Intervention

Was sich als "Pazifismus" ausgibt

Von Richard Herzinger
17.02.2023. Die breite Zustimmung für den Schwarzer-Wagenknecht-Aufruf zum Kompromiss mit einem Mörder wirft vor allem eine Frage auf: Warum wird eine derartig dreiste Verfälschung der Realität des Kriegs und eine derart kaltschnäuzige Ignoranz gegenüber den Opfern eines Vernichtungskriegs in weiten Teilen des "progressiven" Establishments als Ausdruck ehrbarer Friedensliebe angesehen?
In einem von Alice Schwarzer, der Veteranin des deutschen Feminismus, und der stramm kremlhörigen Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht formulierten "Offenen Brief" (alle Links hier) haben sich zahlreiche deutschen Intellektuelle, Akademiker, Künstler und Politiker gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für sofortige Friedensverhandlungen mit Russland ausgesprochen.

Die Liste der 69 Erstunterzeichner vereint Stimmen quer durch die politischen Lager von weit rechts bis weit links. Die rechtsextreme Kreml-Filiale AfD, die sich neuerdings als "Friedenspartei" - im Sinne eines "Friedens" nach der Vorstellung des Aggressors Putin - zu profilieren versucht, erklärte sogleich ihre enthusiastische Zustimmung zu dem Aufruf. Etliche der Initiatoren sind seit Jahren als eifrige Apologeten der russischen Aggressionspolitik bekannt, darunter Wagenknecht und Schwarzer selbst.

Schwarzer agitiert bereits seit der Krim-Annexion 2014 gegen eine deutsche Parteinahme für die Ukraine und hat wiederholt um Verständnis für Wladimir Putin geworben, der durch die westliche Politik gegenüber Russland gedemütigt worden sei. Warum sich ausgerechnet die Pionierin der westdeutschen feministischen Bewegung einem Autokraten und Massenmörder, der zudem für einen extrem frauenverachtenden maskulinen Gewaltkult steht, unterwürfig an den Hals wirft, ist ein sozio-psychologisches Phänomen, das noch näherer Erforschung bedarf.

Dass aber auch Prominente wie die Schauspielerinnen Katharina Thalbach und Hanna Schygulla, die bisher noch nicht mit prorussischen Sympathien in Erscheinung getreten waren, den Appell unterschrieben haben, zeigt, dass seine Tendenz die Stimmungslage in einem nicht unerheblichen Segment der deutschen Gesellschaft widerspiegelt.

Und das, obwohl der Text des "Offenen Briefs" exakt den aktuellen Vorgaben der Kreml-Propaganda entspricht. Er folgt dabei zwei Hauptschwerpunkten der russischen Desinformationsoperationen, die auf die Unterminierung der westlichen Abwehrbereitschaft gegen den putinistischen Vernichtungskrieg zielen. Zum einen sollen die Ukraine und die westlichen Demokratien dafür gebrandmarkt werden, den Krieg unnötig zu verlängern, weil sie sich Verhandlungen mit der russischen Seite verweigerten. Zum anderen soll die in der deutschen Gesellschaft weit verbreitete Angst vor einem Atomschlag geschürt werden, mit dem Putin zu drohen pflegt, um den Westen einzuschüchtern.

Verhandeln bedeute, "Kompromisse machen, auf beiden Seiten", heißt es ganz im Sinne dieser russischen Propagandaziele in dem Aufruf. Dabei gehe es darum, "weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern." Es sei nämlich zu befürchten, "dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag" ausholen werde und "wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg" gerieten. Einmal mehr wird im Text auch die historisch unhaltbare These aufgestellt, niemand könne gegen eine Atommacht einen Krieg gewinnen.

Wie alle aktuellen Plädoyers für schnelle "Verhandlungen" mit Moskau unterschlägt der "Offene Brief" die völkermörderische Intention und Praxis des russischen Angriffskriegs. Aus ihr aber ergibt sich, dass die Einwilligung in jeglichen "Kompromiss", der Moskau die Kontrolle über von ihm besetzte ukrainische Gebiete belassen würde, einer Beihilfe zum Genozid gleich käme. Doch die horrenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Russland im Zuge seines offen proklamierten Vernichtungsplans gegen die ukrainische Nation begeht, werden in dem Aufruf nicht einmal erwähnt.

Verschwiegen wird in dem Text ebenso, dass das Putin-Regime Verhandlungen ohne vorherige Unterwerfung der Ukraine kategorisch ausschließt. Die Klage über die "Hunderttausenden Toten", die der Krieg kostet, differenziert nicht zwischen den von den russischen Invasoren massakrierten ukrainischen Zivilisten sowie den bei der Verteidigung ihres Landes gefallenen ukrainischen Soldaten einerseits und den Verlusten, die der Aggressor hinnehmen muss, andererseits. Täter und Opfer werden so auf eine Stufe gestellt.

Doch warum wird eine derartig dreiste Verfälschung der Realität des Kriegs und eine derart kaltschnäuzige Ignoranz gegenüber den Opfern eines Vernichtungskriegs in weiten Teilen des "progressiven" Establishments als Ausdruck ehrbarer Friedensliebe angesehen? Immerhin gehört es doch zum Credo der deutschen intellektuellen Elite, sie habe aus der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs die richtigen Lehren gezogen.

Diese Lehren kulminierten in ihrer Maxime: "Nie wieder Krieg". Doch in Wahrheit war damit gemeint, dass die Deutschen nie wieder vom Krieg behelligt werden sollten. Aus Kriegen, von denen andere Völker betroffen waren, sollte sich das "antimilitaristisch" geläuterte Deutschland daher heraushalten - auch wenn diese Kriege mit genozidalen Akten verbunden waren.

So stellten sich führende deutsche Intellektuelle wie Jürgen Habermas und Günter Grass im Balkankrieg seit 1992 vehement gegen jegliche westliche Intervention zum Schutz der von dem serbischen Völkermord bedrohten Bosnier. Die Argumente der damaligen Interventionsgegner waren mit denen der heutigen Widersacher einer militärischen Unterstützung der Ukraine weitgehend identisch. Bestand ihre Hauptsorge doch darin, eine "einseitige" Parteinahme des Westens könnte zu einer "Eskalation" des Konflikts führen. Die Furcht davor, dass etwas so Archaisches wie der Krieg auch in die eigene Oase zivilisierter Friedfertigkeit eindringen könnte, stand über der Empathie gegenüber den Opfern einer völkermörderischen Aggression.

Damit wurde deutlich: Was sich in Deutschland gerne als "Pazifismus" ausgibt und von vielen fälschlicherweise dafür gehalten wird, ist in Wahrheit ein nationalegoistischer Neutralismus und Abstentionismus, der sich mit einem hohen universalistischen Moralanspruch tarnt. So ist es folgerichtig, dass sich jene, die an dieser vermeintlich progressiven Einstellung festhalten, heute in einer Front mit rechtsnationalistischen Anhängern des putinistischen Autoritarismus wiederfinden.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Der Link zur Originalkolumne folgt.