Intervention

Beschönigende Haltung

Von Richard Herzinger
23.06.2023. Unter dem Titel "Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig" legt die Bundesregierung zum ersten Mal eine umfassende nationale Sicherheitsstrategie vor. Immerhin! Doch wo es um konkrete strategische Ziele geht, bleibt das Papier vage. Dass sich Deutschland für eine regelbasierte internationale Ordnung und Menschenrechte einsetzen will - wer könnte etwas dagegen haben? Gerade im letzten Punkt aber fragt man sich, wie glaubwürdig solche Beteuerungen tatsächlich sind.
Unter dem Titel "Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig" hat die Bundesregierung zum ersten Mal eine umfassende nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt (hier als pdf-Dokument). In ihr werden Aspekte wie die  militärische Verteidigungsfähigkeit, die inneren Sicherheit, die Abwehr von Cyberangriffen sowie des Schutzes von Infrastruktur und der natürlichen Lebensgrundlagen zu einem neuartigen, integrierten Sicherheitskonzept zusammengeführt.

Zwar ist zu begrüßen, dass in diesem Dokument eine Standortbestimmung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik vorgenommen wird, die den realen weltpolitischen Bedrohungen viel deutlicher als bisher Rechnung trägt. So heißt es darin: "Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum." Damit wird der lange Zeit gültige irrige Ansatz der deutschen Außenpolitik revidiert, das putinistische Russland trotz seiner wachsenden Aggressivität nach Außen und autokratischen Willkür nach innen weiterhin als einen potenziellen "Sicherheitspartner" zu betrachten und zu umwerben.

Doch über das generelle Bekenntnis zur Stärkung des westlichen Bündnisses und größeren Verteidigungsanstrengungen zwecks Abschreckung des Aggressors hinaus zeigt das Papier keine konkreten Schritte auf, wie der russischen Bedrohung dauerhaft begegnet werden soll. Strebt Berlin ein umfassendes Eindämmungskonzept zur konsequenten Isolierung und Schwächung Russlands auf sämtlichen Feldern der internationalen Beziehungen an - oder hofft es, die Konflikte irgendwann doch wieder durch "Dialog" und "Verhandlungen" mit Moskau entschärfen zu können?  Das Papier, in dem sich keine klare Charakterisierung des russischen Terrorstaats und seines Herrschaftssystems findet, lässt dies im Dunkeln. Das lässt befürchten, dass sich Berlin Hintertüren offen lassen will, nach Lage der Dinge doch wieder faule Kompromisse mit dem Kreml einzugehen.

Positiv ist indes, dass die langfristige Unterstützung der Ukraine als Teil der nationalen Sicherheitsstrategie festgeschrieben wird  - mit der Betonung, dass dies nicht nur der Stärkung der ukrainischen Widerstandsfähigkeit gegen die russische Aggression diene, sondern auch "einen elementaren Beitrag zu unserer eigenen Sicherheit" darstelle. Doch fehlt dabei ein klares Bekenntnis zum Ziel eines vollständigen militärischen Siegs der Ukraine als der Voraussetzung für die dauerhafte Sicherung ihrer territorialen Integrität. Ebenso wenig legt sich das Sicherheitspapier in der Frage der Aufnahme der Ukraine in die NATO fest.

Ihr eine klare Beitrittsperspektive zu geben, wäre jedoch das überfällige Signal an Moskau, dass das westliche Bündnis dem verbrecherischen Angriffskrieg nicht endlos vom Rand aus zusehen wird. Dass der Ukraine von westlicher Seite die Zusage der Vollmitgliedschaft mit der Begründung verweigert wird, ein im Krieg befindliches Land könne der Nato nicht beitreten, bestärkt hingegen die Aggressionsgelüste des putinistischen Regimes. Denn um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, braucht es nach dieser Maßgabe nichts anderes zu tun, als seinen Terrorfeldzug immer weiter fortzusetzen.

Unklarheit herrscht auch weiterhin bezüglich des deutschen Umgangs mit dem totalitären China, das in dem Sicherheitspapier gleichzeitig als "Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale" bezeichnet wird - wobei eingeräumt wird, dass "die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in den vergangenen Jahren zugenommen haben." Angesichts der zunehmenden Aggressivität, mit der das Pekinger Regime seinen Anspruch auf Vorherrschaft nicht nur im südostasiatischen Raum, sondern mittelfristig auch auf globaler Ebene unterstreicht, sowie in Anbetracht seiner beispiellos massiven militärischen - insbesondere auch nuklearen - Aufrüstung ist das jedoch eine bemerkenswert milde Formulierung. Zumal bereits im nächsten Satz bekräftigt wird, China bleibe "ein Partner, ohne den sich viele der drängendsten globalen Herausforderungen nicht lösen lassen."

Diese Unentschiedenheit in der Beurteilung des Charakters des chinesischen Regimes und seiner tatsächlichen Absichten erinnert fatal an die beschönigende Haltung, die Deutschland bis zum 24. Februar 2022 gegenüber Putins Russland eingenommen hat.  Keine Antwort gibt das neue Strategiepapier etwa auf die Frage, wie sich Deutschland und Europa im Falle einer chinesischen Invasion des demokratischen Taiwan positionieren sollten. Man hat den Eindruck, dass Berlin davor die Augen verschließt , weil es sich einfach nicht vorstellen kann und will, dass dieses Äußerste tatsächlich eintritt - so wie man es bis zuletzt nicht wahrhaben wollte, dass Putin mit seinem völkermörderischen Überfall auf die ganze Ukraine tatsächlich ernst machen würde.

So sehr es der nationalen Sicherheitsstrategie an Präzision mangelt, so wenig fehlt es ihr an Bekundungen guter Absichten. Doch wo es um die Festlegung konkreter strategischer Ziele geht, bleibt das Papier im Bereich vager Allgemeinheit und wohlklingender Grundsatzerklärungen. Dass sich Deutschland für die Festigung einer regelbasierten internationalen Ordnung und für eine effektivere Bekämpfung des Klimawandels einsetzen, den Zusammenhalt der EU stärken und sich weltweit für elementare Menschenrechte wie das Recht auf Bildung für alle einsetzen will - wer könnte etwas dagegen haben? Gerade im letzten Punkt aber fragt man sich, wie glaubwürdig - oder verlogen - solche Beteuerungen tatsächlich sind.

Ist es doch gerade erst zwei Jahre her, dass Deutschland (wie der ganze Westen) die afghanische Gesellschaft kaltschnäuzig im Stich gelassen und der Gewaltherrschaft der totalitär-islamistischen Taliban ausgeliefert hat. In erster Linie die Frauen werden dort jetzt brutal ihrer elementaren Menschenrechte beraubt, angefangen mit ihrem Recht auf Bildung. Über dieses düstere Kapitel deutscher "Menschenrechtspolitik" und die Lehren, die daraus zu ziehen sind, schweigen sich die verantwortlichen Außen- und Sicherheitspolitiker jedoch ganz einfach aus.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite
"hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.