Intervention

Vom Überleben der Demokratien

Von Richard Herzinger
24.07.2020. Der katastrophale EU-Gipfel hat gezeigt: In ihrem jetzigen Zustand droht die EU weiter in die Dysfunktionalität abzugleiten. Es muss deshalb ein ernsthaftes Nachdenken darüber beginnen, was im Falle ihres finalen Scheiterns an ihre Stelle treten könnte.
Zu den seit einigen Jahren am weitesten verbreiteten Illusionen zählt die Erwartung, die EU werde als Reaktion auf das Abrücken der USA von der transatlantischen Gemeinsamkeit und den Austritt Großbritanniens enger zusammenrücken und zu größerer gemeinsamer Handlungsfähigkeit finden. Der qualvolle Verlauf des jüngsten EU-Sondergipfels hat  drastisch deutlich gemacht, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Paralyse, wenn nicht das Auseinanderbrechen der EU ist dadurch ein großes Stück näher gerückt.

Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass sich die Gipfelteilnehmer am Ende doch noch ein mühseliges Kompromissergebnis abringen konnten. Zu Recht ist es vom Europäischen Parlament inzwischen als unzureichend abgelehnt und damit fürs Erste gestoppt worden. Was freilich die Zerreißprobe für die EU weiter verschärft: Schwer vorstellbar, dass die ineinander verhakten Regierungen nun doch noch, wie vom EU-Parlament verlangt, ein zukunftsfähigeres Finanzpaket aus dem Hut zaubern werden. Da einem solchen auch noch alle nationalen Parlamente zustimmen müssen, kann mit seinem eventuellen Inkrafttreten ohnehin nicht vor Anfang kommenden Jahres gerechnet werden.

Nicht einmal angesichts der bedrohlichen wirtschaftlichen Lage, in die einzelnen europäische Staaten durch die Corona-Pandemie geraten sind, konnten sich die EU-Regierungen also zu einem entschiedenen, geschlossenen Vorgehen aufschwingen. Im erbitterten Streit über den Umfang und die Modalitäten der europäischen Wiederaufbauhilfe traten die explosiven Gegensätze innerhalb der EU vielmehr härter denn je zuvor zu Tage.

Dabei ist von sekundärer Bedeutung, wer die Hauptverantwortung für diese Zuspitzung trägt. Dass die "sparsamen Vier" um die Niederlande auf eine effektive Kontrolle der Verwendung der enormen Summen bestehen, die von allen Europäern für einzelne Mitgliedstaaten aufgebracht werden sollen, ist begreiflich. Und dass andererseits die südeuropäischen und südosteuropäischen Länder, denen diesbezüglich besonderes Misstrauen entgegengebracht wird, in solchen Kontrollmechanismen einen Eingriff in ihre Souveränitätsrechte wittern, kann nicht überraschen.

Alarmieren muss jedoch die an Feindseligkeit grenzende Unerbittlichkeit, mit der solche innereuropäische Interessensunterschiede mittlerweile ausgetragen werden. Am gravierendsten ist dabei, dass Ungarns Ministerpräsident Orban und sein polnischer Amtskollege unverhohlen damit drohten, das gesamte Hilfspaket platzen zu lassen, sollte die EU ihre Zuwendungen an die Bedingung der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien knüpfen. Und sie hatten mit ihrem erpresserischen Auftreten weitgehenden Erfolg: Von der Rechtsstaatsklausel blieb in der finalen Vereinbarung  nur ein unverbindlicher, verwaschener Rest übrig.

Damit aber ist für die EU eine Existenzfrage berührt: Duldet sie in ihrer Mitte die Herausbildung autoritärer oder zumindest halbautoritärer Regierungsformen, wie sie in Ungarn und Polen zu beobachten ist, gibt sie ihren historischen Daseinszweck als Garant der dauerhaften Verankerung der Demokratie in Europa auf. Es zeigt sich jedoch, dass das Bewusstsein für diese übergeordnete Mission der EU in ihren Reihen massiv im Schwinden begriffen ist.

Das aber steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entfremdung Europas von den USA. Denn ein geeintes demokratisches Europa ohne oder gar gegen Amerika ist prinzipiell undenkbar  - ist doch die europäische Einigung selbst im Kern ein amerikanisches Konzept. Die USA waren es, die jene Vision einer supranationalen demokratischen Ordnung für den Kontinent entwickelten und durchsetzten, aus der sich die Dynamik der europäischen Einigungsbewegung seit 1945 gespeist hat.

Sie haben dem europäischen Zusammenwachsen an den entscheidenden Stellen stets den maßgeblichen Schub verliehen - vom Marshallplan bis hin zum Vollzug der deutschen Einheit im Rahmen der europäischen Integration, die ohne die engagierte Unterstützung der USA nicht so reibungslos hätte vonstatten gehen können. Washington war auch die treibende Kraft für die zügige Aufnahme der vom Kommunismus befreiten osteuropäischen Nationen in NATO und EU. Heute aber haben sich unter Trumps Führung die USA selbst von den Werten abgewendet, die sie einst nach Europa verpflanzten. Weil sie sich statt dessen dem nationalistischen "America First"-Prinzip  verschrieben haben, breitet sich das nationalegoistische Virus folgerichtig verstärkt auch wieder in Europa aus.

Die Sackgasse, in die Europa geraten ist, zeigt zudem: Ökonomische Ambitionen reichen nicht aus, um die europäische Gemeinschaft zusammenzuhalten. Reduziert man die Motivation für die europäische Einigung auf das Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen, schadet dies am Ende der wirtschaftlichen Prosperität selbst. Denn eine florierende freie Wirtschaft hat funktionierende rechtsstaatliche und demokratische Institutionen zur Voraussetzung. Diese aber entstehen nur aus einer übergeordneten, lebendigen Freiheitsidee. Fehlt diese, helfen auch gemeinsame Verteidigungsanstrengungen bei der europäischen Identitätsbildung nicht weiter - wird doch zunehmend unklar, was eigentlich genau jene gemeinsamen Werte sind, die gegen autoritäre Bedrohungen  wie die durch Russland, China oder den Islamismus verteidigt werden sollen.

Das Konzept, nach dem Deutschland und Frankreich in Europa Geschwindigkeit und Richtung vorgeben, während die übrigen EU-Staaten allenfalls noch Modifikationen an den von Paris und Berlin vorgegebenen Plänen anbringen können, funktioniert nicht. Dieser institutionell nicht legitimierte Führungsanspruch ruft in manchen europäischen Hauptstädten erst recht Widerstandsreflexe gegen eine angebliche zentralistische Übermacht hervor. Andererseits aber darf die EU nicht zu einer reinen Verteilungsmaschinerie für gesamteuropäische Reichtümer und Ressourcen verkommen, aus der sich einzelne Staaten bedienen, ohne konstruktiv zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der europäischen Strukturen beizutragen.

In ihrem jetzigen Zustand droht die EU somit weiter in die Dysfunktionalität abzugleiten. Es muss deshalb ein ernsthaftes Nachdenken darüber beginnen, was im Falle ihres finalen Scheiterns an ihre Stelle treten könnte. Auch wenn dies von heute aus gesehen alles andere als realistisch erscheinen mag: Zu antizipieren wäre ihre Neugründung als Föderation demokratischer Staaten, die bereit sind, nationale Kompetenzen an entsprechend ausgebaute supranationale, demokratisch legitimierte Institutionen abzugeben. Ein solches Gebilde dürfte sich jedoch nicht als reiner Trutzbund zur Wahrung "europäischer Interessen" verstehen, sondern als Teil einer weltweiten Wertegemeinschaft der Demokratien, die es dringend zu stärken gilt. Denn allen muss klar sein, dass das Projekt eines vereinten demokratischen Europa nur eine Überlebenschance hat, wenn die Demokratie auch jenseits des Atlantik sowie in anderen Erdteilen überlebt.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Der Text ist die deutsche Fassung einer Kolumne, die Richard Herzinger in der ukrainischen Zeitschrift Tyzhden veröffentlicht hat. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. Hier der Link zur Originalkolumne. D.Red.