Intervention

Wider eine abstrakte Unheilsgeschichte

Von Richard Herzinger
06.08.2020. An dem grundsätzlichen moralischen Unterschied zwischen Auschwitz und Hiroshima festzuhalten, dient nicht der Einteilung der verschiedenen Opfer, sondern der verschiedenen Täter und ihrer Absichten. Wer sich dieser Mühe nicht unterzieht, ebnet der Nivellierung der Verbrechen den Weg.
Heute jährt sich zum 75. Mal der Atombombenabwurf auf Hiroshima. Das Datum erinnert nicht nur an die über 200.000 zivilen Opfer dieses ersten nuklearen Angriffs der Geschichte, es dient auch zur Mahnung an die ungeheure Gefahr, die der gesamten Menschheit im Zeitalter der atomaren Bewaffnung droht.

Doch immer wieder wird die Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki, das einige Tage später Ziel der zweiten US-Atombombenexplosion wurde, auch für unzulässige Gleichsetzungen benutzt. So werden nicht selten Auschwitz und Hiroshima in einem Atemzug als Inbegriffe der äußersten Unmenschlichkeit im 20. Jahrhundert und als Synonyme für die entfesselte Vernichtungskraft der modernen technologischen Zivilisation genannt. Amerikagegner von Rechts und Links wollen damit entweder die Schuld des nationalsozialistischen Deutschland relativieren oder die USA in die Kontinuität des NS-Systems stellen.

Bereits 1964 hat sich die Philosophin Hannah Arendt gegen eine solche Gleichsetzung des NS-Judenmords mit dem - damals so genannten - atomaren "Megatod" gewandt. In der Auseinandersetzung mit dem deutschen Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der den Nuklearkrieg als eine qualitativ und quantitativ erweiterte Fortsetzung der nationalsozialistischen "Endlösung der Judenfrage" definiert hatte, bestand Arendt auf der deutlichen politischen und moralischen Unterscheidung zwischen diesen beiden Massentötungen. Andernfalls werde die konkrete Schuld an konkreten Verbrechen im Allgemeinen einer abstrakten Unheilsgeschichte der Moderne aufgelöst, aus der die jeweilige Intention der Täter ausgeblendet ist.

Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki mögen zwar schwere Kriegsverbrechen gewesen sein - ähnlich, wenn auch in ihrer Dimension erheblich gesteigert, wie die systematische Bombardierung der deutschen Städte, die nicht im engeren Sinne militärischen Zwecken, sondern primär der Demoralisierung der deutschen Zivilbevölkerung diente. Die juristische Bewertung ist dem damaligen Stand des internationalen Rechts gemäß allerdings nicht eindeutig.

Dennoch standen diese Bombardierungen in einem eindeutigen Zusammenhang mit der Kriegsführung der Alliierten und waren somit Teil von Kriegshandlungen. Zu keinem Zeitpunkt hatten die Alliierten dabei die Absicht, das deutsche oder das japanische Volk auszurotten. Ihnen ging es vielmehr darum, die feindlichen Nationen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zum Aufgeben zu zwingen. Mit dem Einsatz der Atombombe wollten sich die USA eine Invasion des japanischen Festlands ersparen, bei der sie mit Verlustzahlen von bis zu einer Million ihrer Soldaten rechneten.

Diese Begründung, die von heute aus gesehen ethisch fragwürdig erscheint, wird von einigen Historikern jedoch in Zweifel gezogen. Der Abwurf der Atombombe sei vielmehr im Wissen der US-Regierung darum beschlossen worden, dass Japan bereits zur bedingungslosen Kapitulation bereit war. Washington habe die japanischen Städte als Testobjekte für die Wirksamkeit ihrer neuen Waffe benutzt und seinem Verbündeten und künftigen Rivalen, der Sowjetunion, damit seine Überlegenheit demonstrieren wollen.

Doch selbst wenn diese zweifelhafte These zuträfe und der nukleare Angriff somit nichts mehr mit der unmittelbaren Kriegsentscheidung zu tun gehabt hätte, sondern bereits auf politische Vorteile im Hinblick auf eine Nachkriegsordnung zielte - der nukleare Schlag hätte dann noch immer in der Logik der Durchsetzung bestimmter Kriegsziele und somit in Verbindung mit den Kriegshandlungen des Zweiten Weltkriegs gestanden.

Ganz anders verhält es sich mit der von Hitlerdeutschland betriebenen Judenvernichtung. Der Beschluss, die "jüdische Rasse" restlos - und das heißt: bis zum letzten Säugling - auszurotten, galt unabhängig von den deutschen Kriegszielen. Das NS-Regime setzte sein Mordprogramm auch dann noch unter Hochdruck fort, als ihm selbst klar wurde, dass der Krieg kaum noch zu gewinnen war. Es nahm sogar in Kauf, dass dafür Ressourcen in Anspruch genommen wurden, die eigentlich der Front hätten zugute kommen sollen. Hitlers letzte Botschaft an das deutsche Volk, die er vor seinem Selbstmord in seinem Testament festhielt, bestand in dem Aufruf, auf keinen Fall im Kampf gegen das "internationale Judentum" nachzulassen.

Die USA nahmen in Hiroshima und Nagasaki den Tod unzähliger unschuldiger Menschen in Kauf, um den Krieg schneller siegreich  beenden zu können. Dagegen war die systematische  Judenvernichtung für das NS-Regime kein Mittel zu einem anderen Zweck. Die Juden wurden von ihm nicht vernichtet, um den Krieg zu gewinnen - eher schon lässt sich andersherum sagen: Der Krieg sollte gewonnen werden, um alle Juden in Europa (und potenziell in der ganzen Welt) ergreifen und ermorden zu können. Das macht die beispiellose Dimension des nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen aus.

Aber ist es angesichts des Leids der Opfer nicht zynisch und pedantisch, zwischen dem Tod in Auschwitz und dem in Hiroshima differenzieren zu wollen? Zweifellos verliert im Angesicht des Schicksals der Opfer jede Theorie ihr Recht. Aber es wäre fatal, aus der Gleichheit des Leids der Opfer auf die Gleichheit der Ursachen dieses Leids zu schließen. An dem grundsätzlichen moralischen Unterschied zwischen Auschwitz und Hiroshima festzuhalten, dient nicht der Einteilung der verschiedenen Opfer, sondern der verschiedenen Täter und ihrer Absichten. Wer sich dieser Mühe nicht unterzieht, ebnet der Nivellierung der Verbrechen den Weg und trägt dazu bei, den Blick auf die wirklich schlimmsten Untaten der Geschichte zu verschleiern.

In der moralphilosophischen Diskussion über Hiroshima spielen demgemäß die exorbitanten Gräuel kaum eine Rolle, die der japanische Militarismus bei seinem Versuch verübt hat, sich zum Herrscher über den ostasiatischen Raum aufzuschwingen und seine Nachbarvölker - vor allem das chinesische und das koreanische - zu versklaven. Er beging sie übrigens unter dem propagandistischen Vorwand, ganz Asien vom Joch des angelsächsischen "Imperialismus" befreien zu wollen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. Hier der Link zur Originalkolumne. D.Red.