Im Kino

Wahre Magie

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg
15.06.2023. Das Berliner Kino Arsenal zeigt in der Reihe "Formen des Realen" die Filme der französischen Regisseurin Claire Simon, die Retrospektive - oder auch das Fest! - beginnt mit ihrem Dokumentarfilm über die Pariser Frauenklinik: Drei Stunden lang erkundet Simon den weiblichen Körper, sie ist bei Geburten, Abtreibungen und Geschlechtsumwandlungen dabei und nie fühlt man sich selbst oder die gezeigten Personen forciert.


Das große Geheimnis der Dokumentarfilme von Claire Simon besteht darin, wie sie sich und ihre Kamera zum Verschwinden bringen. Ist es ein Zaubertrick oder wahre Magie? Simon ist in den intimsten Momenten dabei, egal ob in einer Frauenklinik, bei Gesprächen unter Teenagern oder während des Überlebenskampfs in einem Kleinbetrieb. Nie scheinen sich ihre Protagonisten durch Simons Anwesenheit gestört oder gehemmt zu fühlen. Nie hört man die Bitte oder die Forderung, die Kamera auszustellen. Nur hin und wieder erhascht man einen flüchtigen Blick zur Seite oder ein verschämtes Lächeln, das die Präsenz der Filmemacherin ausweist.

Das Berliner Kino Arsenal zeigt in der Reihe "Formen des Realen" die Filme der französischen Regisseurin, die Retrospektive - oder auch das Fest! - beginnt mit Simons Dokumentarfilm über die Pariser Frauenklinik. Wer ihn im Frühjahr auf der Berlinale verpasst hat, sollte ihn sich jetzt unbedingt ansehen. Drei Stunden lang erkundet Simon den weiblichen Körper, sie filmt vertrauliche Patientinnengespräche, im Behandlungszimmer und im Operationssaal. Sie ist bei Geburten, Abtreibungen und Geschlechtsumwandlungen dabei und nie fühlt man sich selbst oder die gezeigten Personen forciert (mehr zum Film hier).


Die Fähigkeit, sich selbst vergessen zu machen, besaß Simon schon in einem ihrer ersten Filme "Coûte que coûte" von 1995. Darin verfolgt sie den Überlebenskampf eines kleinen Betriebs in Nizza, der frische Fertiggerichte für Supermärkte produziert und dem das Geld ausgegangen ist. Die Angestellten haben schon seit zwei Monaten kein Gehalt mehr gesehen, der Chef verhandelt mit Banken, Gläubigern und Supermärkten. Doch die Hoffnungen auf ein gütliches Ende lösen sich im Laufe des Films ebenso in Luft auf wie das zunächst noch gefasste Äußere des Patrons oder die Büroausstattung: Weil der Betrieb seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann, werden ihm Telefon und Fax weggenommen, die Sekretärin muss ihre Anrufe vom Bistro an der Ecke erledigen.

Auch in "Coûte que coûte" scheint sich niemand von der Kamera gestört zu fühlen. Aber ihre Präsenz zeigt sich doch: Sie formt das Reale. Vom ersten Moment an frappiert die freundliche Sachlichkeit, mit der die Angestellten ihre Forderungen gegenüber ihrem Chef vorbringen. Natürlich fühlen sie sich mit ihm im selben Boot, hängen an ihrer Arbeit und wollen nicht die letzte Chance verspielen. Aber mitunter erkennt man, dass sich hier schon Claire Simons menschenfreundlicher Geist über die Situation legt. Dass Simon die Realität formt, spürt man an dem Ton, den der Film anschlägt. Schnitt, Tempo und Musik erinnern eher an eine heitere Angestelltenkomödie als an eine Tragödie aus dem Inneren des Kapitalismus. Auch in einem Dokumentarfilm kommen die Erzählmuster aus dem Fiktionalen.


Sehr berührend ist ihr Film "Premières Solitudes", den sie zusammen mit Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Romain Roland in Ivry-sur-Seine realisiert hat, einem prekären Vorort von Paris. Der Film ist ein interventionistisches Projekt, initiiert von der Stadtverwaltung und dem Cinéma municipal de Luxy. Gegen die Sprachlosigkeit, die zwischen den Teenagern und ihren Eltern zu bestehen scheint, wie wir gleich zu Beginn erfahren, setzt der Film das Gespräch. Auch hier ist die Kamera immer dabei, wenn sich die jungen Menschen zu zweit über ihre Eltern und die erste Liebe unterhalten, über Einsamkeit und Ängste, Musik und Inspiration. Stromaes "Alors, on danse" gibt den Ton vor. Doch vor allem frappiert, dass alle über Sprache und Begriff verfügen, um sensibel über das Leben und die Liebe nachzudenken. Klug führen sie die Gespräche, sie scheinen zu wissen, dass ein Austausch das Sprechen ebenso wie das Zuhören erfordert (mehr zum Film hier).

Hin und wieder verlässt Simon den Bereich des rein Dokumentarischen. In ihrem Film "Vous ne désirez que moi" (Sie begehren nur mich), der bisher noch nicht in Deutschland zu sehen war, widmet sie sich dem Verhältnis zwischen der siebzigjährigen Marguerite Duras und dem fast vierzig Jahre jüngeren Yann Andréa. Es war die letzte große Liebe der Schriftstellerin, ebenso leidenschaftlich wie destruktiv und von einer Vielschichtigkeit, wie sie wahrscheinlich nur Franzosen wertschätzen können. Yann Andea sprach 1982, zwei Jahre nach Beginn dieser ungleichen Beziehung, mit der bekannten Journalistin Michèle Manceaux für die Zeitschrift Marie Claire, und die Regisseurin lässt dieses Gespräch von Swann Arlaud und Emmanuelle Devos nachspielen.

Für Yann Andréa war dieses Interview offenbar eine Form der Selbstbehauptung und eine Befreiung. Er berichtet von seiner Verehrung für Marguerite Duras und ihre Texte, die die Grenze zum Obsessiven von Anfang an überschritten hatte. Er lernt die Schriftstellerin bei einer Filmvorstellung persönlich kennen, die Leidenschaft überträgt sich von den Texten auf die Körper. Er zieht zu Duras nach Trouville und wird in einem sehr ungleichen Verhältnis ihr Sekretär und Liebhaber. Duras ist hart und dominant, negiert sogar die Realität seiner Homosexualität. Yann Andréas Hingabe grenzt an Selbstverleugnung.

Das gesprochene Wort bleibt im Wortlaut des lange unveröffentlichten Gesprächs, Arlaud und Devos halten in ihrem Spiel die feine Balance, ihrem jeweiligen Part Intensität zu verleihen, ohne jemals den Eindruck zu erwecken, sie versuchten, wirklich in eine Rolle zu schlüpfen. Doch als würde sie der Macht innerer Bilder nicht vertrauen, unterbricht Simon die Imagination, indem sie immer wieder erotische Zeichnungen einbaut. Sie machen die Fantasie der zuhörenden Journalistin explizit. So bekommt dieser interessante Versuch, ein archiviertes Interview lebendig zu machen, etwas Triviales, um nicht zu sagen Marieclairehaftes. Dabei entfaltet sich die Abgründigkeit dieser Verbindung ganz ohne solches Zutun vor dem inneren Auge des Zuschauers.


Raffiniert angelegt ist der Film "Le Concours", in dem Simon das Aufnahmeverfahren der berühmten Pariser Filmhochschule La Fémis dokumentiert, an der sie auch selbst unterrichtet. Über mehrere Tage ziehen sich die Prüfungen und Auswahlgespräche hin, die Bewerber müssen Filmsequenzen interpretieren, Dialoge schreiben und Szenen gestalten, über ihre Lieblingsfilme sprechen oder die Zukunft ausmalen. Die Prüfer diskutieren Talent, Persönlichkeit und künstlerische Vision. Die Kamera sitzt zwischen den Stühlen, doch im Lauf des Film scheint sich die Achse zu drehen. Zu Beginn folgt man dem Geschehen mit Blick auf die Bewerberinnen: Gelingt ihnen ihre Präsentation? Schaffen sie es, die Kommission zu beeindrucken? Und wenn ja, wodurch?

Aber auch wenn man versucht ist, sich selbst ein Urteil über die Kandidaten zu bilden, macht sich Simon den Kitzel des Wettbewerbs nicht zu eigen. Vielmehr verschiebt sie den Fokus hin zu den Prüfern: Welche Kriterien legen sie in ihrer Bewertung an? Wie voreingenommen sind sie? Wie offen in ihren Vorstellungen? Bringen sie selbst die Sensibilität, Scharfsinnigkeit und Fantasie auf, die sie von den künftigen Studierenden erwarten? Und wie steht es, schließlich, bei einem selbst?

Am Ende, bei den Auswahlgesprächen für den Regie-Lehrgang, geht es zur Sache: Der Typ ist durchgeknallt, sagen die einen, aber begabt, erwidern die anderen. Alle zusammen fragen sie sich: "Verhindern wir hier gerade einen neuen Cronenberg, nur weil er ein bisschen verrückt ist?" Das Auswahlverfahren wird in Claire Simons "Le Concours" zu einer Schule der künstlerischen und menschlichen Urteilskraft.

Thekla Dannenberg

Formen des Realen - Filme von Claire Simon. Im Arsenal Berlin vom 16. bis 30. Juni.
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