Im Kino

Wimmern, schluchzen und weinen

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann
13.12.2023. John Woo verzichtet in seinem Rachethriller "Silent Night" auf gesprochene Dialoge. Der erste amerikanische Film des Action-Großmeisters seit 20 Jahren erreicht zwar nicht ganz den Irrwitz seiner älteren Meisterwerke; dank einer bewährten Mischung aus Stilwille und roher Gewalt überzeugt das Ergebnis dennoch. 


Ein Mann rennt
. Die Rentiernasenpommel an seinem Weihnachtspullover schwingen in Zeitlupe. Das Klirren des Glöckchens, das er um den Hals trägt, scheint von sehr weit herzukommen. Als die Kamera das Blut an seinen Händen und seiner Kleidung in den Blick nimmt, begreifen wir, dass er auf der Flucht ist. Die Vorspannsequenz von "Silent Night" zeigt, dass sich John Woo in seinem ersten amerikanischen Film seit 20 Jahren auf seine Kernkompetenzen zurückbesinnt: eine Mischung aus frenetischer Action, brachialer Gewalt, melodramatischen Zuspitzungen und plumpem aber effektivem Symbolismus. Es geht ihm darum, für das zentrale Thema des Verlusts der Unschuld möglichst eindrucksvolle Bilder zu finden; etwa auch in einer Krankenhausszene wenig später, in der massenhaft sprudelndes Blut das sterile Weiß eines OP-Saals kontrastiert.

Die Handlung hingegen ist auf ein grobes Gerüst heruntergebrochen: Der Mann, der sich zu Beginn auf der Flucht befindet, heißt Brian Godlock (Joel Kinnaman). Sein Sohn wurde bei einer Schießerei zwischen verfeindeten Gangs von einem Querschläger getötet. Anschließend jagten die Gangster ihn, schossen ihm in den Hals und ließen ihn als tot zurück. Wider Erwarten überlebt er, verliert durch die Verletzungen aber seine Stimme - und kennt nun nur noch das Ziel, seine Peiniger zur Strecke zu bringen.

Der größte Unterschied zwischen "Silent Night" und zahllosen vergleichbaren Rachethrillern besteht darin, dass Woo diese Geschichte als eine Art beinahe-Stummfilm erzählt, in dem Sprache zwar in schriftlicher Form oder auch als Geplärr aus dem Radio omnipräsent ist, es aber so gut wie keine Dialoge gibt. Das ist im Großen und Ganzen schon ein etwas bemühtes, prätentiöses Gimmick, dem Woo jedoch mit seinem Talent fürs Melodramatische und der Wucht seiner Bilder Leben einhaucht.



Ein beeindruckender Matchcut, verbindet eine über die Wange von Brians Frau Saya (Catalina Sandino Moreno) laufende Träne mit einer zu Boden fallenden Patrone - und genau darum geht es: Wo die Sprache versagt, die Tiefe des Verlusts die Menschen nur noch wimmern, schluchzen und weinen lässt, können sie ausschließlich durch die Gewalt doch wieder zu ihrer Stimme finden. Die Ausführlichkeit, mit der das Training gezeigt wird, mit dem sich Brian zwei Jahre lang auf seinen großen Rachefeldzug vorbereitet, unterstreicht das Moment der Entmenschlichung, etwa wenn er mit Puppen den Nahkampf mit Händen und Messern übt.

Gleich die erste Kampfszene, in der sich Brians hart erarbeitete Skills am lebenden Objekt bewähren müssen, inszeniert Woo mit der Souveränität des alten Action-Meisters. Der erbitterte Kampf, in dem sich Brian und einer der Gangster durch eine Werkstatt prügeln, ist so brachial inszeniert, dass man als Zuschauer in Deckung gehen möchte. Was ihm in dieser vergleichsweise kleinen Produktion an Budget mangelt, macht Woo mit Stilwille und roher Gewalt locker wett.

Im Finale ballert sich Brian an der ästhetischen Schnittstelle seines eigenen "Hard-Boiled" und Ego-Shootern durch das Treppenhaus eines infernalischen Abrissgebäudes, in dem sich das Oberhaupt der Gang versteckt. Oben angekommen erwartet uns ein Zeitluppen-Rausch aus blinkendem Licht und Heroin, fliegenden Kugeln und getroffenen Körpern. Auch wenn es ihm nicht gelingt, an den Irrwitz der Heroic-Bloodshed-Meisterwerke seiner Hongkongfilme der späten 1980er und frühen 1990er anzuknöpfen, ist John Woo hier merklich in seinem Element.

Nicolai Bühnemann

Silent Night - USA 2023 - Regie: John Woo - Darsteller: Joel Kinnaman, Catalina Sandino Moreno, Kid Cudi, Harold Torres, Yoko Hamamura, Vinny O'Brien - Laufzeit: 104 Minuten.