Im Kino

Waberndes Herumgemeine

Die Filmkolumne. Von Fabian Tietke
21.02.2024. Ein weiterer Film der diesjährigen Ausgabe der Woche der Kritik: "Wikiriders" Clara Winter, Miiel Ferráez und Megan Marsh möchte die Tradition des dekolonialen Kinos wiederbeleben und sie gleichzeitig mit einer offeren Form verbinden. Leider interessiert sich der Film zu wenig für das, wonach er vorgeblich - unter anderem auf Wikipedia - recherchiert.


Drei Menschen durchqueren im Auto Mexiko und den Südwesten der USA auf den Spuren einer Familie von mexikanischen Landbesitzern und Unternehmern, die seit dem 19. Jahrhundert über alle Zäsuren der mexikanischen Geschichte hinweg ihre Bedeutung bewahren konnte. In karger Landschaft, im Hintergrund ein Hochspannungsmast, Palmen und Kakteen, lassen sich die drei Wikipedia-Einträge über die Familie vorlesen - solange das fragile Internet mitspielt. Bei der anschließenden Autofahrt und am Abend in einer Bar wälzen die drei auf deutsch, englisch und spanisch Fragen, wie es sein kann, dass eine Familie über Jahrhunderte ihre Macht bewahren konnte. Die Filmemacher Clarer Winter, Miiel Ferráez und Megan Marsh reiten in ihrem Film als "Wikiriders" auf den Erzählungen der Internetenzyklopädie. Der Film läuft im Rahmen der diesjährigen Woche der Kritik.

Als sie die Bar verlassen, treffen die Filmemacher auf eine Bande von Männern gehobenen Alters, die in ihren Liedern die Geschichte Mexikos und politischer Kämpfe verarbeiten. Als die Lieder vorbei sind, erklärt einer der Männer das Programm der Band: "Wir müssen diese Ungerechtigkeit in einer Form einfrieren, die so verdammt populär ist, dass keine Geschichtsschreibung sie überschreiben kann." "Wikiriders" möchte nicht-linear und fragend entlang der Geschichte der Familie Flussmartin, die eine Art fiktives Kompositum mächtiger Familien in Mexiko zu sein scheint, eine Gegengeschichte Mexikos, des Verhältnisses zu den USA sowie des westlichen Imperialismus und Kapitalismus schreiben. Es stellt sich schnell Stagnation ein.

Das liegt in allererster Linie daran, dass der Gegenstand der Recherche wenig greifbar bleibt, auch nachdem der Film einen scheinbar abtrünnigen Sproß der Familie einführt, der als Filmemacher und Meditationsguru lebt. Es liegt außerdem daran, dass "Wikiriders" zwar die Form eines Roadtrips hat, aber keinerlei Interesse an den Orten, zu denen dieser führt. Stattdessen verharrt der Film bei den Gesprächen unter den Filmemachern in Coffeeshops, Diners oder im Auto auf der Fahrt. Dieses Desinteresse bleibt selbst dann beharrlich, wenn der Ort eine Steilvorlage ist, wie im Falle des Texas Rangers Law Enforcement Museums in Waco, Texas. Statt sich mit der Ideologieproduktion am konkreten Ort zu befassen, sieht man als Zuschauer die Filmemacher nach dem Besuch bei einem eher beiläufigen Gespräch, das über Allgemeinplätze kaum hinauskommt.



In anderen Szenen wird sogar das Konzept Recherche zur Farce. So etwa, wenn ein ominöser "Dr Wiki", der hinter einer Stahltür lebt, den dreien erklärt, wie man Wikipedia benutzt, dass unterschiedliche Sprachversionen unterschiedliche Informationen bieten und dass die Änderungen dokumentiert werden. Am Ende fragt man sich, wofür es all die Reisen und Fahrten braucht. Man könnte auch sagen, dass Problem ist, dass der Film die Form eines Rechercheroadtrips gewählt hat, aber nichts herausfinden will. Waberndes Herumgemeine über Reichtum, Kapitalismus, Imperialismus und die Welt im Allgemeinen ist in "Wikiriders" nicht von Recherche zu unterscheiden. Oder wie Clarer Winter im Film selbst sagt: "Und wir labern echt viel und hören wenig zu."

"Wikiriders" verhebt sich an einem Beitrag zu der klassischsten aller Formen dekolonialer Erzählung: der Gegengeschichte. Der Film ahnt stellenweise selbst, dass sein Projekt, an der Recherche zur Geschichte einer Familie eine Gegenerzählung aufzuhängen, scheitert. Im letzten Drittel fragt ein Rapsong: "Wir jagen einem Mann nach, der Probleme verkörpert, die strukturell sind. Aber macht es überhaupt Sinn, sich an einem Symbol zu rächen?" Dennoch lohnt es sich, die Form der Gegenerzählung, die der Film nutzt (und mit der er scheitert), prinzipiell zu verteidigen. In ihrer Offenheit ähnelt sie jener Form, die die vor drei Jahren verstorbene Filmemacherin Tatjana Turanskyj für ihren letzten Film "Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen" wählte. Doch während es Turanskyj und ihrer Koregisseurin Marita Neher um die Suche nach politischen Handlungsansätzen nach dem Ende der großen Erzählungen zu tun war, nutzen Winter/Ferráez/Marsh diese Form für eine Scheinrecherche, in deren Verlauf sie zuvor gefasste Überzeugungen wiederholen.

Hinsichtlich der Gegenerzählung greift "Wikiriders" einen stehenden Topos des Kinos der Dekolonialisierung auf: die Herausforderung historischer Narrative, die Machtstrukturen perpetuieren. Als das Kino der Dekolonialisierung in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre noch auf Formsuche war, donnerte "La hora de los hornos" von Fernando Solanas und Octavio Getino mit einer Gegenerzählung zur Geschichte der kolonialen Ausbeutung Argentiniens und der Perpetuierung eines Machtgefälles im 20. Jahrhundert mitten in den Sommer 1968 hinein. In ihrem viereinhalbstündigen Film setzen Solanas/Getino gängigen Narrativen zur argentinischen Geschichte politische Setzungen entgegen, die das Publikum damals als Augen öffnend verstanden. Der US-Filmemacher Travis Wilkerson verbindet diese Art der Gegenerzählung im Kino der Gegenwart mit Elementen seiner eigenen Familiengeschichte. Zuletzt nutzte er diesen Ansatz in "Nuclear Family", der eine Geschichte der Raketensilos für die Atomraketen der USA mit einer Geschichte der Landnahme und Familienausflügen verband. Wilkersons neuer Film "Through the Graves the Wind Is Blowing" läuft parallel zu "Wikiriders" in der Sektion Encounters der Berlinale.

Sowohl Solanas/Getino als auch Wilkerson hämmern ihren Zuschauern in beeindruckender Schlagzahl Gewissheiten entgegen. Man versteht, warum Filmemacher der Gegenwart das Bedürfnis verspüren, dieses Konzept einer autoritativen Gegenerzählung aufzubrechen. Das Problem von "Wikiriders" bleibt jedoch leider, dass auch die Offenheit der Form den Widerspruch zwischen der Recherche als Form und dem Desinteresse der Filmemacher am Erkunden oder auch nur Exemplifizieren des Behaupteten nicht aufheben kann.

Fabian Tietke

Wikiriders---the-thesis - Mexiko, Deutschland 2024 - Regie: Clarer Winter, Miiel Ferráez, Megan Marsh - Laufzeit: 60 Minuten.