Im Kino

Nicht gleich wie ein Raubtier

Die Filmkolumne. Von Robert Wagner
27.09.2023. Ein Paranoiathriller aus der türkischen Provinz: Emin Alpers "Burning Days" setzt sich aus simplen, klar lesbaren Bausteinen zusammen, die sich am Ende dennoch in ein komplexes, bedeutungsreiches Bild fügen.


Kemal (Erdem Şenocak) sitzt mit dem Anwalt Şahin (Erol Babaoğlu) im Büro des neuen Staatsanwalts Emre (Selahattin Paşalı). Während einer Treibjagd sind verbotenerweise Schüsse innerhalb der Stadt gefallen. Emre, jung und pedantisch, will die Schützen zur Verantwortung ziehen. Şahin bittet um Nachsicht für seine Freunde, weil nur in die Luft geschossen wurde und es in Yanıklar, einer fiktiven Stadt in der türkischen Provinz, nun mal Tradition sei, Wildschweine durch die Stadt zu treiben. In seinem jovialen Lächeln steckt aber auch die dezente Drohung, dass seine Freundlichkeit und Unterordnung nur temporäre Zugeständnisse an einen Neuling sind, der erst noch lernen muss, wie es sich mit den Machtverhältnissen vor Ort wirklich verhält.

Die Szene ist einfach und klar, wie auch "Burning Days" durchgängig klar aufgebaut ist. Zumeist sitzen zwei bis drei Leute zusammen und reden. Zumeist in einer kleinen Auswahl von Orten: in besagtem Büro, im Garten des Bürgermeisters, an einem See, in Emres Wohnung und in der des Journalisten Murat (Ekin Koç). Zu den Genannten gesellen sich noch eine Handvoll weitere Leute. Das Geschehen bleibt konzentriert und in einem sehr überschaubaren Horizont einfacher Gegensätze - Archaik vs. Zivilisation, selbstsichere (Şahin) vs. unsichere Präsenz (Emre), "herbe" Männlichkeit vs. "weiche", Korruption vs. Idealismus. So simpel Regisseur und Autor Emin Alper seinen Film strukturell hält, so deutlich ist durchweg, dass hinter dieser Klarheit ein Labyrinth an Bedeutungen lauert.

In Yanıklar herrscht Wasserknappheit. Die Zugriffe aufs Grundwasser lassen dessen Spiegel sinken, was zu Sinklöchern führt - erdrutschartigen Einbrüchen mitten in der Stadt, die metertiefe und -breite, kreisrunde Löcher hinterlassen. Zudem steht eine Wahl an, die über den Umgang mit dem Wasser entscheiden wird. Es schwelt ein alter Machtkampf, von dem Emre nichts ahnt. Dokumente werden unter Verschluss gehalten, Korruption herrscht. Hinter jedem Lächeln, hinter jeder Hilfestellung könnte ein Dolch zu lauern.

Zu den lokalen Unwägbarkeiten kommen persönliche. Am Abend nach dem Bürobesuch geht Emre zum Bürgermeister. Aus dem formellen Treffen wird ein Saufabend mit Şahin. Emre bricht unter den Mengen des Rakı zusammen - oder sind Drogen im Spiel? Am nächsten Morgen liegt jedenfalls ein Roma-Mädchen (Eylül Ersöz), das auch im Garten anwesend war, vergewaltigt und zusammengeschlagen im Krankenhaus - nicht zum ersten Mal. Der Staatsanwalt sucht in seinem Filmriss nach Erinnerungen, nach den Tätern, nach Schuld oder Unschuld. Paranoia greift um sich.



Paranoia, die nicht unbedingt mit den kreativsten Mitteln geweckt wird. Wir sehen die Handlung aus Emres Sicht und teilen mit ihm deshalb die Lücken des Wissens. Sichtlich halten die anderen Figuren Informationen zurück. Die Bevölkerung Yanıklars bleibt anonym und wird als schwankende Masse instrumentalisiert, die den Staatsanwalt erst als säubernden Besen zu begrüßen scheint und dann doch zur zombiehaften Masse des Mobs wird. Die Musik lädt noch die einfachste Situation spannungsvoll auf, ohne dass die Bedrohung sich konkretisieren würde. Emre wird nicht als Sympathieträger und Held aufgebaut. Seine Makel lassen uns auch an ihm Zweifeln.

Es ist die treffende Ironie von "Burning Days" - und des Mediums Film überhaupt -, dass man als Zuschauer die Werkzeuge des Filmemachers deutlich vor sich sehen kann, dass der Film aber trotzdem wirkt. Die Blutspur des Wildschweins, die sich durch die Stadt zieht; das in Emres Wohnung verteilte Rattengift; die klaffenden Löcher in der Stadt: Motivhaft werde Fallen, Verfolgung und Gewalt am Rand der Handlung platziert und verstärken die Atmosphäre. Das Spiel aus expressiven Rückblenden, die mit schwammigen Erinnerungen Emres Persönlichkeit nachhaltig zersetzen, und impressiven Landschafts- und Detailaufnahmen, die sich zuweilen zwischen die Handlung schieben, erzeugt ein stilles Brodeln.

Und in all dem befindet sich dann auch noch jemand wie Kemal, der zu Beginn mit Emre und Şahin im Büro sitzt. Weder wirkt er seriös genug für einen Austausch zwischen Anwälten, noch hat er etwas beizutragen. Es scheint klar zu sein, dass er mit seiner Aura eines besseren Dorftrottels Şahins Eindruck abschwächen soll. Damit dieser nicht gleich wie das Raubtier wirkt, das Darsteller Erol Babaoğlu seiner Figur bei aller verbalen Freundlichkeit aus jeder Pore dringen lässt. Es ist aber auch so, dass Kemals Lächeln später, wenn er mit einem Stock in der Hand durch die Nacht jagt, kaum anders als zu Beginn im Büro wirkt. Das Irre und Wahnhafte taucht nicht plötzlich auf, sondern war von Beginn an vorhanden.

Kemal ist eines von vielen Details, die gleichermaßen unscheinbar und klar erscheinen, aber vermittels so simpler wie effektiver Verschiebungen, vermittels konzentrierten Filmhandwerks und eines guten Auges für Schauspieler und Situationen den Film nicht einfach nur schwerer greifbar, sondern auch eindrücklicher, unangenehmer machen. "Burning Days" funktioniert in dieser klaren Unklarheit als Verschwörungsthriller, als politische wie existenzielle Parabel und als Psychogramm, ist dicht und reichhaltig. Wenn wir einem anderen Pfad von ausgestreuten Brotkrumen folgen, dann auch als fragile, schwule Liebesgeschichte in einem Umfeld aus Misstrauen und Homophobie. Vor allem ist es aber ein Film, der uns einlädt, in Gesichter zu schauen und zu rätseln, ob sie so einfach zu durchschauen sind, wie sie scheinen.

Robert Wagner

Burning Days - Türkei 2022 - OT: Kurak günler - Regie: Emin Alper - Darsteller: Selahattin Paşalı, Erol Babaoğlu, Erdem Şenocak, Eylül Ersöz, Ekin Koç - Laufzeit: 129 Minuten.