Im Kino

Lustplanet Breillat

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
09.01.2024. Gesichter sind in Catherine Breillats neuem Film wichtiger als Unterleiber, und doch dreht sich alles um Sex. "Im letzten Sommer", der von der Affäre einer Anwältin mit ihrem 17-jährigen Stiefsohn erzählt, ist ein Film, dem man mit dem Schema von Norm und Abweichung letztlich nicht beikommt.


Nach dem Sex fällt ein Satz, der fallen muss, ein Satz, der gemäß der Skripts, die für die Situation, in der er fällt, zur Verfügung stehen, gesprochen werden muss: "Das darf nicht noch einmal passieren" sagt Anne (Léa Drucker) zu Théo (Samuel Kircher), mit dem sie gerade geschlafen hat. Théo ist ihr Stiefsohn und gerade einmal 17 Jahre alt, nicht einmal halb so alt wie sie selbst. Was passiert ist, durfte nicht passieren, ist aber trotzdem passiert, woran natürlich auch Annes Satz nichts ändert. Im Gegenteil und im Gegensatz zu seinem Wortlaut wirkt er normalisierend: Wenn es möglich ist, ein Geschehen projektiv zu negieren, kann man es genauso gut wiederholen - und dann einfach noch einmal denselben Satz aussprechen. Anne wird, auch das entspricht durchaus den gleichermaßen kinematografischen und soziokulturellen Skripts, an denen sich Catherine Breillat in ihrem neuen Film bis zu einem gewissen Grad orientiert, nicht loskommen von Théo und seinen gierigen Küssen.

Breillat nähert sich ihrem Leib-und-Magen-Thema Sexualität seit Jahrzehnten mit Vorliebe frontal. Der verklausulierte Blick durchs Schlüsselloch ist ihre Sache nicht. Wenn ihr Kino Tabus bricht, dann weder aufgrund besonders expliziter Bilder (selbst in ihren teilpornographischen Filmen "Romance" und "Anatomie de l'enfer" interessiert sie sich mehr für Gesichter als für Unterleiber), noch aufgrund einer besonders spektakulären Themenwahl (die inzestuös-missbrauchsnahe Beziehungskonstellation ihres neuen Films hat das Kino, durchaus auch in der hier gewählten Geschlechtervariante, schon mehrmals durchgespielt - tatsächlich ist "Im letzten Sommer" das Remake eines seinerseits nicht allzu interessanten dänischen Films); sondern aufgrund der monothematischen Wucht seiner Fixierung auf Bedingungen, Formen und Folgen körperlichen Begehrens.

Anders ausgedrückt: Breillats Filme zeigen genug Welt, um uns einen Abgleich mit unserer eigenen Lebenswelt zu erlauben - aber nicht mehr. Sie betten den Sex in den Fluss des Alltags ein, in diesem Fall in die Routinen einer ökonomisch saturierten Patchworkfamilie, zu der neben Anne und Théo noch Annes Partner und Théos Mann Pierre sowie zwei junge, dynamische, den Film mit jedem ihrer Auftritte belebende Adoptivtöchter gehören; aber anders als viele andere in einem konventionelleren Sinn freizügige französische Alltagsdramen ordnen sie ihn diesem Fluss nicht unter. Schon mit Théos erstem Auftritt, wenn er faunartig, mit nacktem Oberkörper an einem Türrahmen lehnt, ist es um Anne geschehen. Fortan gibt es keinen Fluss des Alltags mehr, nur noch eine Kaskade der Blicke und Berührungen, die den Rest der Welt zum bloßen Störsignal degradieren. Breillat weigert sich, das Sexuelle auf einen bloßen Bestandteil der sozialen Realität neben anderen zurecht zu schrumpfen. Auch als gebrochenes bleibt das Tabu in ihren Filmen in gewisser Weise in Kraft, es insistiert als ein obsessiver Rest, der sich den Trägheitskräften, dem Drift in Richtung Normalisierung widersetzt.



Tatsächlich sind nicht nur Breillats Filme, sondern auch ihre Protagonisten obsessiv und darin dem Alltag dezent enthoben, Angehörige einer Spezies, die dem Rest der Menschheit nur äußerlich ähnelt. Beziehungsweise: nur auf den ersten, flüchtigen Blick. Schaut man ihnen lang genug in die Gesichter, insbesondere beim Sex, dann verwandeln sie sich langsam aber sicher in Außerirdische, Abgesandte vom abgründigen Lustplaneten Breillat. Anne zum Beispiel wirft beim Beischlaf mit Théo einmal den Kopf in den Nacken und drückt ihn fast konvulsiv ins Kopfkissen. Druckers Gesicht wirkt aus dieser Perspektive seltsam maskenhaft, wie angeklebt, während der lange, obszöne Hals zum eigentlichen Ausdrucksmedium wird, zum Träger einer intimen Kommunikation, für die uns vorläufig noch die Rezeptoren fehlen. In einer anderen Szene sehen wir Anne in der Küche mit ihrer Schwester. Die ist ebenfalls eine der Außerirdischen und weiß außerdem von Annes Affäre mit Théo. Ganz nah schieben sich in Breillats Framing die beiden Gesichter zusammen und verwandeln sich in Chiffren einer libidinösen Asozialität, die keine gemeinsame Sprache spricht mit der Mehrheitsgesellschaft.

Nicht zuletzt bringen solche Bilder das Schema von Norm und Abweichung durcheinander, das man auf Breillats Filme gelegentlich anwenden zu können meint. Als "Normopathen" beschimpft Anne die Freunde ihres Mannes, ohne dass wir wüssten, womit die sich ein derart harsches Urteil verdient haben. Aber es passt zu ihrem Beruf: Anne arbeitet als Anwältin und ist spezialisiert auf Fälle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger. Dabei spürt sie in der Tat, wie ein paar eher skizzierte als ausgearbeitete Nebenhandlungen zeigen, den Pathologien des Normalen nach. Auch ihre eigene sexuelle Grenzüberschreitung lässt sich vorderhand als bourgeoise Psychopathologie durcherklären: Der schlaksige bad boy Théo könnte sie auch deshalb anziehen, weil er wie eine gleichzeitig unfertige und reinere Version ihres Mannes Pierre und seines massiven, auf gelebtes Leben aber eben auch einen Hauch Normopathie verweisenden Körpers anmutet. Eben weil sie in ihm den Vater liebt, vermag Anne nicht zu erkennen, was sie Théo - einer in psychologischer Hinsicht gleichfalls recht grob skizzierten Figur, die vermutlich Breillats Vorstellung eines typischen Generation-Z-Jungen entspricht - mit ihrem Begehren aufbürdet. 



Soweit fügt sich die Triebdynamik noch einigermaßen, siehe oben, ins Skript. Auch Annes Versuche, den familiären Frieden mithilfe geradezu monströser Manipulationsmanöver zu retten - die durchgehend famose Léa Drucker verwandelt sich in den entsprechenden Passagen fast schon in eine Horrorfilmfigur -, fügen sich ins Schema von bürgerlicher Norm und zu bekämpfender Abweichung. Doch da ist noch etwas anderes, etwas Dunkleres, eine Unsicherheit, die tiefer reicht; tiefer auch als die dem Film eher als Oberflächenskandal aufgeklebte, denn von ihm durchgearbeitete Paradoxie einer Anwältin der Opfer, die selbst zur Täterin wird.

Ein Schlüssel zum Film könnte in der allerersten Szene zu finden sein, die Anne mit einer Klientin zeigt, einer jungen Frau, wohl einem Missbrauchsopfer. In jedem Fall die Wahrheit sagen soll die Klientin, rät ihr Anne, auch wenn die Gegenseite versucht, sie als Schlampe darzustellen, die ihr Schicksal verdient hat. Denn: Die Richter sind das gewohnt, sie durchschauen es und werden die Wahrheit herausfinden.

Werden sie? Man muss kein #MeToo-Radikalfeminist sein, um Zweifel zu hegen - das juristische System orientiert sich nun einmal, zumindest operativ, an Verfahren, nicht an Wahrheit. Was sich in dieser Szene artikuliert, ist ein tröstendes, aber auch hilfloses Fantasma, die kontrafaktische Gewissheit, dass es irgendwo, und sei es nur in unserer eigenen moralischen Empörung, eine Instanz gibt, die all die fertigen Typen und manchmal auch Typinnen mitsamt all ihrem Bullshit durchschaut. Am Ende dieses in der erzählerischen Konstruktion nicht immer runden, jedoch gut nachwirkenden Films wird man sich womöglich immer noch an diese Gewissheit klammern. Aber vielleicht erwacht doch irgendwo die Ahnung, dass es sinnvoller wäre, loszulassen, mit Breillat ins Freie zu schwimmen.

Lukas Foerster

Im letzten Sommer - Frankreich 2023 - OT: L'été dernier - Regie: Catherine Breillat - Darsteller: Léa Drucker, Samuel Kircher, Olivier Rabourdin, Clotilde Coreau, Serena Hu, Angela Chen, Nelia da Costa - Laufzeit: 104 Minuten.