Im Kino

Nur noch Impulse

Die Filmkolumne. Von Robert Wagner
24.01.2024. Opfer und Täter zugleich war die Jüdin Stella Goldschlag, die in der Nazizeit hunderte andere Juden an die Gestapo auslieferte - um des eigenen Vorteils und Überlebens willen. Diese Ambivalenz steht so sehr im Zentrum des Films von Kilian Riedhof, dass neben ihr nicht viel Platz bleibt für anderes. Den Zeitgeist trifft "Stella. Ein Leben." dennoch.


Vor dem Abspann werden die unausweichlichen Texttafeln eingeblendet, welche die Fiktion abschließend mit der Realität in Verbindung bringen: Uns wird mitgeteilt, dass Stella Goldschlag Opfer und Täterin war und dass sie hunderte Juden der Gestapo auslieferte - im Anschluss an einen Film, der uns von der Ambivalenz einer Jüdin erzählte, die während des Zweiten Weltkriegs in Berlin ständig in Angst lebte, in einem Konzentrationslager zu landen oder gleich auf der Straße von Nazis getötet zu werden. Die gejagt und gefoltert wurde. Die für ihr Überleben wie auch für die Chance, weiterhin "normal" zu leben, Informantin der Gestapo wurde und hunderte Juden dem Tod auslieferte.

Ob eine solche Zusammenfassung eines gerade zu Ende gegangenen Films im fehlenden Vertrauen in dessen Fähigkeit gründet, Inhalte zu vermitteln, oder ob sich darin das fehlende Vertrauen in das Publikum, Inhalte zu verstehen, ausdrückt, mag jeder für sich entscheiden. Eine Tendenz von "Stella. Ein Leben" illustrieren die Texttafeln jedoch nachhaltig. Die Ambivalenz zwischen Opfersein und Täterschaft ist so sehr Mittelpunkt der Erzählung, dass jede andere Ambivalenz dahinter verloren geht. Zuweilen lässt sich kaum das Gefühl abschütteln, dass wir Argumente Für und Wider geliefert bekommen, die vor allem uns, die Zuschauer, dazu befähigen sollen, auszudiskutieren, ob sie eher Täter oder Opfer war.

Zu Beginn: Jazz. Stella (Paula Beer) probt mit ihrer Band unter anderem "Let's Misbehave". Ein Rest der wilden Zwanziger, von Freiheit und Aufbruchsstimmung weht durch die Szenerie. Nur, dass der Trompeter seinen Einsatz ständig vermasselt. Es ist bereits 1940. Sein Vater wurde verhaftet. Er weint, ist verzweifelt und nicht bei der Sache. Stella schmeckt das nicht: "Wir sind doch nicht aus Zucker.", pocht sie auf die Fortsetzung der Probe. Später, nachdem ihr Mann Manfred (Damian Hardung) ins Konzentrationslager abtransportiert wurde, weint sie lauthals im Arm ihrer Mutter (Katja Riemann). Es ist Nacht. Die Nachbarn lauschen gern. Mit ihren Eltern lebt sie versteckt bei einer Familie. Die Trauer anderer stört sie, ihre eigene Trauer hingegen bedarf der grenzenlosen Intensität, der großen Show.



Wie an einer Perlenkette werden die Argumente Für und Wider aufgefädelt, die sich zu einer jungen Frau fügen, die gern berühmt werden möchte - oder viel basaler: die etwas erleben, die leben möchte -, die dafür aber in der falschen Zeit lebt. Hier die Stella, für die es ein Menschenrecht ist, auf der Straße gehen zu können, die sich nicht verstecken kann, für die das Unrecht der Nazis nicht erst unerträglich wird, wenn diese flüchtige Juden kaltblütig erschießen und in KZs deportieren, sondern auch, wenn sie per Stern kenntlich gemacht und der Willkür einer Übermacht ausgesetzt werden. Dort die Egoistin, die ihr Vermeiden von Leid auf dem Schmerz anderer aufbaut. (Fast) Alles ist egal, Hauptsache ihr geht es noch gut. Zeitweise lebt sie mit dem Gangster Rolf Isaaksohn (Jannis Niewöhner) zusammen. Gemeinsam foppen sie die Nazis - allein durch ihre unverschämte Präsenz auf der Straße, durch dreiste Diebstähle. Sie finanzieren sich aber auch mithilfe gefälschter Ausweise und Lebensmittelmarken, die sie zum maximalen Preis verkaufen, der aus ihren Mitmenschen herauszuholen ist.

In "Stella. Ein Leben" leuchten die Augen Paula Beers in einem stechenden Himmelblau. Zu Beginn lässt sie sich die Haare blondieren und danach bleibt ihr für den Rest des Films die strahlendblonde Mähne erhalten. Wegen ihres Lebenswandels wirft Stellas Mutter ihr zudem vor, dass sie eine Schickse sei - also eine Nicht-Jüdin oder halt eine Jüdin, die nicht jüdisch lebt. Stellas Leben lässt sich am ehesten zusammenfassen als Wille, nicht anders, nicht ausgegrenzt zu sein. Geradezu zwangsläufig wird sie zur Kollaborateurin, weil sie sich nicht von den Nazis distanziert, sondern wie diese leben möchte. Wo die anderen Juden glauben, dass es in den KZs niemals so schlimm sein kann wie die Gerüchte sagen, glaubt sie, dass sie nur leben kann, wenn sie diesen Juden-Stern endgültig von ihrer Brust ab- und aus ihrem Pass herausbekommt.

Weshalb sich die von "Stella. Ein Leben" anvisierte Ambivalenz auch so übersetzen lassen könnte: Während die Juden, die verschleppt, getötet und von ihr verraten werden, einfach nur leiden, schmerzt sie etwas anderes: ihr von den Nazis verursachte Leid, aber auch der Berg aus Schuld, den sie zunehmend ansammelt und gerne verdrängen möchte. Der Film von Regisseur Kilian Riedhof trifft den Zeitgeist passgenau, wenn sein Deutschlandstart von Massendemonstrationen gegen die AFD quasi flankiert wird. Dort wehrt man sich auch gegen die Ambivalenz. Klar Kante gegen rechts, damit niemand mehr vor der Wahl stehen muss, Opfer oder Kollaborateur (und damit doppeltes Opfer) zu sein.

Zuweilen ist "Stella. Ein Leben" ein faszinierender und guter Film. Wenn der Rausch des Lebens am Abgrund in ein wildes Kameraschwenk- und Schnitt-Gewitter übersetzt wird, in dem nur noch Impulse, aber kein klarer Gedanke ankommen. Oder, noch besser, wenn Stella in den bevölkerten Straßenzügen Berlins steht - entweder im Versuch nicht aufzufallen oder, später, umherschauend, ob sie einen Bekannten sieht oder einen Juden, der im Fluss der Deutschen untertauchen möchte; wenn "Stella. Ein Leben" also zum garstigen Körperfresserhorror wird, wenn jemand panisch aus der Masse heraus rennt, weil hinter ihm jemand - mit dem Finger auf zeigend - "Jude" schreit. Aber solche filmischen Ideen werden nur bedingt kultiviert. Mehr Augenmerk liegt auf dem Argumentativen. Letztlich sammelt der Film nur wenige Argumente dafür, in ihm mehr zu sehen als einen weiteren angestrengten deutschen Bewältigungsfilm.

Robert Wagner

Stella. Ein Leben. - Deutschland 2023 - Regie: Kilian Riedhof - Darsteller: Paula Beer, Bekim Latifi, Damian Hardung, Jannis Niewöhner, Joel Basman - Laufzeit: 121 Minuten.