Im Kino

Die Jugend diszipliniert sich selbst

Die Filmkolumne. Von Tilman Schumacher
12.10.2023. Auch gefühlt ein langer Film ist Wang Bings dokumentarischer "Youth (Spring)". Aber wie sollte es anders sein bei einem solchen Thema: Es geht um die Lebens- und Arbeitswelten ungelernter, junger chinesischer Arbeiter, die in kleinen Textil-"Workshops" für einen Hungerlohn schuften. Und ihrer tristen Umgebung dennoch auch Freudvolles abzugewinnen wissen.


Gegen Ende von "Youth (Spring)", dem gut dreieinhalbstündigen neuen Dokumentarfilm des chinesischen Independent-Regisseurs Wang Bing, rechnet man schon nicht mehr damit, dass der Film sein beengtes und schummrig beleuchtetes Setting noch einmal verlassen wird. Doch dann passiert es: Eine bei jedem Schritt mitwippende Handkamera folgt einem Mann und zwei Frauen - wir haben sie bereits kurz zuvor in den Textilverarbeitungswerkstätten von Zhili, einem grau-grauen Distrikt der Millionenmetropole Huzhou City, kennengelernt -, wie sie im Nieselregen eine Landstraße entlang gehen. Die Umgebung ist grün, weit und ruhig. All das, was für die Drei in Zhili sonst abwesend ist. Dort ist ihr Alltag eintönig, farblos und vom Lärm ratternder Nähmaschinen, pumpender Radiopopbeats und würdelos enger Gemeinschaftsunterkünfte bestimmt. 

Nach kurzer Zeit kommt das Grüppchen zu einem mehrstöckigen Anwesen. Xiao Wei zeigt seinen Freundinnen das Elternhaus, das er verließ, um als ungelernter Arbeiter in der Großstadt Geld zu verdienen. Im Abspann werden Menschen wie er, die aus den ländlichen Provinzen Anhui, Guizhou, Henan oder Jiangsu stammen, rural migrants genannt. In Zhili fügt Wei mit gespenstischer Automation Kinderkleidung für den heimischen Markt zusammen. Er erhält für seine Akkordarbeit eine Stückpauschale, die gerade einmal zum Leben reicht und um deren Höhe seine Kolleg:innen und er mit dem breitbeinig auftretenden Vorgesetzten feilschen müssen. Stolz weist der junge Mann seine Begleiterinnen im Haus auf die großzügige Durchfensterung des Wohnzimmers und auf das geschmackvolle Interieur hin; auf der Terrasse schaut er, eine Zigarette rauchend, auf den Fluss, der sich ums Haus schlängelt und in dem er früher gern fischte. Ein leises Leben.

Dass diese Sequenz, die in ihrer Entschleunigung und schwer greifbaren Melancholie so etwas wie den emotionalen Anker eines sonst nüchtern beobachtenden Films bildet, so unverhofft einsetzt, hat mit der Nicht-Dramaturgie von "Youth (Spring)" zu tun. Denn der Dokumentarfilm gehorcht schlicht keinem Spannungsbogen. Er lässt sich auf das ein, was er im Textilverarbeitungsdistrikt von Zhili, das gut dreihunderttausend Arbeiter:innen beherbergt, vorfindet, und arrangiert es gleichrangig nebeneinander. Die handgeführte Kamera wahrt in ihren unruhigen Bildkadern eine gewisse Distanz, beobachtet den Mikrokosmos eher von der Seitenlinie aus, als dass sie suggeriert, mittendrin zu sein. Manchmal reagieren die Porträtierten auf sie. "Youth (Spring)" verschleiert die besondere Situation ihrer Anwesenheit nicht (sogar den Schatten des Kameramanns gibt es, entgegen allen Inszenierungsstandards, in Außenszenen häufiger zu sehen). Zugleich setzt der Film sich nicht explizit mit seinem Gemacht- und Inszeniertsein auseinander; "Youth (Spring)" ist keine dieser poetisierten Meta-Doks. Auch an "schönen" Bildern ist Wang auffällig desinteressiert. Die wegen der schlechten Lichtverhältnisse oft krisseligen Digitalkameraeinstellungen registrieren schlicht und geradlinig eine Arbeits- und Lebensrealität, in die kaum sonst jemand Einblicke erhält. Entscheidend ist die Beglaubigungsfunktion des Filmbildes. 



Im Zentrum steht das über Zhili ausgebreitete Netz aus durchnummerierten Nähereien, "Workshops" genannt. Es sind eben nicht riesigen Textilfabriken, wie man sie etwa aus Berichten über Bangladesch oder Indien kennt, sondern nicht minder karge, oft neonlichtbeschienene Räume von zirka 50m², in denen höchstens 20 Menschen gleichzeitig arbeiten - und fast alle sind sie um die 20 Jahre alt. Obwohl erst am Filmende eine Texttafel Kontextinformationen liefert, setzt die Abfolge der rauen Kamerablicke bereits vorab peu à peu eine räumliche Logik dieser Orte zusammen: Das Erdgeschoss funktioniert als Ladengeschäft wie als Chefetage, darüber die Workshop-Räume, oberhalb derer die Unterkünfte, Interaktionen zwischen den jungen Menschen in den zugemüllten Laubengängen des Hauskomplexes, bei den Garküchen, den Internetcafés oder eben bei der Arbeit selbst, die faszinierend autark organisiert ist. Niemand passt auf, es gibt keine Vorsteher oder dergleichen - nicht nötig, die Jugend diszipliniert sich durch die Stückpauschale selbst.

"Youth (Spring)" ist ein passend allgemeingehaltener Filmtitel. Denn Wang geht es bei aller Präsenz von Arbeit weniger um ein akkurates, für das Publikum im Einzelnen nachvollziehbares Porträt einer Industrie und ihrer Abläufe, als vielmehr darum, wie die titelgebende Jugend sich diese Räume fernab der Heimat "erobert". Ihnen Individualität einpflanzt. Laute Schlager, die häufig mitgesungen werden, private Videocalls, während die Hände schlafwandlerisch weiterwirbeln, immer wieder die Suche nach physischer Nähe, die sich als Kappeln und Necken tarnt. Zwischendurch sehen wir völlig ermattete, zusammengepferchte Körper beim Schlafen, davor, dazwischen und danach Geflirte und Gerauche, schließlich Verhandlungen mit den Chefs, die um jeden zusätzlichen Yuan, den die prekär Beschäftigten einfordern, streiten, der Belegschaft gar mit Entlassung drohen. Es ist dennoch auf eigenartige Weise keine Elendsschilderung geworden. Auch wenn die Arbeitsumstände etwa in der "Paradise Street" maximal trist sind, schleichen sich immer wieder Momente der Albernheit und Widerständigkeit - auch Bilder der Hoffnung auf ein anderes Leben - ein.

"Youth (Spring)" ist (auch gefühlt!) ein langer Film. Und das nicht, weil er uns an einer sich langsam entfaltenden Geschichte teilhaben ließe, sondern, weil er zig verschiedene dieser normierten Arbeitsplätze zeigt, sich über einen langen Zeitraum von fünf Drehjahren hinweg für das Verhalten Einzelner interessiert, die hier die immer gleichen Handgriffe tätigen. Das ist tatsächlich wenig abwechslungsreich. Dennoch entsteht aus den unkommentierten Abläufen und kleinen zwischenmenschlichen Dramen eine Art Sog. Das Zeitgefühl kommt einem zusehends abhanden. Vielleicht geht es Jugendlichen wie Wei in ihrer oft fensterlosen Welt, in der nicht klar wird, ob gerade Tag oder Nacht, Herbst oder Frühling ist, ähnlich?

Tilman Schumacher

Youth (Spring) - Frankreich 2023 - Regie: Wang Bing - Laufzeit: 212 Minuten.

"Youth (Spring)" feierte dieses Jahr in Cannes Premiere und ist seither auf vielen Festivals zu sehen. In Frankreich kommt er nun auch regulär ins Kino. Ein deutscher Starttermin steht noch aus.