Intervention

Etappe auf dem Weg zur Eroberung

Von Richard Herzinger
28.02.2023. Friedensabkommen mit totalitären Regimes sind in der Regel nichts wert. Ein Beispiel ist der Vertrag, den die USA mit den Herrschern von Nordvietnam abschlossen: Er hatte desaströse Folgen und kostete Hunderttausende Vietnamesen das Leben. Jüngstes Beispiel ist der "Frieden" mit den Taliban. Darum sollten Demokratien aus eine Position der Stärke agieren.
Im Westen werden die Stimmen lauter, die auf baldige Verhandlungen des Westens mit Russland zur Beendigung seines Angriffskriegs gegen die Ukraine drängen. Neuerdings erhalten sie Rückenwind durch einen "Friedensplan" Chinas, der in Wahrheit nur die Komplizenschaft des totalitären Regimes in Peking mit dem russischen Aggressor verschleiern soll.

Doch mit autoritären und totalitären Mächten, die sämtliche Normen des internationalen Rechts negieren und keinerlei Respekt vor der Menschenwürde kennen, ist für Demokratien ein dauerhaft tragfähiger "Kompromiss" oder "Interessensausgleich" nicht möglich. Sofern sie mit ihnen temporäre Abkommen treffen, darf dies nur aus einer Position der Stärke heraus geschehen - und unter Bewahrung der Fähigkeit, adäquat zu reagieren, wenn die andere Seite die Vereinbarung bricht.

Ein paradigmatisches Beispiel dafür, welche Folgen es hat, wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, ist das vermeintliche Friedensabkommen, das die USA vor fünfzig Jahren, Ende Januar 1973, mit dem kommunistischen Nordvietnam schlossen. Es sah den Abzug der US-Truppen aus Südvietnam innerhalb von sechs Wochen vor. Zurück blieben nur einige Tausende US-Militärberater für die südvietnamesische Armee. Nordvietnam aber wurde zugestanden, 140.000 Soldaten auf dem von ihm erobertem Territorium im Süden des Landes zu belassen. Auf dieser Grundlage sollten die Kriegshandlungen beendet und die "Wiederherstellung des Friedens" gewährleistet werden.

Davon konnte jedoch keine Rede sein. Denn das kommunistische Regime in Hanoi hatte niemals die Absicht, seine im "Vertrag von Paris" eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten. Es betrachtete ihn vielmehr lediglich als eine Etappe auf dem Weg zur Eroberung des gesamten Südens. Ohne die Unterstützung durch US-Truppen hatte die südvietnamesische Armee gegen die Übermacht der von der Sowjetunion und der Volksrepublik China hochgerüsteten Truppen Nordvietnams keine Chance. Allein bis Ende 1974 verloren über 76.000 südvietnamesische Soldaten in dem unvermindert fortgesetzten Krieg ihr Leben. Durch die ausbleibende US-Finanzhilfen stürzte Südvietnam zudem in eine schwere Wirtschaftskrise.

Ende April 1975 hatten die nordvietnamesischen Kommunisten ihr Ziel erreicht. Mit der Einnahme der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon, heute Ho Chi Minh-Stadt genannt, ergriffen sie die Macht im ganzen Land und errichteten ihr totalitäres Regime. Die Folge war die Flucht von mehr als 1,6 Millionen Vietnamesen, den "Boat People", die dem massiven kommunistischen Terror in Booten über das Meer zu entkommen versuchten. Schätzungsweise 200.000 Südvietnamesen waren unmittelbar nach der Machtübernahme durch das nordvietnamesische Regime hingerichtet worden, etwa 165.000 willkürlich oder für ihre Tätigkeit für US-Einrichtungen inhaftierte Menschen starben in "Umerziehungslagern", wobei Tausende von ihren Wärtern zu Tode gefoltert oder vergewaltigt wurden, ungefähr 50.000 starben in Folge von Zwangsarbeit.

Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu makaber, dass die Chefunterhändler der USA und Nordvietnams, Henry Kissinger und Le Duc Tho, für den Abschluss des Pariser Vertrags den Friedensnobelpreis des Jahres 1973 erhalten hatten (den allerdings nur Kissinger annahm). Angesichts der desaströsen Auswirkung dieses Abkommens stellt sich generell die Frage, woher eigentlich Kissingers bis heute anhaltender Ruhm als vermeintlicher Meisterdiplomat rührt. Der "Vertrag von Paris" jedenfalls war weit davon entfernt, ein leuchtendes Beispiel für kluge demokratische Außenpolitik zu sein. Vielmehr stellte er im Endeffekt nichts anderes dar als eine verklausulierte Kapitulationserklärung der Vereinigten Staaten.  

Gewiss sind die Umstände, unter denen dieser Vertrag zustande kam, mit der aktuellen Situation etwa in der Ukraine kaum vergleichbar. Die USA verließen Vietnam, nachdem sie dort über viele Jahre hinweg erfolglos einen verlustreichen Krieg geführt hatten. Und sie verteidigten in Südvietnam keine Demokratie, sondern eine brutale und korrupte Diktatur. Dennoch waren die Voraussetzungen für eine positive Entwicklung Vietnams im Süden des Landes weitaus günstiger als im totalitär gleichgeschalteten Norden.

Die Beispiele Südkorea und Taiwan zeigen, wie sich repressive Systeme längerfristig und auf evolutionärem Weg in Demokratien verwandeln können, wenn sich in ihnen eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt. Eine totalitäre Herrschaft jedoch löscht solche zivilgesellschaftlichen Ansätze vollständig aus und zerstört das Zukunftspotenzial einer ihr unterworfenen Nation über Generationen hinweg. Am Iran etwa zeigt sich, wie fatal es ist, wenn eine "konventionelle" Diktatur durch eine noch schlimmere, die zivilisatorischen Grundlagen einer Gesellschaft radikal negierende Tyrannei ersetzt wird. Zu verhindern, dass sich solche totalitäre Gewaltregime etablieren können, muss daher das oberste Gebot demokratischer Globalpolitik sein.

Die Tragödie Vietnams wiederholte sich jedoch auf ähnliche Weise jüngst in Afghanistan. Das Abkommen, das die US-Regierung unter Präsident Donald Trump Anfang 2021 mit den Taliban schloss, erwies sich als nicht das Papier wert, auf dem es festgehalten wurde. Die vietnamesischen Kommunisten hatten ihre Unterschrift nur deshalb unter das Abkommen von 1973 gesetzt, weil es ihnen mit den US-Truppen das entscheidende Hindernis für ihre Machtergreifung aus dem Weg räumte. Mit demselben Kalkül unterzeichneten  die totalitären afghanischen Islamisten die Vereinbarung von 2021. Das Grauen, das damit über Afghanistan kam, muss den westlichen Demokratien eine ultimative Mahnung sein, derartiges nie und nirgendwo ein weiteres Mal  zuzulassen - schon gar nicht mitten in Europa.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.