigbleibt, als es anzunehmen. Der Score ist laut und ziemlich drüber. Der Cast auf beiläufige Weise sehr gut. Die Zeit, die irgendwann zu Beginn aus den Fugen gerät, wird sich bis zum Ende nicht geordnet haben, und es erzählt viel über diesen wunderbaren Film, dass das nicht einmal besonders auffällt.

Stefanie Diekmann

All of Us Strangers - GB 2023 - Regie: Andrew Haigh - Darsteller: Andrew Scott, Paul Mescal, Carter John Grout, Jamie Bell, Claire Foy - Laufzeit: 105 Minuten.