Im Kino

Spiel mit der Kausalität

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Janis El-Bira
29.07.2021. Dominik Molls "Die Verschwundene" untersucht die Todestriebe des globalen Spätkapitalismus von einem Kaff im französischen Zentralmassiv bis ins ivorische Abijan. Queer und im besten Sinne voller kultureller Aneignungen ist Tetsuro Takeuchis "Wild Zero" von 1999, eine irre Mischung aus Rock'n'Roll, Splatter, Liebe und dem Spiel mit sexuellen Identitäten.


Täuschend menschlich kann der Schrei einer Ziege klingen. Und markerschütternd sowieso. Es ist der erste von vielen Tricks, vor schwarzer Leinwand noch, mit dem "Die Verschwundene" in die Irre führen will. Ein Schrei im Dunkeln, der bei Licht betrachtet zum Blöken einer Ziege wird, die ein Fahrradfahrer auf den Schultern durch die Straßen der ivorischen Mega-City Abidjan transportiert. Der Comic-Relief dieser Eröffnung ist allerdings nur von kurzer Dauer, denn dunkle Mächte, das zeigt sich schnell, haben ihre Hände im Spiel.

Nicht nur Ziegen, auch Hunde und Kühe bellen und muhen in Dominik Molls Film, der im französischen Original den viel besseren Titel "Seules les Bêtes" ("Nur die Tiere") trägt. Sie geben Laut, als wollten sie die Menschen warnen. Jene Menschen, die sich hier Schritt um Schritt ins Verderben navigieren, und mit denen die Tiere keine Sprache teilen, vermittels derer sich das komplexe Schicksalsgeflecht beschreiben ließe, aus dem ihr nahendes Unheil konstruiert ist. Und konstruiert ist überhaupt fast alles an und in diesem Film. Festgezurrt und feingesponnen, damit seine Erzählung über die Todestriebe des globalen Spätkapitalismus weniger ins Herz als vielmehr mitten ins Hirn trifft.

Dabei fängt alles als Krimi-Laubsägearbeit an: Irgendwo auf einem verschneiten Weg des französischen Zentralmassivs steht ein leeres Auto. Die Frau (Valeria Bruni Tedeschi), die es fuhr, ist spurlos verschwunden. Zwischen den Gehöften der kargen Landschaft sucht die Polizei nach Verdächtigen nach. Der bemerkenswert maulfaule Bauer Joseph (Damien Bonnard) rückt dabei ebenso ins Zentrum wie Alice (Laure Calamy) und Michel (Denis Minochet), deren Eheleben eher nicht abendfüllend nacherzählbar wäre. Wohl auch deshalb hat Alice gelegentlich Sex mit dem stillen Joseph, während Michel im Internet nach Abwechslung sucht. Nur von der Verschwundenen mag niemand etwas wissen.



Schnell wird deutlich, dass Dominik Molls Handlungskaff nicht Twin Peaks ist und seine Verschwundene nicht Laura Palmer. Dem genregemäßen Whodunit der Spurensuche macht der Film schon dadurch rasch den Garaus, dass er seine Erzählrichtung bereits nach kurzer Zeit invertiert und in der Zeit springt. Nicht zurück an den Anfang allen Übels, sondern scheibchenweise, mit und gegen den Uhrzeiger, vor und zurück. Ein wendiges Spiel mit der Kausalität entsteht, das nun auch weitere Figuren in den Todestanz einbezieht: Eine junge Kellnerin (Nadia Tereszkiewicz), die mehr mit der Verschwundenen verbindet als das Auftischen eines vorzüglichen Desserts. Ein Ivorer (Guy Roger N'Drin), der in Abidjan vom großen Geld träumt.

Alles hat mit allem zu tun, ohne dass dafür alle mit allen auch nur bekannt sein müssten. Ein Drama der Perspektivierung mit klassischem "Rashomon"-Effekt ist der Film deshalb nicht. Um den Wahrheitswert einer Situation per Multiperspektivität zu relativieren, bräuchte es schließlich zumindest einen gemeinsamen Erfahrungsstartpunkt der Handelnden. Molls Figuren hingegen tappen über die Gründe und Folgen ihres Tuns fast vollständig im Dunkeln. Wie Planeten auf der Umlaufbahn um eine Sonne, die sie verbrennt, agieren sie meist unabhängig voneinander und reißen sich doch gegenseitig ins Verderben. Die Zentrifugalkraft ihres Untergangs scheinen Mächte zu sein, so unsichtbar wie transkontinentale Geldflüsse oder die Wirkweisen jenes ivorischen Fluchzaubers, mit dem der Film einmal nur sehr knapp am exotisierenden Afrika-Klischee vorbeischrammt.

Dass all diese heftigen Schmetterlingsflügelschläge und die Tornados, die sie auslösen, kaum moralisierend wirken, liegt vor allem an der seelenruhigen Grimmigkeit, mit der Moll und sein starkes Ensemble die selbstgestrickten Konstruktionen auskosten. Die kunstvolle Montage der Zeitebenen verdichtet sich zum maliziösen Gedanken, dass es gestern schon keine Rettung mehr für das Heute gab. Das ist nicht ohne schaurigen Witz. Auch wenn vielleicht nur die Tiere darüber lachen können.

Janis El-Bira

Die Verschwundene - Frankreich 2019 - OT: Seules les Bêtes - Regie: Dominik Moll - Darsteller: Valeria Bruni Tedeschi, Damien Bonnard, (Laure Calamy, Denis Minochet, Guy Roger N'Drin - Laufzeit: 117 Minuten.

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"Sie ist ein Mann?" Diese Erkenntnis gibt Ace zunächst den Rest. Nicht nur, dass der junge Mann, der durchs ländliche Japan tingelt, um keines der Konzerte seiner Lieblingsband "Guitar Wolf" zu verpassen, es unterwegs mit einem schießwütigen Clubbesitzer und seinen Schergen zu tun bekommt und in die Zombie-Apokalypse gerät - es stellt sich nun auch noch heraus, dass er die sexuelle Identität der jungen Tobio, die er auf seinem Weg traf, und in die er sich (fast) auf den ersten Blick verliebte, nicht richtig eingeordnet hat.

Ein Irrtum, der zum Kern der grellen, durchgeknallten und queeren Welt von "Wild Zero" führt: In dem 1999 entstandenen Film von Regisseur Tetsuro Takeuchi und Drehbuchautor Satoshi Takagi geht es auf vielen verschiedenen Ebenen um Körper. Als Splatterfilm lebt er von einer Wundästhetik, zeigt die Zerstörung von Körpern auf vielfältige Weise. Andererseits handelt er auch von der "Konstruktion" von Körpern, die eine doppelte ist; zunächst sind für die Figuren ihre Körper ein Mittel zum Selbstausdruck: Ace mit seinen Blue Jeans, der mit Nieten besetzten Lederjacke und der schwarzen Tolle, die er beständig mit einem Kamm bändigen muss. Tobio als ungleich zartere, aber dadurch auch unauffälligere Erscheinung, mit ihrer Kleidung und ihren Sneakers in dezenten Beige- und Pastelltönen. Zugleich sind Körper aber auch gesellschaftlichen Zuschreibungen unterworfen, die in Konkurrenz zu ihrer "Natürlichkeit" stehen, die "Wild Zero" etwa durch Close-Ups von Aces Urinstrahl ins Pissoir oder einer Gabel, die Nahrung in einen Mund schaufelt, ins Bild rückt.

"Wild Zero" erweist sowohl mit blutrünstigen Bildzitaten als auch in einem ziemlich lustigen Dialog den Zombiefilmen George A. Romeros seine Reverenz. Für die politischen Allegorien seiner Vorbilder interessiert er sich dabei allerdings nicht. Es geht lediglich um die persönliche Emanzipation seiner beiden Hauptfiguren, die inneren und äußeren Widerständen, die sie überwinden müssen, um schließlich zueinander zu finden.



Der Plot, durch den sie sich dabei bewegen, wird durch diverse Nebenfiguren unnötig kompliziert, tut aber letztlich kaum etwas zur Sache. Letztlich setzt der Film auf die Verbindung von formalem Exzess und einem dicht gesponnen, überkandidelten Netz der popkulturellen Bezüge, wobei zwischen blutrünstigem Splatter und aberwitzigem Zeitraffer-Slapstick mitunter nur ein einziger Schnitt liegt. Es geht um röhrende, Blitze werfende Gitarren und Feuer spukende Mikrofone. Queer ist der Film nicht nur im Hinblick auf die Sexualität seiner Figuren, sondern auch im Sinne einer durchweg positiv aufgefassten Form der kulturellen Aneignung.

So "typisch japanisch" der Film gerade auf ein westliches Publikum wirken muss, fällt doch auf, dass das Japan, in dem er spielt, eher aus westlichen Versatzstücken zusammengesetzt ist: von dem Saloon, in dem eines der "Guitar Wolf"-Konzerte stattfindet, bis zu einer Esso-Tankstelle, die uns in gleicher Bauart auch im Deutschland des ganz späten 20. Jahrhunderts begegnet ist - und die Zeugnis vom großen Gespür des Films für seine Schauplätze ablegt.

"Wild Zero" nimmt sich heute in vielem etwas anstrengend aus. Insbesondere das CGI war wohl schon zur Entstehungszeit mit deutlichem Augenzwinkern schlecht gemacht, wobei nicht nur die Effekte an sich ziemlich unschön gealtert sind, sondern auch ihr ironischer Duktus. Was an dem Film hingegen immer noch gefällt, ist das Spiel mit verschiedenen Identitäten, die erst durch die Übernahme und geschickte Inkorporation des "Fremden" entstehen. Die Fetischisierung (pop)kultureller Artefakte führt zu hybriden Identitäten, die ein ums andere Mal feste gesellschaftliche Zuschreibungen unterläuft.

Nicolai Bühnemann

Wild Zero - Japan 1999 - Regie: Tetsuro Takeuchi - Darsteller: Guitar Wolf, Drum Wolf, Bass Wolf, Masashi Endo, Kwancharu Shitichai - Laufzeit: 97 Minuten.