Im Kino

Zwölf goldene Sterne

Die Filmkolumne. Von Alice Fischer
01.02.2024. Eine syrische Familie strandet auf dem Weg nach Europa im Grenzgebiet zwischen Polen und Weißrussland und erlebt ein Martyrium. Agnieszka Hollands "Green Border" wurde in Polen zu einem politischen Skandal - ein aktivistisches Kunstwerk im besten Sinne, das gleichzeitig zeitlos vom Sterben unter uralten Bäumen erzählt.


Der "Białowieża-Wald", auf Deutsch auch Belowescher Wald, ist einer der letzten Urwälder Europas. Durch dieses prähistorische Dickicht verläuft die Grenze zwischen Belarus und Polen. Immer wieder schauen wir in Agnieszka Hollands Film "Green Border" durch die Kamera nach oben, zwischen die weit entfernten Baumwipfel, die sich im Wind wiegen, unberührt vom Horror, der sich am Waldboden abspielt. Für einen kurzen Moment, ganz zu Beginn des Films, ist der Urwald noch tiefgrün, wir sehen ihn von oben, überfliegen ihn, dann jedoch wird der Film schwarz-weiß. Der Syrer Bashir mit seiner Familie, dem alten Vater, zwei kleinen Kindern und einem Baby, können noch nichts von dem erahnen, was ihnen dort zustoßen wird. Sie sitzen im Flugzeug, kurz vor der Landung in Belarus, von da aus wollen sie in die EU und zum Onkel nach Schweden. Sie sind eine Familie unter vielen anderen, die vom verbrecherischen Lukaschenko-Regime nach Belarus gelockt wurde, mit dem Versprechen einer einfachen Passage in die EU. Ein Racheakt für europäische Sanktionen. Den Weg über das Meer hätte sie nicht genommen, meint Bashirs Frau, viel zu gefährlich. 

Nach ihrer Ankunft wird das Taxi, das sie über die Grenze bringen soll, plötzlich von vermummten Soldaten gestoppt, die der afghanischen Frau, die sich der Familie angeschlossen hat, erstmal dreihundert Euro abknöpfen. Dann treiben sie die Gruppe brüllend durch den Maschendraht-Grenzzaun, Bashirs Frau drückt ihr Baby an die Brust, damit es nicht verletzt wird, die Koffer und Taschen werfen die Soldaten über den Zaun hinterher. Der erste Schock über diese so unerwartet rohe Behandlung wird gemildert, als man per Handy-GPS feststellt, dass Polen erreicht ist. Erleichterung breitet sich aus, sie sind in der EU angekommen, sind in Sicherheit. Müde, aber zuversichtlich stapfen sie los durch den Wald. Da beginnt der Alptraum erst - wenn man das so schreibt, könnte man fast denken, es ginge um einen Horrorfilm. Und irgendwie ist "Green Border" das auch, nur, dass die Familie im Wald nicht von Monstern erwartet wird, sondern viel schlimmer, von Menschen, die man indoktriniert hat. Denen man gesagt hat, dass die, die da ankommen "Kriminelle", "Ungeziefer", "Pädophile" sind, dass man den Staat vor ihnen schützen muss, und so weiter. 

Völlig erschöpft nach einer Nacht im Wald, Essen und Wasser sind aus, die Handy-Akkus leer, trifft die Gruppe wieder auf Soldaten, diesmal auf polnische. Die sind erstmal nicht so furchteinflößend, wie die Belarussen, "nette Typen", meint Bashirs Vater, als sie eine Zigarette zusammen rauchen. Aber der Jeep, auf den die Familie aufsteigt, bringt die Gruppe einfach genau dorthin, wo sie vor Stunden waren, an die belarussische Grenze, über die man sie wieder zurücktreibt, diesmal mit brutaler Gewalt. Und so geht es weiter, die Belarussen haben den Befehl, die Geflüchteten nach Polen zu schicken, die polnischen Soldaten zwingen sie zurück - dabei sind die Menschen der Brutalität und dem Sadismus der Soldaten ausgeliefert, eine Endlosschleife der Grausamkeit läuft an. Im Jahr 2021 sind bei diesen sogenannten Push-Backs, die das EU-Recht eigentlich verbietet, Dutzende Geflüchtete gestorben, mehrere hundert werden der Hilfsorganisation "Grupa Granica" zufolge vermisst. Die Schauspieler im Film sind Laien, haben das Gezeigte aber so oder so ähnlich selbst erlebt. Jalal Altawil, der Bashir spielt, wurde in Syrien gefoltert. Einige der Kinder, die im Film mitspielen, haben die Push-Backs selbst erlebt, manche sind sechsmal von Grenze zu Grenze getrieben worden.

Die Willkür und rohe Gewalt der Grenzbeamten sind ein zentrales Element in Hollands Film und teilweise schwer zu ertragen. Die Soldaten prügeln auf den alten Vater ein, auf Nur, den etwa zehnjährigen Sohn, auf kleinste Kinder und schwangere Frauen. Eine der schlimmsten Szenen zeigt, wie eine hochschwangere Frau von Soldaten von der Ladefläche eines Militärfahrzeugs hochgehievt und wortwörtlich über den Zaun geworfen wird, sie schlägt schwer auf dem Rücken auf. Entgeistert richtet sie sich auf und starrt auf den blutigen Riss in ihrer Bauchdecke - er ist vom Aufprall aufgeplatzt. Schnitt.

Holland zeigt in ihrem Film nicht nur das Martyrium der Flüchtenden, sondern auch die Perspektive der Grenzsoldaten und einer Gruppe polnischer Aktivisten im Wald, die die Einzigen sind, die die Umherirrenden mit Medikamenten, Essen und Kleidung versorgen können und ihnen vor allem erst einmal die Situation erklären. Als Zuschauer begreift man einmal mehr, wie essenziell die Arbeit der Menschenrechtsaktivisten ist, denen selbst Gefängnis droht, wenn sie in den von der Regierung errichteten "Sperrzonen" erwischt werden oder Geflüchtete bei sich beherbergen. Trotz all dem Grauen zeigt der Film, und man ist als Zuschauer sehr dankbar dafür, dass es nicht nur das Schlimme gibt, dass doch immer wieder Empathie da ist, manchmal auch bei Personen, von denen man es nicht erwartet hätte. So etwa beim polnischen Soldaten Janek, der erstmal alles glauben will, was ihm von der Militärführung über die Menschen erzählt wird, die ankommen. Es ist seine Pflicht, das Land gegen diese "menschlichen Geschosse" zu verteidigen, meint er, aber so ganz glaubt er selbst nicht daran. Janek jedenfalls hält es irgendwann nicht mehr aus, allein im Auto schreit er Angst und Wut heraus. Später entscheidet er sich dafür, im richtigen Moment, das Richtige zu tun. Sein Kollege ertränkt das Schreckliche in Quittenschnaps.



Das Schwarz-Weiß verleiht Hollands Film verschiedene Effekte. Zum Einen gibt er dem Dargestellten etwas Zeitloses, Metaphorisches. Denn natürlich passieren solche oder ähnliche Dinge überall auf der Welt, "No nation is immune to this kind of behaviour", sagt die Regisseurin Holland selbst, Grausamkeit ist international. Zum anderen erinnert die Optik an historische Dokumentationen, aus dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel, und natürlich lässt der Sadismus der Grenzer an die Nazis denken. Das Grau macht aber noch etwas anderes: Es erhöht die Kontraste, grell-weiß leuchten die Scheinwerfer an den Grenzen durch die Schwärze der Nacht in das Gesicht einer toten Frau, die Janek und ein anderer Soldat am Zaun finden. Das Dunkel - viele Szenen spielen in der Nacht - wird noch dunkler. Pechschwarz ist der Schlick, der mit einem schmatzenden Geräusch über Nurs Kopf zusammenfließt, als dieser in einem Sumpf versinkt.

Schließlich geleitet Holland die syrische Familie, nur noch vier Personen sind übrig, aus der Urwald-Hölle in ein polnisches Dorf. Wie sie es geschafft haben, die Grenzkontrollen zu umgehen, lässt sie offen. Hier gönnt sich der Film, der sonst auf jegliches Pathos und Klischees verzichtet, einen Hauch plakativer Symbolik: Völlig desillusioniert, dreckig, und zu erschöpft zum Weinen sitzt die Gruppe am Straßenrand, auf die Wand im Hintergrund sind die zwölf goldenen EU-Sterne gemalt. Ihr Versprechen von Sicherheit und Unantastbarkeit haben sie, wieder einmal, nicht eingehalten.

Das Ende ist diskutabel: Die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter an der polnischen Grenze wird gezeigt, der einfache Übergang, die warme und verständnisvolle Reaktion von Militär und Bevölkerung. Hier zeigt Holland auf, dass bei der Aufnahme mit zweierlei Maß gemessen wird, dass eben nicht alle Menschen vor dem EU-Recht gleich sind. Aber die Szene hinterlässt ein ungutes Gefühl, das Leid der Ukrainer erscheint im Gegensatz zu den Ereignissen im Wald vernachlässigbar, gar unerheblich. Vielleicht hätte man diesen Gegensatz anders gestalten können.

Auf die Veröffentlichung von Agnieszka Hollands Film folgte eine regelrechte Hasskampagne der polnischen Regierung. Auf allen Kanälen und mit allen Mitteln versuchte man, die Regisseurin zu diffamieren. Der stellvertretende Ministerpräsident Jarosław Kaczyński sprach von "Nazi-Propaganda". Aber laut Holland gingen die absurden Anschuldigungen nach hinten los: Sie stellten sich als hervorragende Publicity für den Film heraus, der auch die Wahlen im Oktober beeinflusste. Die Polen hatten genug. So kann man "Green Border" als echte, aktivistische Kunst bezeichnen. Es ist ein Film, der die enorme Macht der Bilder in konkreten politischen Situationen vor Augen führt; und gleichzeitig eine zeitlose Erzählung vom Sterben unter uralten Bäumen.

Alice Fischer

Green Border - Polen 2023 - OT: Zielona granica - Regie: Agnieszka Holland - Darsteller: Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Tomasz Włosok, Behi Djanati Atai, Mohamad Al Rashi - Laufzeit: 147 Minuten.