Im Kino

Was soll schon passieren?

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt
27.09.2023. Ein bisschen Konformismus tut oft weniger weh als eine Konfrontation. Aber wer zu spät "Nein" sagt, den bestraft das Leben. Oder ein dänischer Thesen-Horrorfilm wie Christian Tafdrups "Speak No Evil".


Ein "Nein" fällt oft schwer. Selbst wenn jemand die gewohnheitsrechtlichen Grenzen übertritt oder in die eigene Komfortzone eindringt, kommt es einem nur schwer über die Lippen. Ein bisschen Konformismus tut irgendwie weniger weh als eine Konfrontation und die damit Überwindung einer Schamgrenze oder gar die offene Konfrontation. Und was soll schon groß passieren?

Björn (Morten Burian) verkneift sich das erste "Nein" bereits in der ersten Szene des Films. Eigentlich möchte er ungestört am Pool liegen und seinen Roman lesen. Eigentlich hält er eine Sonnenliege für seine Frau Louise (Sidsel Siem Koch) frei. Aber was soll schon passieren, wenn er sie dem Mann überlässt, der ihn gerade angesprochen hat? Björn, Louise und Tochter Agnes machen Urlaub in der Toskana. Das Wetter ist traumhaft, die Landschaft zum Niederknien und das Ressort bietet sogar einen Babysitter-Service an, der dem Paar einen seltenen freien Abend ohne die Tochter beschert. Und ja, sogar der etwas aufdringliche Liegennachbar Patrick (Fedja van Huêt), seine Frau Karin (Karina Smulders) und ihr Sohn sind nett. Patricks Lobreden sind ein wenig zu überschwänglich (Louises Vegetarismus wird zur Rettung vor der Klimakatastrophe, Björns Suche nach dem Kuschelhasel der Tochter zum heroischen Akt des Vaterseins) und Sohn Abel ist ein wenig zu verschwiegen, aber warum nicht Zeit mit ihnen verbringen? Eine Frage, die sich nach dem Urlaub erneut stellt, als eine Postkarte der niederländischen Urlaubsbekanntschaft im Briefkasten liegt. Die dänische Kleinfamilie ist herzlich eingeladen, sie in ihrem Ferienhaus zu besuchen. Man ist zwar schon zweimal in den Urlaub geflogen, aber im Zweifel könnte man ja mit dem Auto fahren - was soll schon passieren?



Im Ferienhaus zieht "Speak No Evil" die Schrauben an und wird zur Abhandlung darüber, was alles passieren kann. Die niederländische Familie tritt den Gästen zunehmend auf die Füße. Die Vegetarierin Louise soll den Wildschweinbraten probieren, Karin ist allzu vertraut mit der Tochter der dänischen Familie, Patrick allzu grob zum eigenen Sohn und der spontan und ohne vorige Abstimmung angeheuerte Babysitter ist ein Fremder. Filmemacher Christian Tafdrup drückt den Film langsam und unerbittlich in Richtung eines Grauens, das sich in den sozialen Zwischenräumen einnistet, dort, wo Situationen schwer erträglich werden und es dennoch unangenehm bleibt, eine Grenze zu ziehen. Wo muss man widersprechen, wo sich zurücknehmen? Der ethische Druck hinter diesen Fragen, oder eher, hinter den dazugehörigen Antworten, die Tafdrup impliziert, schiebt den Film an.

Nicht von ungefähr ist Michael Haneke der erste Name, den die Kritik für den dritten Film des Regisseurs als Vergleich bei der Hand hat. "Speak No Evil" ist Horrorkino als Lehrstück. Nicht als lustvolle und blutige Erkundung der unterschiedlichen Kräfte, die hier am Werk sind, sondern als hartes, trockenes, bis zum bitteren Ende durchkalkuliertes Thesenkino. Das Böse gewinnt, wenn man es lässt. Ästhetisch ist "Speak No Evil" entsprechend entlang dieser Linearität organisiert. Das Grauen wächst im Kleinen, dringt mit dunklen Klängen ins Urlaubspanorama, lässt die Stille ein wenig zu lange stehen und bringt mit der Zeitlupe seine Vorboten eben dort hin, wo scheinbar nur ein Kühlschrank eingeräumt wird. Das Böse übermannt uns schleichend, bis wir paralysiert dabei zusehen müssen, wie es uns verschlingt.

Seine Spannung zieht "Speak No Evil" aus dem garstigen Katz-und-Maus-Spiel mit der Durchschnitts-/Mittelstands-Familie. Wie weit reicht ihre Leidensfähigkeit? Wann sagen sie endlich "es reicht"? Einen Zweifel daran, dass die Situation ins Bestialische eskaliert und das "Nein" sehr wahrscheinlich erst dann kommen wird, wenn es längst zu spät ist, lässt der Film nicht. Tafdrups autoritäres Malen nach Zahlen zeichnet immer nur die Linien dessen nach, was eben passiert, wenn man es passieren lässt. Vom ersten verkniffenen "Nein" an ist alles ausgemachte Sache. Was Hänschen nicht lernt, etc. etc. Doch ist der Raum, der zwischen einem klaren "Nein" und dem konformistischen Dulden liegt, eben nicht eindeutig. Er ist kein exakt bestimmbarer Punkt in einem Koordinatensystem, das in alle Richtungen klare Grenzen absteckt. Das Sozialgefüge von Individuen, Gruppen und Familien ist unermesslich, komplex, undurchschaubar. Das kleinste bisschen verletzten Stolzes, die winzigste, kaum wahrnehmbare Kränkung und die harmloseste Spitze vermögen Verhältnisse in die ein oder andere Richtung zu kippen - oft zur völligen Überraschung derer, die den Ehepartner, die Tochter oder den Freund gut zu kennen glauben. Tafdrup schöpft eben nicht aus dieser Spannung, hat keine Interesse daran, ihre Dynamik zu erkunden. Er zermalmt sie mitsamt seiner Figuren und seinem Publikum erbarmungslos. Man kann schließlich jederzeit "Nein" sagen.

Karsten Munt

Speak No Evil - Dänemark 2022 - Regie: Christian Tafdrup - Darsteller: Morten Burian, Sidsel Siem Koch, Fedja van Huêt, Karina Smulders - Laufzeit: 97 Minuten.