Intervention

Historische Berufung zur Willkürherrschaft

Von Richard Herzinger
05.02.2024. Vor hundert Jahren ist Wladimir Iljitsch Lenin gestorben. Der Leninismus aber hat seinen vermeintlichen historischen Tod überlebt. Das Geheimnis seines Erfolgs ist seine Anschlussfähigkeit zum Rechtsextremismus, ohne dabei bei radikalen Linken an Attraktivität einzubüßen. Seine rücksichtslose Gewaltideologie ist als unheimlicher Wiedergänger auf die Weltbühne zurückgekehrt.
Das ideologische Erbe Lenins, dessen Todestag sich im Januar zum hundertsten Mal jährte, wirkt auf unheilvolle Weise weiter. Die nach dem demokratischen Umsturz in Europa 1989/90 und der darauf folgenden Auflösung der Sowjetunion gehegte Erwartung, der Leninismus werde von nun an nur noch eine böse historische Erinnerung sein, hat sich als Illusion erwiesen.

Unter Xi Jinping ist in der VR China der "Marxismus-Leninismus" als allmächtige Staatsideologie massiv aufgewertet worden, und die Person Lenins erfährt dort wieder zunehmend kultische Verehrung. Damit knüpft Xi an die Frühphase des Regimes unter Mao Tse-Tung an - freilich mit erheblich größeren technologischen Möglichkeiten der Überwachung und Gleichschaltung sowie mit unvergleichlich stärkerer Wirtschaftskraft im Rücken als sie Mao zur Verfügung stand. Denn das chinesische Regime hat die Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystems erfolgreich zur Zementierung der kommunistischen Alleinherrschaft genutzt - und damit realisiert, was schon Lenin mit seiner 1921 eingeführten "Neuen Ökonomischen Politik" intendiert hatte.

Auch in Russland hat der Leninismus seinen vermeintlichen historischen Tod überlebt. Zwar folgt der Kreml keiner kommunistischen Heilslehre mehr, und Putins Machtapparat eifert eher dem Zarismus (und dem Stalinismus) nach als den ursprünglichen Visionen der Bolschewiki unter Lenin. Doch beruht das putinistische Herrschaftssystem auf der terroristischen Allmacht der - inzwischen mit der Mafia verschmolzenen - Geheimdienste, die aus der von Lenin geschaffenen Tscheka hervorgegangen sind. Putins Russland steht so in seinem Kern in der Kontinuität des Sowjetsystems. Von diesem übernommen hat es auch seine fundamentalistische Feindschaft gegen den westlichen Liberalismus, die zunehmend wahnhafte Züge annimmt.

Zur Destabilisierung der westlichen Demokratien bedient sich der Kreml heute ideologischer Hilfstruppen sowohl auf der radikalen Linken wie Rechten. In Deutschland haben dieses Geschäft bislang vornehmlich die rechtsextreme AfD und  die SED-Nachfolgepartei Die Linke betrieben. Hinzugekommen ist jetzt die neu gegründete Partei von Sahra Wagenknecht, die kremlhörige Kräfte über die ideologischen Lagergrenzen hinweg vereinen will.

Bei ihrer Öffnung nach rechts hilft der als dogmatische Marxistin-Leninistin bekannt gewordenen Wagenknecht, dass der Leninismus historisch keineswegs nur in der Linken Wurzeln geschlagen, sondern auch bei ihren scheinbaren Antipoden einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. So betrachteten etwa Benito Mussolini wie auch Joseph Goebbels in seiner Frühphase - bevor er Hitler bedingungslos als seinen Messias anerkannte - Lenin als Vorbild und Archetypen jener Art von Führer, den sie sich auch an der Spitze ihrer nationalistischen Erweckungsbewegung wünschten.

Im deutschen Rechtsextremismus der Weimarer Republik bildete sich eine als "konservative Revolution" bezeichnete Strömung heraus, die für das Zusammengehen Deutschlands mit der Sowjetunion gegen den verhassten Westen optierte. Sie deutete die russische Oktoberrevolution als eine "völkische" Erhebung gegen die "dekadente" westlichen Zivilisation. Unter der Oberfläche der kommunistischen Ideologie breche sich in Russland ein ursprünglicher, von westlichem Individualismus und Materialismus unverbildeter "Volksgeist" Bahn.

In der Gegenwart hat sich der Vordenker der amerikanischen extremen Rechten und ideologische Einflüsterer Donald Trumps, Steve Bannon, als einen "Leninisten" bezeichnet. Damit meinte er, dass er das US-Regierungssystem nicht transformativ verändern, sondern - unter der Regie einer kleinen, entschlossenen ideologischen Avantgarde - vollständig zerschlagen wolle. Bannon stellt sich damit in der Tradition von "konservativen Revolutionären" wie Hans Freyer, der in seinem 1931 erschienenen Pamphlet "Revolution von Rechts" den nationalrevolutionären Umsturz als Überbietung der von Marx prophezeiten proletarischen Revolution beschrieben hat. Diese, so Freyer, setze nur die Ansprüche einer Klasse durch und sei daher nicht radikal genug. Erst die nationalistische Umwälzung mit ihrem Ziel einer "organischen Volksgemeinschaft" sei wirklich frei von Partikularinteressen. Nur sie könne daher den fundamentalen Bruch mit der bürgerlich-liberalen Epoche herbeiführen.

Der Kern der "völkischen" Lenin-Rezeption bestand darin, dessen unbedingten Willen zur Macht von der an "objektive  Gesetzmäßigkeiten" gebundenen marxistischen Geschichtstheorie abzulösen. Und tatsächlich war Lenin an einem entscheidenden Punkt von der Marxschen Lehre abgewichen. Dieser hatte die volle Entwicklung der Produktivkräfte des Kapitalismus als Voraussetzung für eine proletarische Revolution und den erfolgreichen Aufbau des Sozialismus betrachtet. Lenin aber wollte damit nicht so lange warten. Daher drehte er die Reihenfolge der Marxschen Zukunftsvision um: zuerst müsse die "proletarische Diktatur" errichtet und dann die für den Sozialismus notwendige Entwicklung der Produktivkräfte vorangetrieben werden. Der vom Kapitalismus bewirkte ökonomische Fortschritt, der an Russland weitgehend vorbeigegangen war, sollte unter der bereits aufgerichteten kommunistischen Herrschaft nachgeholt werden.

Aus dieser vermeintlichen historischen Berufung zu ihrer Willkürherrschaft leiteten die Leninisten ihr oberstes Gebot ab: die einmal errungene absolute Macht unter keinen Umständen mehr aus den Händen zu geben. Als Essenz des Leninismus hat sich so die Verabsolutierung der auf maßloser Gewalt gegründeten Macht und die grenzenlose Selbstermächtigung der sie sichernden Repressionsapparate erwiesen. Diese Apparate sind getreu der leninistischen Lehre an kein über dem Willen der Führung stehendes Gesetz und an keinerlei moralische Beschränkung gebunden.

In Form dieser rücksichtslosen Gewaltideologie ist der Leninismus als unheimlicher Wiedergänger auf die Weltbühne zurückgekehrt - reduziert um die Utopie einer klassenlosen kommunistischen Idealgesellschaft und fusioniert mit den ideologischen Ausläufern des Faschismus, der ebenfalls vor gut einem Jahrhundert über die Menschheit hereinbrach.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.