Im Kino

Geschichte der Sieger

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann
18.10.2023. "Killers of the Flower Moon" beginnt mit einem Oil Rush in einem Indianerreservat. Der plötzliche Reichtum der Ureinwohner führt zu einer Mordserie, die Martin Scorseses neuer Film zu einem epischen Panorama aus Mord, Geldgier und Landnahme auffaltet. Im Zentrum steht ein von Leonardo di Caprio gespielter Chauffeur, der sich zwischen seiner Frau und seinem Onkel entscheiden muss.


Der siebenundzwanzigste (sehr) lange Spielfilm Martin Scorseses beginnt mit stummen, schmalformatigen Schwarzweißbildern, die im Wochenschaustil die Geschichte des indigenen Osage-Stammes in Oklahoma erzählen. Es ist das Jahr 1920, und auf ihrem Land wird der Treibstoff, den die angelsächsischen Siedler zur Ausbreitung ihrer Zivilisation brauchen, gefunden: Erdöl, das schwarze Gold, das für einen ähnlichen Rausch sorgen kann wie sein gelbes Gegenstück. Die ersten Breitwandbilder des Films zeigen die ekstatisch tanzenden, schimmernd verschmierten Körper der Männer des Stammes, den der Oil Rush schlagartig reich machte. Ihre Frauen, die mit Worten zu sparen wissen, sind in prächtige Trachten gehüllt. Doch der Traum, friedlich mit den Weißen zusammenzuleben, den Reichtum zu teilen, von dem genug für alle da wäre, ist von kurzer Dauer.

"Killers of the Flower Moon" hingegen dauert dreieinhalb Stunden, zu seinem epischen Atem addiert sich durch Robbie Robertsons minimalistische Filmmusik der Herzschlag eines Spätwestern, in dem die Eisenbahn und das Automobil die Pferdekutsche endgültig als wichtigste Fortbewegungsmittel abgelöst haben. Der weiße Ernest Burkhardt (Leonardo di Caprio) lernt seine indigene Frau Mollie Kyle (Lily Gladstone) als Fahrerin des Taxis kennen, das ihn vom Bahnhof in seine neue Unterkunft in Osage County bringt. Neben vielen anderen Osage-Frauen fallen auch Mollies Mutter und ihre Schwestern alsbald einer Mordserie zum Opfer. Der Film konterkariert die Geschichte einer "Mischehe", als möglichen Gründungsmythos des modernen Amerika, mit einer jener düsteren Sagen über Geld, Gier, Macht und Mord in verschiedenen Epochen des zwanzigsten Jahrhundert, die Scorsese in den letzten drei Jahrzehnten immer wieder erzählt hat.

Mal waren diese Epen im Milieu des organisierten Verbrechens angesiedelt, mal anderswo, etwa in der New Yorker Finanzwelt. In den gut geölten Bildermaschinen wie "Casino" oder "The Wolf of Wall Street" hatte der stilistische Exzess seinen Ort allerdings in erster Linie in der Montage; in Killers of the Flower Moon hingegen beeindrucken vor allem die Opulenz und Bildgewalt der zumeist langen und statischen, genau komponierten Einstellungen. Was hier Ausdruck findet, ist die Gewalt der Landnahme.



Der um sich greifende Fortschritt in Osage Country versorgt Weiße und Indigene mit Feuerwasser, die Diabetikerin Mollie mit dem damals neuen Medikament Insulin, aber auch mit den seinerzeit noch medizinisch verwendeten Drogen Heroin und Kokain. Schließlich tritt das ebenfalls noch junge FBI auf den Plan: die ab 1924 von J. Edgar Hoover geleitete Bundespolizei nimmt Ermittlungen bezüglich der Mordserie auf.
Burkhardt findet sich bald zwischen den Fronten eines Krieges wieder, dessen Strippenzieher auf weißer Seite sein Onkel und einziger verbliebener Verwandter William "King" Hale (Robert DeNiro) ist. Bald steht dem totalen Zugriff auf Mollies Land nur noch sie selbst im Weg. Obwohl schwer erkrankt, scheut sie nicht einmal die weite Reise nach Washington, um auf das Leid ihres immer weiter dezimierten Stammes aufmerksam zu machen. Um seine Frau zu schützen, müsste Burckhardt nicht nur seinen eigenen Onkel belasten; auch er selbst ist tief in dessen verbrecherische Machenschaften verstrickt. Zunehmend aufgerieben von den divergierenden Loyalitäten, findet sich der gedrungene, getriebene Burkhardt, dessen psychischer Verfall dem körperlichen seiner zunehmend ans Bett gefesselten Frau korrespondiert, in einem Gerichtsprozess wieder, in dem nur er für Gerechtigkeit sorgen könnte.

Der Film, der zunächst im Kino startet und anschließend auf Apple+ gestreamt werden kann, schließt seinen medialen Rahmen mit einem Epilog, der wie eine in den frühen Sechzigern angesiedelte Parodie eines heutigen True-Crime-Podcasts wirkt. Für die Aufgabe, den Ausgang der Geschichte und das tragische Nachleben der drei Hauptfiguren zu erzählen, tritt Scorsese selbst ans Mikrofon. Von einem Nachkommen europäischer Einwanderer erzählt, ist die Geschichte der Osage zwangsläufig eine Geschichte der Sieger. Scorseses Film lässt sie als Farce enden; gleichwohl bleibt sie im Kern eine Tragödie, die sich über alle historischen und medialen Brüche hinweg fortsetzt.

Nicolai Bühnemann

Killers of the Flower Moon - USA 2023 - Regie: Martin Scorsese - Darsteller: Leonardo di Caprio, Lily Gladstone, Robert De Niro, Jesse Plemons, John Lithgow, Brendan Fraser, Tantoo Cardinal - Laufzeit: 206 Minuten.