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Vorgeblättert

Kenzaburo Oe: Tagame. Berlin-Tokyo. Teil 3

15.08.2005.
     Gleich nachdem Kogito Goro auf der Oberschule in Matsuyama kennen gelernt hatte, hatte er ihm von einer philosophischen Todesauffassung erzählt, über die er zwar nachgedacht, die er bisher aber mit niemandem hatte erörtern können. Dabei war es ihm um einen humoristischen Effekt gegangen, der zu jener Zeit - und im Rückblick während ihrer ganzen, viele Jahre währenden Freundschaft - den Grundton bildete. Die Idee des damals natürlich noch jungen Kogito entsprang zweifellos der Abneigung gegen gewisse philosophische Erklärungen, denen zufolge sich den jetzt in dieser Welt Lebenden der eigene Tod nicht als eine auf Erfahrung basierende Erkenntnis beschreiben lasse. Denn die Existenz des erkennenden Subjekts gehe im Moment dieser Erfahrung verloren. Das heiße also, dass für die jetzt und auch weiterhin Lebenden der Tod nicht existiere. Nach der Wiedergabe dieser Beweisführung hatte Kogito seine eigene Version erläutert:
     - Die Menschen haben doch eine Seele, die gemeinsam mit dem Körper lebt, nicht wahr? In meinem Dorf wird überliefert, dass sich, wenn ein Mensch stirbt, wenn also ein Mensch als Körper stirbt, die Seele von seinem Körper löst und in dem Talkessel aufsteigt. Sie schraubt sich in einer Spiralbewegung aufwärts, weißt du. Dann lässt sie sich an der Wurzel des ihr bestimmten Baumes nieder. Und nach einiger Zeit steigt sie in umgekehrter Spiralrichtung wieder hinab. Um in den Körper eines noch ungeborenen Säuglings einzudringen.
     Goros Antwort stellte seine eigenartig interessante Bildung unter Beweis:
     - Dante zufolge müssen die Menschen die Berge rechts herum hinaufsteigen, eine Linkswendung scheint falsch zu sein. Läuft deine vom Tal in die Wälder aufsteigende Spiralbewegung rechts oder links herum?
     Da Kogito seine Großmutter danach nicht gefragt hatte, sagte er stattdessen:
     - Es kommt doch darauf an, welche der beiden als richtig oder als falsch erachtet wurde, die Bewegung, mit der die Seele den alten Körper verlässt und sich an der Wurzel eines Baumes niederlässt, oder die, mit der sie in den Körper eines ungeborenen Säuglings eindringt.
     Und dann fuhr er fort:
     - Wenn sich die Seele also vom gestorbenen Körper löst, kann sie selbst den Tod doch nicht wahrnehmen, oder? Denn was stirbt, ist ja nur der Körper, und in dem Moment, wo der Körper stirbt, löst sich die Seele von ihm. Die Seele lebt also ewig weiter und geht vielleicht in die Zeit und den Raum einer anderen Dimension über, einer Dimension, die völlig verschieden ist von der Zeit- und Raumwahrnehmung der Körper, eine Dimension...ich versteh das auch nicht richtig und kann es nur vage umschreiben...die unendlich und zugleich nur ein Augenblick ist, die das ganze Universum umfasst und zugleich nur ein einzelner Punkt ist. Dann wäre die Seele eine unschuldige Existenz, die niemals des Todes gewahr würde, glaube ich.
     Ihr Gespräch von damals, als sie noch jung waren und weniger die Art zu denken, als vielmehr die Komik ihrer Ausdrucksweise genossen hatten, war nun Wirklichkeit geworden, und ohne sich des körperlichen Todes bewusst zu sein, sprach Goros Seele jetzt durch den Schildkäfer zu ihm.

5

Das blutverschmierte Taschentuch zwischen die von dem Kameramann verletzte Nase und sein Auge gedrückt, war Kogito spät am Abend nach Hause zurückgekehrt. Er machte Akari etwas zu essen - der sich, weil Kogito den Telefonapparat durch den lautlosen Anrufbeantworter ersetzt hatte, die ganze Zeit ungestört CDs angehört hatte -, er selbst aber wusch sich nur das Gesicht, ließ dabei jedoch das Licht am Waschbecken ausgeschaltet, um sich nicht im Spiegel sehen zu müssen, und ging hinauf in die Bibliothek. Dort holte er den Schildkäfer hervor, den er mitten in der Nacht, von Chikashi gescholten, ins Regal zurückgestellt hatte. Denn auf dem Rückweg in der Bahn war ihm klar geworden, dass die Passage vor den Abschiedsworten, die er am Vorabend gehört hatte, als Goro nämlich davon erzählte, wie er in Matsuyama Rimbaud vorgelesen habe, eine Botschaft enthielt.
     - Wie weit ging eigentlich damals in Matchama unser Verständnis für französische Lyrik? Du hast dich danach für französische Literatur eingeschrieben und vor allem Prosa gelesen, ich aber habe kein solches Fachstudium betrieben und kann daher kein genaues Urteil abgeben, hatte Goro in stets unverändert ruhigem Ton gesagt. Doch dieser Rimbaud, dessen Gedicht du damals in der Übersetzung von Hideo Kobayashi auf ein Blatt abgeschrieben und an die Wand eures Hauses tief in den Bergen gehängt hast, hat uns ziemlich stark beeinflusst.
     - Ja, das stimmt, antwortete Kogito wehmütig, nachdem er die Pausentaste gedrückt hatte. Damals habe ich über die mystische Bedeutung dieses Gedichts nur spekuliert. Aber war ich nicht der Meinung, dass ich bald imstande sein würde, mein Verständnis aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen zu korrigieren?
     Dann hatte er erneut die Wiedergabetaste gedrückt und an diesem Abend noch lange mit Goro über Rimbaud gesprochen.
     Jetzt aber bemerkte Kogito, wie unsensibel er gewesen war, denn mit den Versen Rimbauds hatte Goro ganz offensichtlich zum Abschied übergeleitet. Zuvorderst damit, dass er das Gedicht Adieu, das Kogito abgeschrieben hatte, in den Mittelpunkt stellte ...
     Kogito erinnerte sich daran, dass Goro und er einmal lange über Rimbaud gesprochen hatten - er war sich nicht mehr sicher, ob am Telefon oder bei einem Treffen. Sie hatten ihn damals beide schon seit einiger Zeit nicht mehr gelesen, und auch Goro, der meist monologisierte, schien die Verse aus weit zurückliegender Erinnerung wiederaufleben zu lassen.
     Aus diesem Anlass hatte Kogito einige Neuübersetzungen Rimbauds zusammengetragen, gelesen und Goro die von Hitoshi Usami geschickt. Er hatte sie nicht nur mit Kobayashis Übersetzung, sondern auch mit dem Originaltext verglichen und für die Beste gehalten. Hierauf bezog sich die lange Rimbaud-Passage auf der Kassette. Kogito hörte sie sich von neuem an und holte, nachdem er das durch den Schildkäfer vermittelte Gespräch mit Goro wieder aufgenommen hatte, neue und alte Bücher von und über Rimbaud aus dem Teil des Regals, wo er seit seiner Studienzeit die französischen Bücher einordnete. Dort standen die Gesammelten Werke Rimbauds in der Pleiade-Ausgabe neben den Poesies in der Ausgabe von Mercure de France - Kogito hatte sie als Oberschüler von Goro geschenkt bekommen, und es war dieser Text, der ihm die erste Begegnung mit der französischen Sprache vermittelt hatte. Nach langer Zeit schlug Kogito die Poesies wieder auf, den schmalen Band mit den roten Lettern auf dem Einband, bei dessen Anblick ihm damals, als Goro sie ihm überreicht hatte, das Herz geklopft hatte. Kleine mit hartem Bleistift geschriebene Wörter, die er ohne Zweifel mit siebzehn selbst eingetragen hatte. Sie waren auf Englisch, denn das Lexikon, in dem er vor Goros Unterricht in der Bibliothek des CIE, des amerikanischen Zentrums für Information und Erziehung, immer nachgeschlagen hatte, war das französisch-englische Oxford Dictionary gewesen.
     Es gab auch zwei japanische Einträge. Der eine war in Katakana(1)* geschrieben und hielt fest, was Goro gesagt hatte und was ihm damals wichtig erschienen war. Dass er sie - im Unterschied zu den in Hiragana** geschriebenen eigenen Überlegungen - in Katakana geschrieben hatte, war durch eine Essaysammlung von Goros Vater, dem Filmregisseur***, ausgelöst worden, die er ausgeliehen und gelesen und in der dieser gelegentliche Gedanken in Katakana notiert hatte. Kogito hatte das imitiert.
     In einem Brief an seinen Lehrer schreibt Rimbaud: "Ich bin jetzt siebzehn Jahre alt. Das Alter der Hoffnungen und Hirngespinste wie man sagt..."* Rimbaud hat das Gedicht "Roman" aber mit fünfzehn verfasst. In der Zeile On n' est pas serieux quand on a dix-sept ans** hat er also eine falsche Altersangabe gemacht. Ich habe dieses Gedicht letztes Jahr gelesen, und in diesem Jahr sagtest du, es sei auch für dich gültig, da du genauso alt seist wie er. Das Genie wird auch uns Mittelmäßige anspornen.
     Kogito war erstaunt, dass Goro, dem man schon als Jüngling das Genie ansah, sich mit achtzehn als mittelmäßig betrachtete - in Bezug auf Kogito war er übrigens aufrichtig.
     Kogito las das Gedicht Abschied in der Pleiade-Ausgabe, und erneut überkam ihn ein Gefühl der Beklemmung. Als Goro vor jenem Ereignis über das Gedicht gesprochen hatte, schien er, wie das Zitat auf dem Band zeigte, die neue Übersetzung neben sich liegen zu haben, die Kogito ihm geschickt hatte. Musste er nicht davon ausgehen, dass auch Kogito der gesamte Text sofort vor Augen wäre? Aber Kogito hatte keine befriedigende Antwort finden können. Jetzt war es genauso. Auch ging ihm die Neuübersetzung, die er Goro empfohlen hatte, nicht so ans Herz, dass er sie wie damals als Jugendlicher abgeschrieben und auswendig gelernt hätte. Diese Kluft hatte sich auch in letzter Zeit bei ihren seltenen Treffen gezeigt, und hatte Goro nicht schließlich angesichts seines mangelnden Vertrauens in Kogito aufgegeben und sich zu diesem Knall aufgemacht?
     "Schon Herbst! - Aber warum einer ewigen Sonne nachtrauern, wenn wir beschäftigt sind mit der Entdeckung der göttlichen Klarheit, fern der Menschen, die (verzückt) hinsterben über dem Wechsel der Jahreszeiten."***
     Kogito schrieb die Übersetzung nieder, so wie Goro sie auf dem Schildkäfer zitierte. Im ersten Jahr der Oberschule hatte ihn diese Anfangspassage in der Übersetzung von Kobayashi fasziniert. Goro hatte damals ähnlich empfunden. Aber hatte er sich vielleicht, den baldigen Tod bewusst wählend, Menschen zum Vorbild genommen, die sich bemühten, die göttliche Klarheit zu entdecken? Oder hatte er vielleicht die nachgeahmt, die verzückt hinsterben über dem Wechsel der Jahreszeiten?
     Und was für Gedanken mochte die Vorstellung einer von Würmern wimmelnden Leiche in der folgenden Passage bei ihm ausgelöst haben? Warum hatte er ihm auf dem Schildkäfer so ausführlich von diesem mit widerlichen Phantasien angefüllten Gedicht erzählt? Kogito hegte einen Verdacht: Wollte Goro ihm - und damit auch sich selbst - nicht die folgenden Worte entgegenschleudern?
     "Und siehe! ich muss meine Phantasien und Erinnerungen begraben! Dahingeweht, der schöne Ruhm des Künstlers und Erzählers!" Dann folgten die Zeilen:
     "So will ich um Verzeihung bitten, daß ich mich von der Lüge genährt habe. Und nun vorwärts. / Aber keine Freundeshand! Und wo wäre Hilfe?"
     Das Thema der Lüge stellte ein wichtiges Element in Goros Kritik an Kogito dar, die in dem Gespräch mit dem Schildkäfer zur Sprache kam. Hatte auch er die "Freundeshand" aufgegeben? Wenn ja, so musste sich Kogito, auch wenn er Goros Klagen leid war, Folgendes fragen: Falls dem so war, warum hatte Goro dann kurz vor dem letzten Akt in ihre ohne Zweifel immer distanziertere Beziehung den Apparat des Schildkäfers eingebracht und ihm diese Kassetten mit seinen leidenschaftlichen Monologen geschickt?
     Als Kogito das Gedicht bis zum letzten Vers las, wurde er vollkommen von Wehmut übermannt, denn es folgte die Zeile, die Goro und er als Oberschüler am meisten geliebt hatten:
     "Und im Morgenrot, gewappnet mit einer glühenden Geduld, werden wir einziehen in leuchtende Städte."
     Doch was hatten sie in ihrer Jugend mit diesem Ausdruck der leuchtenden Städte verbunden?
     Noch inspirierender war mit Sicherheit die letzte Zeile gewesen:
     "- und es wird mir gestattet sein, die Wahrheit in einem Körper und einer Seele zu besitzen."
     Aber worauf bezog sich das eigentlich konkret? Wenn sich auch Goro vor dem Knall an diese Verse erinnert hatte, in welcher Aussicht war das geschehen?
     Doch die Gelassenheit, über den Inhalt all dessen so analytisch nachzudenken, fand Kogito erst einige Zeit, nachdem er das über den Schildkäfer mit Goro geführte Gespräch beendet hatte. Als er am nächsten Tag erneut die Wiedergabetaste des Schildkäfers drückte, rückten seine Alltagsgedanken in weite Ferne, und während sich ihm sonderbar reale Worte aus dem Raum und der Zeit vermittelten, in die Goro sich begeben hatte, stimmte er sich umgehend darauf ein und betätigte eifrig die Pausentaste.
     Trotz des ruhigen Grundtons der für den Schildkäfer vorbereiteten Kassetten setzte Goro die Diskussion fort, in der es ausschließlich um seine Kritik an Kogito ging. Im Nachhinein betrachtet, war es vor allem die Dringlichkeit seiner Stimme, mit der er vom Feldbett aus zu antworten suchte, die Chikashi veranlasste, Kogito anzusprechen.

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages

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