Im Kino

Unverdaute Bilder

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel
27.12.2023. Ein wenig nimmt einem dieser Film vielleicht sogar die Angst vor dem Tod: Maite Alberdi porträtiert in "Die unendliche Erinnerung" ein alterndes Ehepaar und beobachtet dabei insbesondere, wie eine Frau für ihren an Alzheimer erkrankten Mann sorgt. Geschickt verknüpft der Film Persönliches mit Politischem.


In seinen besten Momenten erahnt das Kino, was es bedeuten könnte, zu sterben. Dann bereitet ein Film seine Zuschauer gewissermaßen auf das Unvermeidliche vor, teilt Gefühle von Verlust, Trauer und Verlorenheit. Bestenfalls geht man aus einem solchen Film zurück ins Leben und fürchtet sich weniger vor dem Tod. Schließlich ist man schon einmal gestorben, das macht es einfacher.

In "Die unendliche Erinnerung", der jüngsten Arbeit der chilenischen Filmemacherin Maite Alberdi, gibt es einige solcher Momente. Der Film begleitet das Ehepaar Paulina Urrutia und Augusto Góngora in deren Alltag. Pauli, wie sie genannt wird, ist eine bekannte Schauspielerin und ehemalige Kulturministerin Chiles. Augusto ein ehemaliger Journalist, der vor allem als Moderator und Direktor der subversiven Nachrichtensendung Teleanálisis in den 1980er Jahren bekannt wurde. Die Sendung berichtete von den Zuständen in Chile während der Pinochet-Diktatur und war ein wichtiges Instrument oppositioneller Arbeit.

Augusto, der im Mai 2023 verstarb, litt an Alzheimer, die letzten sieben Jahre seines Lebens mit Diagnose. Alberdi zeigt das Zusammenleben dieser beiden Menschen mit der Krankheit. Als Covid ausbricht, filmen Pauli und andere Familienmitglieder einfach weiter. Was dabei entsteht, ist - mit Ausnahme der zuckerigen Musik - ein angenehm zurückhaltendes Dokument des tragischen aber doch erfolgreichen Kampfes einer Liebe gegen das Vergessen. Vor allem die erste Minuten des Films, in denen man in die Konfusion einer Lebenswirklichkeit geworfen wird, ohne dass irgendwer zu großen Erklärungen ausholt, beschäftigen nachhaltig.

Dabei bewegt vor allem die stoische, zärtliche Fürsorge Paulis, die ihren Mann füttert, reinigt und unablässig mit ihm spricht. Sie repräsentiert eine Selbstlosigkeit, die sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse nicht vergisst. Manchmal wird Augusto ganz klar und bekundet seine Liebe, seinen Dank. Das erinnert an das Aufwachen aus einem Albtraum, wenn sich die Noch-Träumenden an den Arm ihrer Partner klammern, um sich zu versichern, dass sie noch am Leben sind. Die Kamera ist dabei, wenn die Liebe über die Krankheit triumphiert, sie dokumentiert aber auch, wenn das nicht gelingt, etwa als Augusto Pauli nicht mehr erkennt oder panisch befürchtet, jemand würde kommen und seine Bücher wegnehmen. Es ist ein Verdienst Alberdis, dass diese Szenen nie unangenehm oder übergriffig wirken. Sie hält die richtige Distanz, zeigt was nötig ist, aber nichts darüber hinaus.



Das krankheitsbedingte Vergessen sowie die Angst- und Wahnanfälle verschränken sich mit der kollektiven Erinnerungsarbeit einer Nation. Alberdi nutzt Found Footage aus öffentlich existierenden Bildern sowie Material aus den Home-Movies ihrer Protagonisten, um auch von der Geschichte Chiles zu erzählen. Interviews mit verarmten Kindern, alte Videos, in denen Augusto und Pauli von ihrer kulturellen Arbeit berichten. Nicht ohne Pathos wird der im Vergessen strauchelnde Augusto zu einer Metapher für Chile. Der Titel des Films, "La memoria infinita", ist eine Referenz an "Chile: la memoria prohibida" von Rodrigo Atria, der essentiellen Chronik über die letzten Jahre der Diktatur. Auch der große chilenische Filmemacher, Raúl Ruiz, in dessen "La Recta Provincia" Augusto als Geist auftaucht, erscheint in einigen älteren Aufnahmen. Als Experte für Geister und ihre Verbindung zur Geschichte Chiles reflektiert er über die Erinnerung: den Horror, nicht zu erinnern und den Horror, nicht vergessen zu dürfen.

Die Erinnerung, heißt es im Film einmal, wäre die Identität. Paradoxerweise beweist der Film, dass ebendiese Identität auch und vielleicht vordergründig im Vergessen zu finden ist. So tauchen die verdrängten, unverdauten Bilder als Wahnvorstellungen wieder auf, wenn Augusto mit unsichtbaren Menschen streitet. Das Sich-Wieder-Verlieben im plötzlichen Erkennen hängt mehr am vorherigen Vergessen als an der Gewohnheit des Zusammenlebens. Die Liebe richtet sich bedingungslos auch auf den Menschen, der nicht mehr das ist, was er war.

Was ist man aber ohne funktionsfähige Erinnerung? Ein Körper im luftleeren Raum? Ein Staat ohne Gewissen? Es ist ein Verdienst des Films, diese Frage sowohl im Persönlichen wie im Politischen zu stellen, auch wenn das Persönliche stärker betont wird. Vor allem, weil er damit die Tragik eines Menschen erzählt, der ein Leben lang für die kollektive Erinnerung gekämpft hat, nur um am Ende seine eigene zu verlieren.

Der Film lädt dazu ein, ihm zu verzeihen. Das liegt daran, dass seine offensichtlichen Glättungen und Aussparungen, das allzu brave, fernsehtaugliche Grading, die formale Konventionalität oder die zu gefühlsselige Musik letztlich nur jenen Sätzen entsprechen, mit denen wir unsere Liebsten beruhigen wollen, selbst wenn es dazu keinen Anlass gibt. "Die unendliche Erinnerung" wirkt in sich wie eine dokumentierte Erinnerung, die sich entscheidet, manches zu vergessen. So kann man sich vorstellen, dass Pauli selbst diesen Film sehen kann, um sich jeden Tag zu erinnern, wie sie einmal geliebt hat. Für alle anderen bleibt ein Blick in die eigene Zukunft, der zugleich schmerzt und tröstet.

Patrick Holzapfel

Die unendliche Erinnerung - Chile 2023 - OT: La memoria infinita - Regie: Maite Alberdi - Laufzeit: 85 Minuten.