Im Kino

Schreckliche Freiheit

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
25.06.2008. Für seinen Film "Rückkehr in die Normandie" hat der erfolgreiche Dokumentarfilmer Nicolas Philibert ("Sein und Haben") den Ort wieder aufgesucht, an dem vor dreißig Jahren ein Film über den Mörder Pierre Riviere entstand. Und "XXY", eine argentinische Geschichte über eine Hermaphroditin, erweist sich als Werk dreier atemberaubend talentierter Frauen.

Vor ziemlich genau dreißig Jahren hat der inzwischen als Dokumentarfilmer ("Sein und Haben") zu Ruhm gelangte Nicolas Philibert als Regieassistent bei Rene Allios Film "Ich, Pierre Riviere, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder getötet habe" mitgewirkt. Dieser Film war ein recht ungewöhnliches Projekt. Allio verfilmte eine wahre Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, die lange vergessen war und gewiss auch weiterhin vergessen geblieben wäre, hätte nicht Michel Foucault, der Philosoph der Archive, sie ausgegraben und in einem eigenen Buch dargestellt (mehr hier). Pierre Riviere schrieb nach dem Mord an seiner Familie im Gefängnis einen achtzig Seiten langen Bericht, in dem er die Tat und seine Gründe darlegte. Dieses Bekenntnis - in dem er mitteilt, er habe in Gottes Auftrag gehandelt - ist als Dokument bedeutsam genug. Noch mehr aber interessierte Foucault, dass beim Prozess gegen Riviere erstmals psychiatrische Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Mörders angefertigt wurden. (Sie widersprachen sich übrigens diametral.) Riviere wurde für schuldig befunden, zum Tode verurteilt, daraus wurde durch Begnadigung des Königs lebenslange Haft. Kurz nach Antritt der Haft erhängte sich Riviere im Gefängnis von Caen.

Rene Allio, ein Regisseur aus dem Umfeld der "Cahiers du Cinema", drehte seinen Film in der Normandie, wo sich im 19. Jahrhundert der Fall zugetragen hatte. Genauer gesagt: rund zwanzig Kilometer entfernt vom eigentlichen Ort, der sich zu sehr verändert hatte. Allio wollte vorwiegend mit Laien arbeiten und schickte deshalb seine Regieassistenten, einer von beiden eben Nicolas Philibert, voraus, der unter den Bauern der Gegend nach geeigneten Darstellern suchen sollte. Davon erzählt Philibert, der dreißig Jahre später, Rene Allio ist 1995 gestorben, den Ort in der Normandie noch einmal aufsucht und die Darstellerinnen und Darsteller von einst befragt, was der Film für ihr Leben bedeutet hat und noch immer bedeutet. Das Ergebnis dieser Suche ist nun ein eigener Dokumentarfilm, "Rückkehr in die Normandie".


Alle denken gerne zurück, an den Moment, in dem sie Filmstars waren. Für alle - bis auf den Darsteller der Titelfigur - ging das Leben nach dem Film weiter ganz wie zuvor. Sie haben Fotos, sie haben Erinnerungen, sie haben ihren Kindern davon erzählt. Und sie haben das Zeugnis, als Beleg, den Film selbst. Philibert zeigt immer wieder Ausschnitte aus Allios Film, er erinnert sich an die Schwierigkeiten, das Geld aufzutreiben damals. Es gibt weder eine gezielte Fragestellung noch eine These; nur die Suchbewegung, das Interesse am Vergehen der Zeit und dem Weitergehen des Lebens. Die Suchbewegung kann deshalb in ganz unterschiedliche Richtungen gehen. Philibert geht zurück zum historischen Fall, rekonstruiert die Entstehung des Films, aber die Suchbewegung kann ihn auch in die digitale Gegenwart des Kopierwerks führen, in dem sich noch ein frühe Schnittfassung des Originals befinden muss. In dieser Schnittfassung findet sich ein Ausschnitt, der ganz am Ende Philiberts Film noch einmal anders pointiert.


"Rückkehr in die Normandie" ist in Wahrheit nichts als die Suche selbst, mit Fokuswechseln und Schärfeverlagerungen. Fest im Blick sind die Menschen, die einmal in ihrem Leben Schauspieler waren. Fast alle sind sie noch da, älter nun, erzählen aus ihren Leben, von eigenen Schicksalsschlägen auch. Diesen eigenen Leben öffnet Philibert den Raum seines Films, nicht zuletzt ihrer Alltagstätigkeit: Man sieht, pars pro toto, wie Schweine geboren, wie sie getötet werden. Einer aber fehlt, einer ist nicht mehr da. Es ist der damalige Hauptdarsteller, Claude Hebert, ein junger Mann aus der Gegend, der mit Rene Allio nach Paris ging, sich zunächst weiter als Darsteller versuchte und dann doch einen anderen Weg einschlug. Ihm forschte Philibert nach und mit dieser Suche bekommt der Film, der eine sehr persönliche Geschichte ist, ohne dass er es darauf anlegte, ein detektivisches Moment. "Rückkehr in die Normandie" ist nicht die präzise Erkundung einer verschwindenden Lebensform, wie es die auf den ersten Blick ähnlichen Filme von Raymond Depardon sind. Er ist nicht die virtuose Schichtung von Zeiten und Zeichen, die Jose Luis Guerin in "Innisfree" unternahm, für den nach Jahrzehnten den Drehort von John Fords Film "The Quiet Man" aufsuchte. Aber er ist eine schöne Liebeserklärung ans Kino, auf dem Umweg über Menschen, die es nur einmal wirklich mit ihm zu tun bekommen haben.

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Alex (Ines Efron) ist fünfzehn und sie ist ein Hermaphrodit, ein Mädchen mit Brüsten und einem Penis. Man hat sie nicht, wie es in solchen Fällen lange Zeit üblich war und oft schlimme Folgen zeitigte, nach der Geburt operiert. Ihre Eltern haben ihr die schreckliche Freiheit gelassen, anders zu sein als die anderen, und "XXY", das Debüt der Regisseurin Lucia Puenzo, erzählt von beidem: der Freiheit und dem Schrecken. Es geht Puenzo dabei nicht - wie etwa Jeffrey Eugenides' Erfolgsroman "Middlesex" - um Gender-Diskurse, nicht um Thesen zum Umgang mit Intersexuellen. Und nur im besten Sinne ist "XXY" ein Problemfilm, weil es ihm nämlich gelingt, das "Problem" so zu indivualisieren, dass man sich mehr für das Individuum interessiert und seine Art und Weise, das Problem zu konfrontieren.

Die Eltern sind damit so umgegangen, dass sie einen Schutzraum geschaffen haben, am Rand der besiedelten Welt. Durch Umzug nämlich von Argentinien in eine Küstenregion von Uruguay. Der Vater ist Meeresbiologe, so lässt es sich beruflich begründen. "XXY" zeigt den Punkt, an dem dieser Schutzraum Alex nicht länger schützen kann, weil sie selbst herausfinden muss, wer sie ist. Eine befreundete Familie kommt zu Besuch und Alex verguckt sich in Alvaro (Martin Piroyanski), den Sohn in ungefähr ihrem Alter. Er verguckt sich auch und sieht sich beim Liebesspiel mit den biologischen Tatsachen konfrontiert. Worauf er, nicht sofort, aber nach und nach, anders reagiert, als man denken sollte.


Damit aber ist es Lucia Penzo, deren Drehbuch nicht die stärkste Seite des Films ist, nicht genug. Sie hat, wie um für Balance zu sorgen, eine Vergewaltigungsszene eingefügt und eine Konfronation Alvaros mit seinem Vater, der ihn seiner "Unmännlichkeit" wegen verachtet. Allzu symbolisch geht es mitunter zu, von intersexuellem Meeresgetier und zerhobelten Karotten bis zum Familiennamen von Alex, der "Kraken" lautet. Diese Symbolik wird durch zweierlei immer wieder vergessen gemacht: die fiebrig-lebendige Kamera der (immer fantastischen) Natasha Braier, die den Figuren nahe kommt und nahe bleibt, ohne aufdringlich zu sein und so überzeugend daran arbeitet, dass sich nichts verfestigt, im Inneren von Alex und Alvaro und im Äußeren der erst leise, dann heftiger erschütterten Leben aller Beteiligten. Und vor allem Ines Efron, die Darstellerin von Alex, die schon im kürzlich bei uns angelaufenen Film "Glue" zu sehen war (Kamera auch da: Natasha Braier), und völlig überzeugend zwischen Furcht, Trotz, Verträumtheit und abrupt aufbrechender Entschlossenheit weniger schwankt als in abrupten Schüben gleitet.

"XXY", in Argentinien vielfach ausgezeichnet, als bester Film für den Oscar und auch die spanischen Goyas eingereicht, ist nicht rundum gelungen, aber er reißt mit als Werk dreier atemberaubend talentierter Frauen: Natasha Braier, die schon nach ganz wenigen Filmen (Jose Luis Guerins "En la ciudad de Sylvia" ist auch darunter) in die erste Reihe der Bildgestalter gehört; Lucia Puenzo, die nach diesem Debüt neben Lucrecia Martel wohl interessanteste junge argentinische Regisseurin; und natürlich Ines Efron, von der die Welt, ist zu hoffen, noch sehr viel zu sehen bekommen wird.

Rückkehr in die Normandie. Frankreich 2007 - Originaltitel: Retour en Normandie - Regie: Nicolas Philibert - Darsteller: (Mitwirkende) Nicolas Philibert, Nicole Picard, Jacqueline Miller, Norbert Delozier, Joseph Leportier, Stephane Rogue - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 113 min.

XXY. Argentinien / Frankreich / Spanien 2007 - Regie: Lucia Puenzo - Darsteller: Ricardo Darin, Ines Efron, Martin Piroyansky, German Palacios, Valeria Bertucelli, Carolina Pelleritti, Guillermo Angelelli, Cesar Troncoso - Länge: 91 min.