Im Kino

Eine Form des Überlebens

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel
30.08.2023. Das Gegenteil eines Algorithmus ist Barbet Schroeders "Ricardo et la Peinture", ein der Kunst und der Welt zugewandtes Porträt des argentinischen Malers Ricardo Cavallo.


Barbet Schroeder, vor einigen Tagen 82 Jahre alt geworden, gehört zu den unberechenbarsten Filmemachern der letzten vierzig Jahre. Von Hollywoodfilmen über Serien, französische B-Movies, Dokumentationen bis zu haikuartigen Miniaturen beherrscht der Mann zahlreiche Spielformen des Kinos, manche erfindet er einfach. Seine jüngste Arbeit "Ricardo et la Peinture" feierte unlängst Premiere auf dem Filmfestival Locarno. Es handelt sich um ein herzenswarmes und tatsächlich herzerwärmendes Porträt des umtriebigen argentinischen Malers Ricardo Cavallo.

Den lernen wir, unaufgeregt und ohne jeden Kunstanspruch gefilmt, in einer felsigen Höhle am Meer kennen. Dort baut er sich auf, um eines seiner riesigen, aus mehreren Platten bestehenden Gemälde zu malen. Er wird den ganzen Film über nichts anderes tun. Er atmet die Malerei, setzt sich und seine Kunst unablässig in einen Austausch mit der Natur, die ihn umgibt. Das heißt, er praktiziert und lehrt die Malerei, redet unablässig von ihr. Er zeigt die Demut vor dem Gewicht der bereits gemalten Bilder. Dieselbe Demut merkt man Schroeders Kamera an. Es ist ein Aufeinandertreffen zweier Männer, die Ideale teilen, aber nicht darüber sprechen. In seinen besten Momenten erinnert der Film, wenngleich er formal und ästhetisch weniger ansprechend ist, an Victor Erices "Das Licht des Quittenbaums".

Schroeder lässt sich und seine um ihn wuselnden Kamera- und Tonleute von dem Süjet anstecken und dreht einen dialogischen Film darüber, was es bedeutet, eine Kunst zu lieben und zu leben. Mal ist er selbst im Bild, mal hinter der Kamera, aber nie wird versteckt, dass er da ist. In mancher Hinsicht ist es ein Film für all jene, die daran glauben, dass es Claude Monet war, der das Blau des Himmels erfand. Andererseits ist es auch ein Film, der jene von der Malerei und Kunst überzeugen kann, die sich damit nicht viel befasst haben oder die, wie der große polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz, die Kunst gegenüber dem Leben für geringfügig erachten. Cavallo und Gombrowicz, diese beiden Männer, die Argentinien aus unterschiedlichen Richtungen kannten, einmal als Auswanderer und einmal als Einwanderer, hätten ein herrliches Gespräch führen können. Danach hätte man nicht gewusst, ob man die Kunst vergöttern oder verteufeln soll. Dabei eint die beiden ihr Hunger nach Leben. Für Cavallo liegt das Leben, der Sinn des Daseins in der künstlerischen Schöpfung.

Abwechselnd zeigt Schroeder in diesem quasi-agitatorischen Film - angestiftet wird zur Kunstliebe -, wie Cavallo arbeitet, wie er monologisch erzählt und Gemälde zeigt und analysiert, die ihn beeinflussen. Der Maler versteht so viel von seiner Kunst, dass es eine Freude ist. Allein dafür hat es sich gelohnt, ihn zu filmen. Man sieht etwa große Bilder von Velazquez oder Seurat mit neuen Augen. Aber vor allem bekommt man das Gefühl, dass man, wenn man nur einige Minuten mit Cavallo verbringt, alles mit neuen Augen sehen könnte. Ein bisschen bekommt man außerdem den schönen Eindruck, dass Schroeder hier trotz seines fortgeschrittenen Alters noch einmal etwas lernen will.

Gleichzeitig unterliegt diese ansteckende Liebe zu einer Kunst- und Lebensform jenem vom französischen Filmkritiker Serge Daney hervorgebrachten Modus des Passeurs, also einer Person, die durch ihr Wissen und ihre Leidenschaft für einen Gegenstand, andere mitnehmen kann. In diesem Fall diejenigen, die diesen Film sehen. Hier wird der Passeur selbst zum Held, er verschmilzt mit dem, was er so herzerfüllt vertritt. Er ist sozusagen das Gegenteil eines Algorithmus.



Wer möchte, kann in den Aufnahmen aus Museen, den Ateliers Cavallos und der Natur einen jahrzehntelangen Kampf um die Bedeutung des Sehens, des Wahrnehmens entdecken. Denn dieser Passeur, der stets bei geöffnetem Fenster schläft, auch im Winter, um bereit für die Kälte draußen zu sein und der Kinder in seinem Dorf mit der Malerei vertraut macht, verkörpert seine Kunst, lässt sich von ihr auszehren. In ihm staut sich die Essenz einer Ausdrucksform durch Farben, Licht und Formen an, von der er überzeugend behauptet, sie könne einen Menschen verändern.

Man fragt sich, was so viele Menschen dazu bringt, diese oftmals äußerst persönlichen Epiphanien weitertragen zu wollen. Beobachtet man den sich stets bewegenden, unerschöpflich werkenden, strahlenden, atmenden Cavallo, meint man zumindest kurz eine Antwort zu finden: Es ist eine Form des Überlebens, die einem weniger sinnlos scheint. In einer mit etwas anstrengender Musik unterlegten Montage von Cavallos Bildern entdeckt man einen eigenen Planeten. Es ist angenehm, dass Schroeder den naheliegenden Kurzschluss zum Kino ausspart, schließlich erklärt sich von selbst, dass diese Leidenschaft auch anderswo Gültigkeit besitzt.

Ab und an driftet der Film ins Sentimentale, dann zeigt Schroeder sich und Cavallo Arm in Arm bei der glücksbeseelten, enthusiastischen Beobachtung eines Falkens, der im frühen Abendlicht vor dem am Himmel stehenden Mond kreist. Die Einstellung auf den beiden sich gar nicht sattsehen könnenden Männern wirft die Frage auf, ob man sich selbst feiern sollte, weil man auch im hohen Alter noch die Welt zu lieben versteht. Kann man vom Staunen berichten, ohne die Staunenden zu glorifizieren? Man denke an die zahlreichen Nahaufnahmen aufgerissener Augen in der Kinogeschichte. Sie geben uns oft vor, wann wir zu staunen haben, statt das Staunen durch das zu vermitteln, was gesehen wird und werden könnte. Womöglich hat man erst ein Recht darauf, diese Fragen zu beantworten, wenn man sich im hohen Alter noch für Falken am Abendhimmel begeistert. Es ist jedenfalls verzeihlicher, den Pathos an solchen Bildern aufzuhängen, als an emotionalen Lebensläufen, die der Film nur anreißt.

"Ricardo et la Peinture" ist ein kleiner, freundlicher Film, wenn man so will. Nachdem der Regisseur sich unlängst in einer Trilogie mit dem Bösen befasste, könnte er den Auftakt zu einer Trilogie des Guten bilden. In einem möglichen Nachdenken darüber, was ein solches Gutes in diesem Film auszeichnen würde, stünden das Sehen und die erdzugewandte Leidenschaft zum Leben ziemlich weit vorne. 

Patrick Holzapfel

Ricardo et la Peinture - Frankreich, Schweiz 2023 - Regie: Barbet Schroeder - Laufzeit: 106 Minuten. "Ricardo et la Peinture" wurde bislang nur auf Festivals vorgeführt. Ein deutscher Kinostart ist noch nicht in Sicht.