Intervention

Kaum mehr als Verachtung

Von Richard Herzinger
22.02.2024. Eine Zweistaatenlösung für den Nahostkonflikt ist auch deshalb illusionär, weil ein Palästinenserstaat nur unter der Vormundschaft arabischer Führungsmächte möglich wäre. Diese haben sich zwar teilweise Israel angenähert, aber das heißt keineswegs, dass sie eine prowestliche Agenda haben. Sie sind viel mehr mit ihren eigenen Träumen von Weltgeltung beschäftigt, die sie mit glamourösen Bauprojekten unterstreichen wollen. Politisch bleiben sie rückständig und unberechenbar.
Die USA und die EU wollen Israel darauf verpflichten, sich nach dem Ende des Gazakriegs intensiv um eine "Zweistaatenlösung" als Voraussetzung  für einen dauerhaften israelisch-palästinensischen Frieden zu bemühen.

Doch das ist eine völlig unrealistische Perspektive. Auf palästinensischer Seite existiert auch jenseits der Hamas keine politische Kraft, die zu einem friedlichen Nebeneinander mit dem jüdischen Staat willens und fähig wären. Ein  Palästinenserstaat könnte somit nur unter der Vormundschaft arabischer Führungsmächte wie Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Ägypten entstehen, die massiv in den Aufbau einer funktionsfähigen Wirtschaft und Verwaltung des palästinensischen Gemeinwesens investieren sowie dessen entmilitarisierten Status garantieren müssten.

Dass die VAE und Bahrein in den vergangenen Jahren bilaterale Friedensabkommen mit Israel geschlossen haben und Saudi-Arabien seinen Willen signalisierte, es ihnen bald nachzutun, hat im Westen die Hoffnung genährt, diese Staaten würden zu tragenden Säulen einer Friedenslösung für Palästina werden. Bei näherer Betrachtung  kommen jedoch erhebliche Zweifel an ihrer Bereitschaft und Kompetenz zur Übernahme einer solchen Verantwortung auf.

Denn zwar möchten die Saudis und andere Golfstaaten ihre Beziehungen zu Israel ungeachtet des Gazakrieges auch weiterhin "normalisieren" - doch nur zum eigenen Nutzen. So hat sich der saudische Machthaber Mohammed bin Salman (kurz "MbS" genannt) das ehrgeizige Ziel gesetzt, in seinem Land in kürzester Zeit eine von der Erdölproduktion unabhängige leistungsstarke Wirtschaft entstehen zu lassen. Dazu braucht er die Kooperation mit Israel, dessen Wirtschaftskraft die sämtlicher anderer Staaten im Nahen Osten bei weitem überragt.

Das heißt jedoch nicht, dass  die arabischen Mächte sicherheitspolitisch mit dem Westen an einem Strang ziehen würden. Spätestens seit dem schmählichen Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan und der Untätigkeit des Westens im Syrienkrieg, die es dem Iran - dem Erzfeind der sunnitischen arabische Regime -  ermöglichte, seine dortige Präsenz massiv auszuweiten, betrachten diese die USA nicht mehr als maßgebliche Ordnungsmacht im Mittleren Osten und orientieren sich stärker an Russland und China.

Darüber hinaus entwickeln nun nicht nur Saudi-Arabien und andere Golfstaaten, sondern auch Ägypten unter der autoritären Herrschaft des Feldmarschalls Sisi selbst Groß-, wenn nicht gar Weltmachtambitionen. Dazu setzen sie auf spektakuläre Megaprojekte, die ihre Weltgeltung unterstreichen sollen. Die mühselige und kurzfristig wenig ertragreiche Aufgabe, den Palästinensern zu einer geordneten Staatlichkeit zu verhelfen, passt nicht in dieses Profil - ganz abgesehen davon, dass demokratische Verhältnisse in einem von den arabischen Despotien kontrollierten Palästinenserstaat undenkbar wären.

Ohnehin hatten arabischen Machthaber für die Palästinenser von jeher kaum mehr als Verachtung übrig. Den palästinensischen Opfermythos befeuerten sie primär, um Israel zum Alleinschuldigen an allen Problemen des Nahen Ostens zu stempeln und so von ihrem Versagen bei der Entwicklung ihrer rückständigen Gesellschaften abzulenken. Doch im Zeichen ihrer "Modernisierungs"-Offensive hat die neue Despotengeneration das Interesse am Schicksal der Palästinenser gänzlich verloren. Weil in ihren Gesellschaften jedoch nach wie vor ein extremer Hass gegen Israel grassiert, sind die arabischen Führer weiterhin zu Lippenbekenntnissen für die palästinensische Sache gezwungen. In Wahrheit gilt sie ihnen aber nur noch als Ballast, der ihren glamourösen Aufstieg zu globalen Playern behindert.

Die damit verbundene Heuchelei zeigt sich etwa daran, dass Ägypten Israel bezichtigt, durch die Abriegelung Gazas eine humanitäre Katastrophe zu verursachen, selbst aber seine Grenze zu Gaza hermetisch geschlossen hält. Dabei besteht die "Modernisierung", der sich das ägyptische Regime ungestört widmen will, weitgehend aus Blendwerk. Tatsächlich vegetieren dreißig Prozent der Ägypter unter der Armutsgrenze. Doch statt der durch explodierende Lebensmittelpreise beschleunigten Verelendung seiner Bevölkerung entgegenzuwirken, leistet sich das Sisi-Regime megalomane Prestigeprojekte wie den Bau einer neuen, gigantischen Hauptstadt mitten in der Wüste. Dort entsteht eine Parallelwelt verschwenderischen Reichtums, die internationales Finanzkapital und reiche Touristen aus aller Welt anlocken soll.

Diese Scheinrealität soll die Wirklichkeit eines Landes am Rande des ökonomischen Kollaps und der autoritären Gleichschaltung durch das in Wirtschaft und Gesellschaft allgegenwärtige Militär unsichtbar machen. Sozialen Unruhen beugt das Regime durch massive Repression gegen jegliche oppositionelle Regung vor, die das Ausmaß der Verfolgungen unter der 2011 gestürzten Mubarak-Diktatur in den Schatten stellt. Nach dem Vorbild Chinas und Russlands sollen zugleich die privilegierten Eliten politisch stillgestellt werden, indem man ihnen im Gegenzug unbegrenzte materielle Bereicherung in Aussicht stellt.

Das ägyptische Regimes folgt damit dem Beispiel Saudi-Arabiens, wo MbS die Lockerung rigider religiöser Vorschriften, Zugeständnisse in Sachen Frauenrechte und eine vorsichtige Öffnung gegenüber der kulturellen Moderne mit der Entschlossenheit verbindet,  regimekritische Äußerungen im Keim zu ersticken. Sisi kommt dabei zugute, dass seine Machtübernahme 2013 Ägypten vor der Verwandlung in eine islamistische Theokratie unter Führung der  Muslimbruderschaft bewahrt hat. Dass diese mittels der vom Tahrir-Aufstand 2011 erzwungenen freien Wahlen an die Regierung gekommen war, nutzt die Regimepropaganda nun, um Demokratie schlechthin als Sicherheitsrisiko zu diskreditieren. Konsequenterweise richtet sich die Repression längst nicht mehr nur gegen die Islamisten, sondern verstärkt gegen Menschenrechtler und säkulare Demokraten.

Statt als zuverlässige Partner des Westens bei der Befriedung der Region erweisen sich die von Größenfantasien getriebenen "modernisierten" arabischen Despotien als zunehmend unberechenbar - und so als Quelle neuer Unsicherheit.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.