Im Kino

Spaltpilz des Realitätsprinzips

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
04.10.2023. Die Farbe Rot ist nicht zu bremsen in Patric Chihas Discofilm "Das Tier im Dschungel", in der Henry-James-Dialoge auf Disco-Beats und François Mitterrand treffen. Dass das alles ganz wunderbar aufgeht, liegt nicht zuletzt am großartigen Hauptdarsteller Tom Mercier.


Ans Tageslicht begibt sich der Film nur äußerst selten und wenn doch dann nur sehr kurz: einmal schnell auftauchen, ein paar Momente Luft schnappen, von der fremdartigen Helligkeit eher geblendet und betäubt denn aktiviert und erleuchtet; dann gleich wieder hinunter in die Nacht, in den Club, in die Musik, ins künstliche Licht, das für die, die hier hausen, längst zur zweiten, besseren Natur geworden ist. Einem Licht, das nicht alle Attraktionen, nicht alle Farben gleich behandelt, das ein Rot in die Welt setzt, das nicht ganz von dieser Welt ist, das nicht an der Welt, nicht an den Körpern haften bleibt, das von Lippenstiften, Tank Tops und Kaschmirpullovern auf das Bild selbst überspringt, autonom wird, wabert; ein Spaltpilz des Realitätsprinzips, der auch alle anderen Farben irrealisiert.

"La Bête dans la jungle", "Das Tier im Dschungel" heißt der Club und weil der Club der Film ist, heißt auch der Film so; vielleicht allerdings wird der Club auch nur so geheißen haben, denn mit der Zeitlichkeit ist es so eine Sache in Patric Chihas Film. Die Zeit im Club ist nicht dieselbe Zeit wie die Zeit außerhalb des Clubs. Im Club ist immer Nacht und immer Rot und immer Samstag (selbst wenn schon seit fünf Stunden Sonntag ist) und immer steht Béatrice Dalle an der Tür und bestimmt darüber, ein Blick ihrer sprechenden Augen genügt, wer rein darf und wer nicht; im Club ist immer die Zeit von John (Tom Mercier) und May (Anaïs Demoustier), den beiden verlorenen Seelen der Nacht, die sich hier und nur hier sehen, die kein gemeinsames Leben außerhalb des Clubs haben, für die das Rot der Nacht zum Medium einer Liebe wird, die keine Substanz hat, aber gleichzeitig keine andere Substanz neben sich zulässt. Ist das Rot der Nacht der Vampir, der die beiden aussaugt? Oder saugen sie sich gegenseitig aus, und das Rot ist nur das Abfallprodukt einer Liebe, die die Welt um sie herum affiziert, verzaubert, vergiftet?



Im Nachtleben ist man gerade nicht am Puls der Zeit, gesteigert gegenwärtig, sondern aus der Zeit gefallen, immer schon ein Wiedergänger. John und May und auch ein großer Teil der Dialoge stammen aus Henry James' "The Beast in the Jungle" - eine literarische Chronik des Verzichts und des Verfehlens, der gemeinsamen Flucht in die Innerlichkeit. Auch bei Chiha ist der Dschungel der Nacht für John und Mays zwar ein Zuhause; aber nur, weil sie kein anderes haben. Party Animals im Sinne hedonistischer Raubtierhaftigkeit sind sie keineswegs. John tanzt nicht einmal, und wenn irgendwann doch, dann ausgerechnet zu "Jingle Bells". Eigentlich mag ich keine Clubs, sagt er, aber wir sehen ihn fast nur im Club. Weil es nicht darauf ankommt, was er mag. Würde man das Licht und die Farben wegnehmen, heißt es einmal, dann wäre John nicht mehr da. May hingegen hat ein Leben außerhalb des Clubs: einen Freundeskreis, eine Arbeit, bald auch einen Ehemann. Aber nur in der Theorie. Der Film will nichts wissen von diesem anderen Leben, und je mehr sie sich auf John einlässt, desto flüchtiger werden die Gedanken ans Draußen, ans Tageslicht, an das Ende des ewigen Samstags.

So groovt man sich ein in diese ewige Nacht der pulsierenden Beats (der sehr gute Soundtrack von Yelli Yelli, Dino Spiluttini und Florent Charissoux besteht komplett aus Eigenkompositionen, hält sich fern von erwartbaren Ohrwürmern; einzige Ausnahme eben, man fasst es nicht: "Jingle Bells"), wabernden Farben und einer recht sonderbaren, komplett sexlosen Form der "Liebesblödigkeit" (Wilhelm Genazino). Ein eigensinniger Film, der doch Verwandtschaftsbeziehungen in verschiedene Richtungen unterhält. Man kann an Chihas eigenen "Brüder der Nacht" denken, einen weniger versponnenen, weil im dokumentarisch gezeichneten Wiener Strichermilieu geerdeten, aber gleichfalls sehr schönen Film über Existenzen im Zeichen des Rotlichts; oder auch an die kluge Artifizialität der Filme Axelle Roperts, die hier als Ko-Drehbuchautorin fungiert; oder auch, vielleicht ganz besonders, an Whit Stillmans "The Last Days of Disco", der mit Chihas Film gleich mehrere Obsessionen teilt, aber den Komplex Nachtleben, literarisches Sprechen und Liebesdiskurs jenseits der Bürgerlichkeit ganz anders bearbeitet. 

Konzentrierter vor allem, aber auf Konzentration zielt Chiha gar nicht erst ab. Brüche und Ellipsen sind von Anfang an Programm. Schon die erste Begegnung von John und May ist gar keine erste, weil die beiden sich von früher kennen; aber die Erinnerungen an die erste Begegnung driften auseinander, auf eine gemeinsame Vergangenheit können sie sich nicht einigen. Weil sie auf eine Welt außerhalb des Clubs verweist und weil im Club die Kausalitäten der Außenwelt nicht gelten. Und dann kracht plötzlich auch noch der Wahlsieg François Mitterrands in den Film. Wir schreiben also inzwischen das Jahr 1981. Nicht nur gegen die Zeitordnung des bürgerlichen Lebens haben wir uns hier unten, im Club, abgekapselt, sondern auch gegen die Zeitordnung der Geschichte. Nun gut, dann eben kurz raus auf die Straßen, das Ende der konservativen Dominanz feiern… aber schon nach ein paar Schritten steht da wieder Béatrice Dalle und ruft John und May und uns zurück in die andere, in die echte Zeit.



Auch die AIDS-Krise, der Fall der Berliner Mauer und 9/11 drängen sich in ähnlicher Manier in den Film; die queeren, new-wavigen, warmen Discovibes der Achtziger weichen währenddessen den kälteren, monadischeren, aber immer noch ziemlich queeren Technoscapes der Neunziger. Man kann schon finden, dass diese nicht gerade subtile Rehistorisierung der allen größeren Zeitläufe zunächst enthobenen Clubzeit nicht die beste Idee ist; weil der offene Horizont des Liebesdialogs doch wieder von der mechanischen Linearität des Ereignis- und Popgeschichte überformt wird. (Bei Stillman genügt die Konkurrenz von Disco und Punk, um ein deutlich dichteres Gesellschaftsbild zu entwerfen.) Wie man überhaupt der Meinung sein kann, dass Chiha gelegentlich etwas zuviel auf einmal will in "Das Tier im Dschungel", und auch, dass ihm, der über weite Strecken fabelhaften Kameraarbeit (Céline Bozon) zum Trotz, nicht jede szenische Idee gelingt. Es sind leider Gottes, und man wird es mir eh nicht glauben, oft ausgerechnet die etwas kalkuliert anmutenden Auftritte Béatrice Dalles, die einen gelegentlich aus dem Bilderfluss werfen.

Dass all das kaum ins Gewicht fällt, liegt nicht zuletzt an Tom Mercier. Nicht satt sehen kann sich May, kann sich die Kamera, können wir uns an dem John-Darsteller, an diesem Typen, der in den Farben der Nacht herumsteht wie bestellt und nicht abgeholt, offenherzig und hilflos auf seine Umgebung blickend, komplett überfordert von der simpelsten sozialen Interaktion. Wenn der Club eine eigene Zeit, eine eigene Realität etabliert, eine Realität, die die Tanzenden umhüllt und vor den kalten Mächten des Tages schützt, dann geht Merciers Körper selbst in dieser nicht ganz auf. Er markiert eine weitere, eine letzte Differenz. Auch noch diesen Körper, den verletzlichsten, einsamsten von allen zu erlösen, und sei es nur für den kürzesten Moment: das ist Mays Ziel und auch das Ziel des Films.

Lukas Foerster

Das Tier im Dschungel - Franreich 2023 - OT: La Bête dans la jungle - Regie: Patric Chiha - Darsteller: Anaïs Demoustier, Tom Mercier, Béatrice Dalle, Martin Vischer, Sophie Demeyer - Laufzeit: 103 Minuten.