Intervention

Aber irgendwie doch

Von Matthias Küntzel
30.03.2021. Den AutorInnen der "Jerusalem Declaration on Antisemitism" geht es nicht um eine Präzisierung der Antisemitismus-Definition der IHRA, sondern um die Freisprechung vom Antisemitismusverdacht, sofern es um Äußerungen oder Aktionen gegen Israel geht. Sie wollen einen Freibrief für israelbezogenen Antisemitismus.
Am 26. März 2021 veröffentlichten 200 Wissenschaftler aus Europa, den USA und Israel eine "Jerusalem Declaration on Antisemitism" (JDA), die aus einer Präambel, einer Definition und 15 Leitlinien besteht. Zu den deutschen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern gehören Wolfgang Benz, Werner Bergmann, Peter Ullrich, Uffa Jensen und Stefanie Schüler-Springorum vom Berliner "Zentrum für Antisemitismusforschung", Ulrike Freitag und Sonja Hegasy vom "Zentrum Moderner Orient", Cilly Kugelman und Peter Schäfer vom Berliner "Jüdischen Museum" sowie Aleida Assmann, Micha Brumlik, Klaus Holz, Gudrun Krämer, Hanno Loewy und andere mehr.

Nun gibt es bereits seit 2016 eine Antisemitismus-Definition der "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA), die 2017 neben zahllosen anderen Körperschaften auch der Deutsche Bundestag zu seiner Richtlinie erhob. Was also hat die oben genannten Akteure angetrieben, ein zweites Dokument zu erstellen? Diese Frage beantwortet Micha Brumlik, einer der Unterzeichner, bei Dlf Kultur so: "Jetzt ist klarer, dass BDS, also eine Organisation, die vom Deutschen Bundestag im Mai 2019 pauschal für antisemitisch erklärt wurde, dieses nicht ist."

BDS bedeutet "Boycott, Divestment and Sanctions". In der Tat hatte der Bundestag die BDS-Bewegung, die zu einem umfassenden Boykott Israels und aller Israelis aufruft, als "antisemitisch" verurteilt und dafür gute Gründe angeführt. "'Don't Buy'-Aufkleber der BDS-Bewegung auf israelischen Produkten wecken unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole 'Kauft nicht bei Juden!'", heißt es in der Bundestagserklärung, die auch die "Brandmarkung israelischer Staatsbürger" sowie die Infragestellung des Existenzrechts Israels durch die BDS-Bewegung scharf kritisiert.

Diese Abfuhr hat besonders die zahlreichen BDS-Anhänger an den Universitäten der USA und Großbritanniens empört, wo - anders als in Deutschland - die jeweils radikalste Version des Antizionismus zum angesagten Ton gehört. Sie forderten in mehreren internationalen Kampagnen den Bundestag auf, den BDS-Beschluss zu revidieren.

Die neue Jerusalem-Erklärung leitet einen neuen Abschnitt dieser Kampagnen-Serie ein. Auch sie distanziert sich mit ihrer Behauptung, dass Boykott-Kampagnen "im Falle Israels … nicht per se antisemitisch" seien, von der Entschließung des Bundestags.

Doch was ist mit der Formel "nicht per se antisemitisch" eigentlich gemeint? Gibt es einen Unterschied zwischen "per se antisemitisch" und "nicht per se antisemitisch - aber irgendwie doch"? Und worin soll der bestehen? All diese Fragen lässt die JDA-Erklärung bedauerlicherweise offen, obwohl der Kosher-Stempel "nicht per se antisemitisch" in der Erklärung nicht nur einmal, sondern insgesamt neun Mal (!) gesetzt wird. Dies zeigt, dass die JDA nicht nur die BDS-Kampagne, sondern auch alle möglichen anderen antiisraelische Aktivitäten - pauschale Israelkritik, radikalen Anti-Zionismus, Apartheid-Vorwürfe etc. - vom Verdacht des Antisemitismus freizusprechen sucht.

"So könnte hinter der Feindseligkeit gegenüber Israel" auch "eine Emotion" stecken, heißt es bereits in der Präambel der JDA, "die eine palästinensische Person aufgrund ihrer Erfahrungen durch Handlungen seitens der staatlichen Institutionen Israels empfindet". Dabei könne es durchaus auch mal zu "unvernünftigen" Äußerungen kommen, doch auch die seien vom Antisemitismus zu unterscheiden.

Zwar betont bereits die IHRA-Erklärung, dass "Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden (kann)." Den JDA-Unterzeichnern reicht diese Klarstellung aber nicht aus. Denn die IHRA-Definition, so ihre Beschwerde, "delegitimiert … die Stimmen von Palästinenser:innen und anderen, einschließlich Jüd:innen, die sehr kritische Ansichten über Israel und den Zionismus haben." Delegitimieren bedeutet, einer Sache die Berechtigung absprechen. Man dürfe diesen "sehr kritischen" Stimmen ihre Berechtigung nicht absprechen, finden die Verfechter der JDA.

Damit ist die Essenz der Jerusalem-Erklärung benannt. Deren AutorInnen geht es nicht um eine Präzisierung der Antisemitismus-Definition der IHRA, sondern um die Freisprechung vom Antisemitismusverdacht, sofern es um Äußerungen oder Aktionen gegen Israel geht. Sie wollen einen Freibrief für israelbezogenen Antisemitismus. Sie interessieren sich nicht für die Erkenntnisse, die in den letzten Jahrzehnten bei dessen Erforschung gemacht wurden, sondern wollen auf den Status quo ante zurück.

Auch deshalb führen Meldungen wie die, dass die Jerusalem-Erklärung "von 200 internationalen Holocaustforschern" und zwar "den renommiertesten" verfasst worden sei, in die Irre. Abgesehen von Michael Wildt hat kein einziger der renommierten Holocaustforscher die Erklärung unterschrieben - weder Yehuda Bauer, noch Peter Longerich, weder Saul Friedländer noch Christopher R. Browning, weder Ulrich Herbert noch Deborah Lipstadt. Von diversen Instituten, die den Antisemitismus weltweit untersuchen, sind nur zwei - das Berliner Zentrum und das Birbeck-Institut aus London - vertreten. Es ist weniger der spezifische Sachverstand, der die diversen Unterzeichner dieser Erklärung zusammenbringt, als vielmehr der politische Wille, den Israelhass vom Stigma des Antisemitismus zu befreien.

Deren Behauptung, mit der JDA "keine politische Parteinahme" zu verfolgen, ist lächerlich und die Floskel, wonach die JDA "klar die fachliche Autorität wissenschaftlicher Expert:innen aus den relevanten Feldern wider(spiegelt)", peinlich.

Ihre Parteinahme erkennt man bereits an Formulierungen, die an Parolen aus den Uni-Hörsälen der Siebzigerjahre erinnern. Wenn in der JDA zum Beispiel gleich fünf Mal von "Israel und Palästina" die Rede ist, für die das gelte, was "auch für andere Staaten" gilt, dann ist dies ein politisches Statement par excellence. Denn es gibt - mit der Ausnahme Schwedens - kein westliches Land, das in den letzten Jahren einen "Staat Palästina" anerkannt hat - man unterhält stattdessen mit Vertretern der Palästinensischen Autonomiebehörde diplomatische Beziehungen. Doch wann immer sich die JDA mit dem Nahostkonflikt befasst, dominiert unterschwellig die Palästina-Solidarität.

So wird die palästinensische Seite mit "Forderungen nach Gerechtigkeit und der vollen Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und menschlichen Rechte" in Verbindung gebracht; über die Wirklichkeit der Antinormalisierungs-Kampagnen und der Vernichtungsdrohungen gegen Israel wird hinweggesehen. Demgegenüber sind sämtliche Hinweise auf Israel negativ konnotiert: Der Zionismus sei "eine Form von Nationalismus", Israels "Verhalten im Westjordanland und im Gazastreifen" kritikwürdig und die Beschwerde über eine "systematische rassistische Diskriminierung" berechtigt.

Es ist nicht gerade überraschend, dass sich die alte und neue Führung des Berliner "Zentrums für Antisemitismusforschung" hier besonders engagiert. Zwar haben der Bundestag und das Europäische Parlament die Antisemitismus-Definition der International Remembrance Alliance seit vier Jahren anerkannt. Das öffentlich finanzierte Zentrum hat seinen Schwerpunkt jedoch anders gesetzt: Es will die IHRA-Erklärung nicht umsetzen, sondern entwerten und zeigt sich besonders engagiert, wenn es darum geht, den Vorwurf des Antisemitismus bekämpfen. Eine Schließung dieses Zentrums würde dem Kampf gegen Antisemitismus schwerlich schaden.

Matthias Küntzel