Im Kino

Künstlerkarrieren

Die Filmkolumne. Von Fabian Tietke
27.12.2023. Neue Wege des Dokumentarischen schlägt Susanna Fanzuns "Die Giacomettis" nicht ein. Dennoch erweist sich ihr Porträt der Schweizer Künstlerfamilie und insbesondere ihrer berühmtesten Mitglieder Alberto (Sohn) und Giovanni (Vater) als eine ergiebige filmische Meditation über künstlerische Lebenswege.


Die Bronzeskulpturen Alberto Giacomettis wie "L'Homme qui marche" ("Der schreitende Mann") sind Ikonen der europäischen Nachkriegsmoderne. Die Bilder seines Vater Giovanni Giacometti hängen in zahlreichen Museen. Die Schweizer Journalistin und Dokumentarfilmerin Susanna Fanzun nähert sich in ihrem Film "Die Giacomettis" der Familie, die aus dem Dorf Stampa im Schweizer Bergell stammt.

In den 1880er Jahren verlässt Giovanni Giacometti das Bergell, um in München und später in Paris an den Kunstakademien zu studieren. Vor allem die Zeit in Paris prägt die Malerei Giovannis, auch nach seiner Rückkehr. 1900 heiratet er Annetta Stampa aus dem nahegelegenen Borgonovo, ein Jahr später kommt das erste Kind zur Welt: Alberto. Es folgen Diego, Ottilia und Bruno. Fanzuns Film arbeitet zu Beginn vor allem die Parallelen zwischen der Künstlerkarriere von Giovanni und Alberto Giacometti heraus. Der entscheidende Unterschied wird, dass Alberto nach dem Weggang aus dem Bergell nie wieder ganz zurückkehrt und in seiner Wahlheimat Paris zu einem international bekannten Künstler wird.

"Die Giacomettis" zeigt, wie eng die Bande der Familie über viele Jahrzehnte bleiben. Vor allem die Beziehung zwischen den beiden ältesten Kindern, Alberto und Diego, nimmt einigen Raum ein. Diego sucht mit am längsten nach seinem eigenen Weg. Als die Mutter ihn zu seinem älteren Bruder nach Paris schickt, scheint alles an seinen Platz zu fallen. Die beiden wohnen für die nächsten Jahrzehnte zusammen in einem kleinen, ärmlichen Studio. Letztlich gehen alle Kinder der Familie ihren Weg: Während Alberto vor allem in der Nachkriegszeit bis zu seinem frühen Tod 1966 als Künstler weltbekannt wird, wird Diego Bildhauer und Designer, Ottilia Textilkünstlerin und Bruno Architekt.



Bis zum Tod der Mutter, Annetta Stampa, bleibt das Haus der Familie ein fester Bezugspunkt für alle Kinder. Fancuns Film arbeitet effizient die Wechselwirkungen zwischen innerfamiliären Beziehungen und den Lebenswegen der Familienmitglieder heraus. Die konkreten Einflüsse auf das Werk werden eher skizziert als ausgeführt. Eine einzige Episode sticht aus dieser Erzählung heraus. Gegen Mitte des Films verweist Fanzun auf Giacomettis Eingeständnis aus seinem surrealistisch beeinflussten Text "Hier, sables mouvants" ("Gestern, Flugsand") von 1933, er habe als Jugendlicher Mord- und Vergewaltigungsfantasien gehabt. Die Textstelle wurde in den letzten Jahrzehnten wiederholt zitiert und mit einigen Werken Giacomettis, vor allem "Frau mit durchgeschnittener Kehle" von 1932 in Verbindung gebracht. In Fanzuns Film bleibt die Textpassage seltsam im leeren Raum stehen und wird später im Film nicht wieder aufgegriffen.

In formaler Hinsicht kommt Fanzuns Film recht konventionell daher, man merkt die journalistischen Gewohnheiten der Arbeitsweise an. Die Kunst findet weitgehend vor der Kamera - in den Bildern, Fotos und Zeugnissen der Giacomettis - statt. Wobei bei Dokumentarfilmen zu Künstler_innen die Kunst des Filmemachens ohnehin eher in der Vermeidung filmischer Klischees besteht. In dieser Hinsicht schlägt sich "Die Giacomettis" recht gut. Abgesehen von einigen klischeehaften Reenactments von Alberto Giacomettis Kindheit und Jugend, wahlweise in sonnendurchfluteten oder schneebedeckten Bergen, konzentriert sich Fanzun darauf, die Ergebnisse ihrer beeindruckenden zehnjährigen Recherche vor den Zuschauern zu entrollen. Durch die Fülle und Schönheit der Materialien - vor allem die Briefe sind in ihrer Intimität ein guter Gegenpol zu den öffentlichen Personen - entwickelt sich "Die Giacomettis" trotz oder vielleicht sogar wegen der Konventionalität der Form zu einer filmischen Meditation über künstlerische Lebenswege und familiäre Wurzeln.

Fabian Tietke

Die Giacomettis - CH 2023 - Regie: Susanna Fanzun - Laufzeit: 104 Minuten.