Im Kino

Prickeln und Schäumen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
26.07.2023. In Frankfurt ging am Wochenende die Terza Visione zu Ende: Fünf Tage lang Klassiker, Vergessenes und Wahnsinnigkeiten des italienischen Genrekinos von den 40ern bis in die 90er Jahre. Und immer wieder gelingen der Terza Momente der Instant-Ekstase, eine Form von Kinoglück, die keine Marketingstrategie dieser Welt vorausberechnen könnte.
Szene aus "Profumo"


Der Barbenheimer-Hype schwappt von Amerika nach Deutschland, Teenies verkleiden sich wahlweise als Wespentaillenpuppen oder als schwermütige Atomphysiker, die zugehörige Instagram-Story entsteht direkt im Foyer. Der Mensch wird zum Merchandise und das Kino endlich wieder zum Event, das fast schon totgesagte Medium hat plötzlich doch noch Anschluss an die TikTok-Generation gefunden. Zumindest ein Wochenende lang.

Den Studios sei es nach einem vorher katastrophal verlaufenen Sommergeschäft gegönnt, den insbesondere seit Covid darbenden Lichtspielhäusern sowieso. Die Erinnerung daran, dass man vom Kino einst mit gutem Recht mehr erwarten konnte als die fugenlose Amalgamierung von Werbung und Konsum (um mit dem branchennahen Box-Office-Hype-Magazin deadline zu sprechen: "Now they're dressing up like Barbie and heading out to the theater (...). Barbenheimer fan-made art is a thing on social. Seriously, this is absolute ecstasy for any Hollywood studio marketing exec. They tee it up and it just takes off."), hielt derweil am selben Wochenende ein Filmfestival im Frankfurter Filmmuseum wach: Das Terza Visione präsentierte, tatsächlich bereits ab Mittwoch, fünf Tage lang Klassiker, Vergessenes und Wahnsinnigkeiten des (vorwiegend) italienischen Kinos.

Schon in die 9. Ausgabe ging das Terza dieses Jahr. Begonnen hatte alles 2014 im Nürnberger KommKino, das dem von Anfang an erstaunlichen Besucherandrang bald nicht mehr gewachsen war. Auch die neue Frankfurter Spielstätte ist inzwischen fast durchweg ausverkauft. Allzu viele Ausweichmöglichkeiten gibt es deutschlandweit jedoch nicht, da das Festival durchweg analoge Filmkopien spielt und deshalb auf die Infrastruktur sowie die institutionellen Verbindungen des Deutschen Filminstitut und Filmmuseum DFF angewiesen ist.

Den prall gefüllten Vorstellungen zum Trotz bleibt das Festival familiär, eine Versammlung von Gleichgesinnten. Verantwortet wurde das Programm dieses Jahr von Andreas Beilharz und, beide neu im Team, Felix Mende und Sven Safarow. Festival-Mitgründer Christoph Draxtra legte eine Pause ein, war aber selbstverständlich trotzdem vor Ort - und stellte eine der schönsten Entdeckungen der Auswahl vor: "Urlatori Alla Sbarra" (1960), ein musicarello (italienische Variante des Schlagerfilms) des vor allem als Horrorfilmregisseur bekannten beziehungsweise berüchtigten Lucio Fulci. Es geht um die "Teddy Boys", eine den Insignien des amerikanischen Nachkriegskapitalismus verpflichtete Jugendkultur der späten 1950er. Die ältere Generation beäugt die hippen Jeansträger misstrauisch - zumindest solange, bis die Kids von einer Kleiderfirma als Werbeträger engagiert werden. Womit wir wieder bei Barbenheimer wären: Marketing als letzter Horizont gesellschaftlicher Versöhnung.

Vor allem anderen jedoch ist "Urlatori Alla Sbarra" ein Schaulaufen der Attraktionen. Adriano Celentano ist mit dabei, überraschenderweise auch die amerikanische Jazz-Legende Chet Baker, vor allem jedoch ein Chor aus fünf Schäfern, die einen völlig entrückten Slapstick-Schlager zum Besten geben. Youtube erinnert sich noch an diesen Song, sonst aber vermutlich auch in seinem Entstehungsland kaum jemand mehr - und doch gelingt es der fröhlich ins Kraut schießenden Ausdrucksenergie der (inzwischen) unbekannten Schäfer auch noch sechs Jahrzehnte nach ihrer Ersteruption, einen Kinosaal zum Toben zu bringen.



Kino als lebendige Archäologie der Popkultur: Immer wieder gelingen dem Terza solche Momente der Instant-Ekstase, eine Form von Kinoglück, die keine Marketingstrategie und auch kein Algorithmus dieser Welt vorausberechnen könnte. In Giuliana Gambas ganz besonders beglückendem Erotik-Thriller "Profumo" (1987) ist da etwa eine Szene, in der die beiden ausgesprochen gutaussehenden, sich einer vorläufig noch einigermaßen unbeschwerten Affaire mit einer fast kindlichen Lust am Herumalbern hingebenden Hauptfiguren zur Cola-Dose greifen. Zunächst bespritzen sie sich gegenseitig mit der Limonade, im Anschluss lässt die Frau die süße Flüssigkeit dem Mann als Teil des Vorspiels über den Oberkörper rinnen. Die ganze Leinwand ein Prickeln und Schäumen, das sich umso stärker ins Publikum überträgt, je näher der Colastrom dem Schamhaar des rundum blond gelockten Jünglings rückt.

Szene aus "Eva Man"


Kleinere und größere Sensationen dieser oder auch ganz anderer Art finden sich in fast jedem Film des Programms. Im ältesten Festivalbeitrag, dem vor Ideen, mythopoetischen Kapriolen und Glitzerschmuck schier überquellenden "Il corona di ferro" (1941) wird ein Säugling ins Tal der Löwen geworfen und kehrt, von einem Hirsch angeleitet, als ausgewachsener Frechdachs zurück, um die ihm zustehende Krone zu erobern; im sexpositiven Exploitationfundstück "Eva Man" (1980) hängen nicht nur eine, sondern gleich zwei Transfrauen zu ohrwurmtauglichen Disco-Beats nackt im Pool ab und entledigen sich eines eher ungelenken Entführungsplots wie einer lästigen Schmeißfliege; in der Horror-Extravaganz "Il fantasma dell'opera" (1998) verbrüdert sich der jüngst während eines unseligen Wanderausflugs verstorbene Julian Sands mit einer Horde Ratten und bricht am Ende, sein eigenes Schicksal vorwegnehmen, in den Nebel der Ungewissheit auf. Der Regisseur des letzteren Films, Dario Argento, war in Frankfurt sogar vor Ort. Dass der Besuch des Säulenheiligen des italienischen Pop-Kinos im Rückblick fast zur Randnotiz wird, zeigt, wie sehr die Festivalmacher ihr Publikum verwöhnen.

Szene aus "Il fantasma dell'opera"


Das Terza ist ein derartig gut programmiertes Festival, dass selbst die wenigen Rohrkrepierer interessante Erkenntnisse zeitigen. Giuseppe Patroni Griffis "Metti, una sera a cena" (1969) etwa offenbart, dass eine der penetrantesten Geißeln des zeitgenössischen Festivalkinos, das in narzisstischer Selbstbezüglichkeit erstarrte bürgerliche Beziehungsdrama, zu allem Überfluss auch noch ausgesprochen schlecht altert. Tinto Brass' im selben Jahr entstandene gleichermaßen Godardeske und erotomane Hippie-Fabel "Nerosubianco" wiederum mag als Beleg dafür dienen, dass Filme, die dem (politischen) Zeitgeist hinterher hecheln, allzu oft kaum mehr kommunizieren als den unbedingten Willen, up to date zu sein.

Szene aus "Lady Terminator"


Die Mühen solcher Ebenen sind freilich schnell vergessen, wenn Lady Terminator die Leinwand in Beschlag nimmt. Seit der 8. Ausgabe ergänzt das Festival sein Panorama des italienischen Genrekinos am Abschlusstag um Produktionen aus anderen Ländern, die einem ähnlichen Geist entsprungen sind. So wurden etwa im Italien der 1970er und 1980er Jahre gleich reihenweise billig produzierte Ripoffs amerikanischer Blockbuster wie "Star Wars" oder "Der weiße Hai" in die Kinos geschwemmt. Die erwähnte Lady Terminator wiederum ist die Hauptfigur eines gleichnamigen, 1988 entstandenen indonesischen Films (Daily Motion) und natürlich primär dem von Arnold Schwarzenegger verkörperten Cyborg aus James Camerons Science-Fiction-Klassiker nachempfunden; dementsprechend stoisch ballert sie sich denn auch durch die bald fugendicht mit Leichen verpflasterten, neonlichtbeleuchteten Straßen. Gleichzeitig jedoch schließt der von Tjut Djalil inszenierte Crowdpleaser an lokale Mythologie an. Keine Kriegerin aus der Zukunft ist diese Lady Terminator, sondern eine Anthropologin, die sich auf der Suche nach einem Südseegeheimnis in eine todbringende Sexgöttin verwandelt.

"She mates… then she terminates" lautet die eingängige Tagline des Films. Wenn Lady Terminator sich anschickt, ihre zunächst ausgesprochen willigen Opfer zu reiten, fokussiert der Film die Gesichter der Männer, deren Lust in Windeseile purem Terror weicht. Die Cumshots, die sich in der Mainstreampornografie über Frauenantlitze ergießen, verwandeln sich in Blutfontänen, die den Männern beim letalen Geschlechtsakt in die Fresse spritzen. Wobei Lady Terminator freilich gleichzeitig, und nicht zu knapp, auch den männlichen Blick bedient. Ideologisch keimfrei ist kein einziger der Terza-Filme, Subversion ist hier nicht zu haben ohne Korruption. Das ist denn auch die Ahnung, die ich aus dem langen italienischen Wochenende am Main mitnehme: Nicht die Renaissance des wahren, guten, schönen Autorenkinos wird uns vor der Barbenheimer-Gleichschaltung bewahren; sondern, wenn überhaupt etwas, dann nur die abermalige Entbindung der Kräfte einer vulgären, ekstatischen Normalität des Kinos.

Lukas Foerster