Im Kino

Tanz-Tourette

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt
17.01.2024. Eine einem bizarren medizinischen Experiment entsprungene Frau gerät in "Poor Things" in die Fänge von Männern, die versuchen, sie in ihrem Freiheitsdrang zu beschneiden. Yorgos Lanthimos' neuer Film überzeugt streckenweise als variantenreiche Komödie, kann aber letztlich von der Moral nicht lassen.


Im Anwesen von God (Willem Dafoe) - oder Godwin Baxter, wie ihn der Rest der Welt nennt - passt die Welt nicht ganz zusammen. Die französische Bulldogge trägt den Kopf einer Gans, der Hundekopf sitzt auf einem fremden Rumpf. Den anderen Wesen, die herumstreunen, geht es ähnlich, oder sie warten noch auf die artübergreifende Transplantation im privaten Obduktionsraum. Baxter ist eine Koryphäe der Medizin. Aus einer Zeit, als Medizin und Medizinethik noch genug Entwicklungsbedarf hatten, um die Amputation von Tierköpfen zu dulden, zu brauchen oder zu wollen.

Die wichtigste Kreation des Mannes, der Frankenstein und dessen Monster auf recht sympathische Art in sich vereint, ist keine tierische Scheußlichkeit, sondern seine "Adoptivtochter" Bella (Emma Stone). Das Wort muss natürlich in Anführungszeichen stehen, denn Bella ist in den Körper der buchstäblich gehirnamputierten Mutter hineingeboren, die zu Anfang des Films von der Brücke fällt. Das Gehirn des ungeborenen Babies hat Baxter kurzerhand in den Kopf der Mutter verpflanzt. Die ethischen Implikationen, die Baxters neuer Assistent Max McCandles (Ramy Youssef) zur Sprache bringt, drängt der Wissenschaftler schnell beiseite ("Would you rather she didn't exist?").

So stolpert das Baby, das aussieht wie eine Frau, durch die Hallen Gods, pinkelt auf den Fußboden, macht "gaga bubu"-Laute und weiß noch nicht, wohin mit den eigenen Extremitäten. "What a pretty retard", findet auch der Assistent. Max gibt sich Bella gegenüber gutmütig. Er möchte sie sogar, als sie geistig vom Säuglings- ins Kleinkindalter gereift ist, heiraten. Passend dazu ist er in dem Moment anwesend, in dem Bella ihre eigene Vulva und den Spaß entdeckt, den ihr ihre Finger bereiten, um ihr gleich die dazugehörige Scham zu erklären. Aber Bella macht, das ist das wiederkehrende Motiv des Films, trotzdem ihr Ding. Dafür verlässt sie das Haus Gottes und bricht mit dem Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) auf, um die weite Welt zu entdecken.



Die Welt da draußen ist atemberaubend, wie so oft bei Giorgos Lanthimos, der als Filmemacher in erster Linie ein Bastler absurder und fantastischer Welten, schräger Zukünfte und fiktiver Vergangenheiten ist. Mit jedem neuen Film und den zunehmend größeren Budgets dahinter, bastelt der griechische Regisseur an immer elaborierteren Bizarro-Universen: grotesk familiär ("Dogtooth", "The Killing of a Sacred Deer"), dystopisch ("The Lobste""), oder eben, bereits mit "The Favourite" und jetzt mit "Poor Things", fantastisch/historisch. Was Alasdair Grays Romanvorlage imaginiert, bringt Lanthimos' Adaption in lustvoller Variation auf die Leinwand. Erscheint Gods Stadthaus als schwarz-weißes Kuriosum, das Robbie Ryans Kamera im erratischen Wechsel der Brennweiten vermisst, ist die Außenwelt ein pittoreskes Plastinat übernatürlicher Kontraste und spleeniger Grazie. Der Himmel glänzt in allzu vielen Farben, die portugiesische Hauptstadt (das erste Ziel von Bellas Weltentdeckungstour) sieht aus wie der mediterrane Themenflügel eines Steampunk-Einkaufszentrums.

Im schrillen Europa gibt es viel Schönheit zu entdecken. Aber eben auch - sonst wäre Lanthimos nicht Lanthimos - einen Haufen toter Babies, Männer, deren sexuelle Befriedigung dort anfängt, wo Frauen den Spaß am Sex verlieren (aller liberalen Pose zum Trotz sind die hässlichsten und versehrtesten wiedermal die garstigsten) und Männer, die die Welt mit Revolvern terrorisieren. Überhaupt: Männer. Speerspitze der Maskulinität, die die Welt bedeutet, ist Mark Ruffalo als Duncan Wedderburn. Zunächst taugt er ganz gut als Dauerrammel-Partner, der die Dinner-Rechnung übernimmt. Aber auch er ist eher dagegen, dass Bella das Schlafzimmer verlässt und selbst etwas erlebt. Als sie einmal den Reigen der feinen Gesellschaft mit der überexpressionistischen Zappelei ihres Freitanzes sprengt, versucht Wedderburn, sie einzufangen und die gemeinsamen Bewegungen zugleich in etwas umzuleiten, was ihn gut aussehen lässt. Ruffalo und Stone waren selten besser als in der Cartoon-Wolke dieser Tanzszene. Das in Grimassen und Fuchteleien ausartende Tanz-Tourette trägt auf zweierlei Weise die Essenz von "Poor Things" in sich. Einerseits sind Wedderburn und Bella im physischen und damit eindrucksvollsten Sinn der bürgerliche Clown, der seinen Besitz einzufangen versucht und die Frau, die längst nicht mehr eingefangen werden kann. Der Tanz beschreibt, was Lanthimos mit der Soziosphäre seiner Welten anstellt: er feuert mit Tics, Obszönitäten und anderen Grenzüberschreitungen drauflos. In "Poor Things" ist das auch abseits der Tanzfläche immer wieder komisch.

Aber: nur eine Komödie, so etwas gibt es bei Lanthimos eben nicht. Seine Welt ist nie um ein Genre und schon gar nicht um Figuren gebaut: sie ist moralisches Anschauungsmaterial. Es geht weniger um die Einsamkeit des vernachlässigten Geschöpfs, als um eine Untersuchung der Gesellschaft, die Schlange steht, um es zu zerstören. Dass die gehirnamputierte Bella wie Kaspar Hauser gegen allen Widerstand zur Menschlichkeit findet, fühlt sich dementsprechend weniger wie ein erfüllter Herzenswunsch an als wie eine Morallektion, die aus einer gefälschten Studie extrahiert wurde. Der Spaß, die Verspieltheit und auch Bella haben sich der moral-zentrischen Striktheit zu unterwerfen, mit der Lanthimos die Welt vermisst. "Poor Things" ist Lanthimos bester Film, Emma Stones beste Performance und doch kommt das komische Märchen nicht los vom geschlossenen System miesepetriger Misanthropie, das an einem Filmemacher klebt, der immer das Hirn, aber nie das Herz transplantieren will.

Karsten Munt

Poor Things - USA, Großbritannien 2023 - Regie: Yorgos Lanthimos - Darsteller: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Jack Barton, Kathryn Hunter - Laufzeit: 141 Minuten.