Vorgeblättert

Leseprobe zu Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River. Teil 3

06.10.2011.
Mrs Scrimser lauschte strahlend, die Arme wie segnend ausgestreckt. "O Vanny, wenn du so sprichst, spüre ich deutlich deine Berufung! Diese Gabe zum Reden hast du sicher von deinem Großvater geerbt. Du könntest auf der Stelle die Alsop-Avenue-Kirche bis auf den letzten Platz unter der Empore füllen. 'Der predigende Jüngling' ? So einer dringt oft bis tief in die Seelen, wo ein Älterer kein Gehör mehr findet. Meinst du nicht, Liebes, dass du dich bei einer solchen Begabung geradewegs für Jesus entscheiden solltest?" Sie hob die gefalteten Hände mit einer Nunc-dimittis-Geste geläuterter Frömmigkeit. "Wenn ich dich nur einmal auf der Kanzel hören könnte, würde ich in Frieden entschlafen", murmelte sie.
     Vance? Traum fiel krachend auf den Boden der Veranda und blieb dort liegen wie ein zersplitterter Regenbogen. Die Alsop-Avenue-Kirche! Die Kanzel! Ein geistliches Amt! Diese vertrauliche Art, über Jesus zu reden, als sei das einer, der um die Ecke in Mandels Laden auf einen Anruf warte - und diese Frau, die sich seit vierzig Jahren das hohle Getöne und scheinheilige Geheuchel ihres Mannes anhören musste und immer noch an die Macht der biblischen Worte und magischen Zeichen glaubte! Wenn Vance ihr zuhörte, wurde ihm die Bibel fast zuwider, obwohl ihre eindringlichen Worte und Rhythmen zu seinen kostbarsten geistigen Schätzen zählten ? Warum hatte er sich nur wieder gehen lassen und versucht, sie mit sich in die schwindelnden Höhen philosophischer Betrachtungen zu erheben - als würde sich ein winziges geflügeltes Insekt abmühen, den Rasenmäher da vorne auf dem Weg hochzustemmen! Vance blickte verdrossen in die weitläufige, verwahrloste Ferne, von der sie allen Zauber gefegt hatte, sodass er dort, wo er Blumen erblickt und Vögel gehört hatte, jetzt nur noch einen verkümmerten Horizont sah, gefangen hinter krummen Telegrafenstangen und zum Teil verdeckt von Mandels Laden.
     "Vance - ich habe dich doch nicht beleidigt?", fragte seine Großmutter und legte ihre große Hand auf die seine.
     Er schüttelte den Kopf. "Nein. Du verstehst nur nicht."
     Sie nahm ihre angelaufene Brille ab und wischte darüber. "Vermutlich hat Gott die Frauen erschaffen, damit die Männer jemanden haben, zu dem sie das sagen können", bemerkte sie mit einem abgeklärten Lächeln.
     Ihr Enkel lächelte ebenfalls. Er wusste ihren Humor durchaus zu schätzen; aber heute bebte er innerlich von dem vergeblichen Versuch, sich auszudrücken, und weil sie ihn missverstanden hatte, und so antwortete er nicht.
     "Dann werd ich mal wieder gehen", sagte er und stand auf.
     Mrs Scrimser stritt nie mit ihrer Familie, und so spazierte sie schweigend mit ihm den Pfad hinunter und blieb vor dem Rasenmäher stehen, der ihnen den Weg versperrte. Von hier aus konnten sie über mehrere unbebaute Grundstücke sehen und seitlich an Mandels Laden vorbei die Augen im flüssigen Gold des Sonnenuntergangs jenseits des Flusses baden.
     "An Sommerabenden hab ich immer gedacht, dort ist der Himmel", brach es aus dem Jungen heraus, und er zeigte auf die knospenden Ahornbäume am Fluss. In seinen Ohren klangen diese Worte hämisch, unvorstellbar gestrig und verbittert, doch in der Seele seiner Großmutter rief die Erwähnung des Himmels niemals solche Gefühle wach.
     "Ich glaube, der Himmel ist überall da, wo wir die Natur und unsere Mitgeschöpfe genug lieben", sagte sie und legte ihm den Arm um die Schulter. Keinem von beiden kam es in den Sinn, den Rasenmäher beiseitezuschieben, und sie verabschiedeten sich, das Gerät vor sich, zwanglos, aber liebevoll, wie es in den Familien in Euphoria üblich war. Vance überstieg das Hindernis mit einem großen Schritt, und seine Großmutter blieb davor stehen und blickte ihm nach. "Denk daran, Vanny - die Liebe ist überall!", rief sie ihm hinterher. Stattlich und das Herz voller Segenswünsche stand sie zwischen den Fliederbüschen und winkte zum Abschied.

Vance wanderte dahin in einem Nebel aus unbestimmtem Sehnen, ausgelöst von seinen eigenen Worten, so wie diese von der Frühlingsluft und den gelben Blüten im Straßengraben ausgelöst worden waren. Die Dämmerung senkte sich herab und mit ihr der alte Zauber von Crampton. An der Straße zum Haus von Harrison Delaney ging er vorüber, doch als er zu dem Feldweg kam, der zum Fluss hinunterführte, blieb er stehen, gefangen von seinem früheren Traum. Alles, was ihn an diesen Ort gebunden hatte, war vorbei und überstanden - er hatte seine Lehrjahre des Herzens hinter sich und den Preis bezahlt. Dennoch war es schwer, das mit neunzehn Jahren an einem Frühlingsabend zu erkennen und sich für immer aus der Schar der Jungen und Glücklichen ausgeschlossen zu fühlen. Wohl hatten auch andere so etwas erlebt und überlebt - so stand es in den Büchern. Aber an diesem Abend glich seine Seele einer Wüste.
     Seit Floss hatte er nie mehr ein Mädchen angesehen - und wollte auch nie mehr eins ansehen. Hatte sich stattdessen am Gedichteschreiben abgearbeitet. Manchmal, für ein paar Augenblicke, vermochte das Dichten ihm ihre Zärtlichkeiten fast zu ersetzen, schien sie ihm so nahezubringen, als seien Worte warm und greifbar wie Fleisch. Dann verwehte die Illusion, und er war wieder in der Wüste ? Hin und wieder zwickte er sich versuchsweise in Gedanken dorthin, wo der Schmerz gesessen hatte, nur um sicherzugehen, dass er nichts mehr fühlte - buchstäblich nichts. Doch als die Bäume am Fluss Knospen trugen und die Knospen schwarz vor einem gelben Himmel standen, kam der Schmerz jählings zurück und packte ihn am Herzen, so wie einem plötzlich ein Hexenschuss zwischen die Schultern fährt. Lange stand er da, starrte über das Feld und dachte daran, wie er immer hinuntergegangen war, sich am Fluss versteckt und durch die Büsche nach Floss Ausschau gehalten hatte. Öfter noch war sie zuerst da gewesen, und ihre starken jungen Arme hatten ihn zu sich hinuntergezogen ? Inzwischen war es ungefährlich, sich daran zu erinnern. Floss hatte Euphoria verlassen; es hieß, sie habe in einem Kaufhaus in Dakin hinter Chicago eine Stelle gefunden. Das hatte wohl sein Vater eingefädelt ? Der Schauplatz ihrer kurzen Leidenschaft lag verlassen da, und für ihn würde es immer so bleiben. So war eben das Leben. Seine Bitterkeit verging allmählich; er dachte an ihre Küsse und verzieh ihr. An den Zaun gelehnt, zog er eine Zigarette heraus und hing tiefschürfenden männlichen Gedanken nach, über sie und die Frau an sich.
     "Du wirst doch wohl nicht erwartet haben, Vance Weston", unterbrach er sich plötzlich, "dass du der Einzige bist, der sich dort unter den Büschen mit einem Mädchen trifft?" Ausgelöst wurde diese Bemerkung vom Anblick eines Mannes, der über leere Grundstücke zum Rand des Ahornwäldchens schlenderte. Selbst auf diese Entfernung machte er den Eindruck von jemandem, der nicht gesehen werden möchte, aber tut, was er kann, um dies nicht zu verraten. Angesichts dieses Schauspiels änderte sich Vance? Laune augenblicklich; er blieb an den Zaun gelehnt stehen, paffte spöttisch seine Zigarette und pfiff eine Melodie aus einem Vaudeville. Das Licht wurde schwächer, der Mann war noch zu weit weg, als dass er ihn hätte erkennen können, doch als er sich näherte, sah Vance eine große, hagere Gestalt, die sich mit der Munterkeit eines älteren Mannes bewegte, der versucht, jung zu wirken, aber bei jedem Schritt von seinen steifen Gelenken daran gehindert wird. Diesen Gang kannte er gut, ebenso den Gehrock, der über einer zerknitterten Weste offen stand, und die breite Krempe des Filzhutes. Nun nahm der Mann den Hut ab und wischte sich über die Stirn; der letzte schräge Strahl der untergehenden Sonne beleuchtete sein dunkles Gesicht, die markante Nase, den weichen, schönen Mund und die schwarz-weiße, zurückgekämmte Mähne. Amüsiert und von einer unbestimmten Neugier erfasst, stand Vance da und starrte auf seinen Großvater wie auf eine Erscheinung.
     Bei Großpapa konnte man nie sicher sein - das wusste die ganze Familie und fand sich damit ab wie mit dem Wetter. Trotzdem, hier auf ihn zu stoßen, wie er da am Wäldchen entlangschlich und sich die Stirn wischte, als wäre er gerade hinter der Straßenbahn hergerannt - das war schon komisch. Etwas Verwegenes und gleichzeitig Verstohlenes an seinem Benehmen rief Vance eine Begebenheit in Erinnerung: Er war noch ein kleiner Junge und hatte mit seiner Mutter Weihnachtseinkäufe erledigt, als sie plötzlich Großvater erblickten, der sich genau auf diese Weise die Stirn wischte und aus einer Straße auf sie zugelaufen kam, in der Vance und seine Schulkameraden nicht spielen durften. Der kleine Junge witterte sofort, dass etwas nicht stimmte, denn seine Mutter rief nicht etwa: "Da ist ja Großvater!", sondern erinnerte sich plötzlich, dass sie - meine Güte! - noch gar nicht die Hefe in Sprouls Bäckerei bestellt hatte, und riss Vance herum, scheinbar ohne Mr Scrimser bemerkt zu haben. Solche Ausflüchte sind Meilensteine auf dem Weg zur Erkenntnis.
     Vance schmunzelte spöttisch in Erinnerung an diesen Vorfall und bei dem Gedanken, wie weit seine arglose Kindheit hinter ihm lag. Einen Augenblick lang fühlte er sich versucht, seinem Großvater zuzuwinken, dann bewog ihn etwas an der Haltung und den Bewegungen des alten Mannes, sich abzuwenden. "Es wird wohl Zeit, die Hefe bei Sprouls zu holen", sagte er sich lachend; doch als er den Blick abwandte, wurde seine Aufmerksamkeit von einer anderen sich nähernden Gestalt gefesselt. Das Licht wurde rasch schwächer, und Vance stand gut hundert Yard vom Fluss entfernt, doch noch in der tiefsten Dämmerung und auf weit größere Entfernung hätte er die raschen Bewegungen und die zarte Silhouette des Mädchens erkannt, das da durch die Bäume auf Mr Scrimser zuschlüpfte ? "Aber sie ist nicht hier ? sie ist nicht hier ? das weiß ich doch!", wütete es in dem Jungen in einem Anfall sinnlosen Leugnens. Wie angewurzelt stand er da, während die Erinnerung an alles, was sie ihm jemals gewesen war, jeder Blick und jeder Ton, jeder Duft und Atemzug und jede Berührung, die ihn an sie gebunden und beide hatte eins werden lassen, siedend heiß in ihm hochstieg. Er hatte sich nie vorstellen können, wie sich qualvolle körperliche Schmerzen anfühlen, was einer spürt, der von einem Zug zermalmt oder von einer rotierenden Maschine in einer Fabrik zerrissen wird, aber er wusste - er entdeckte es im gleißenden, blendenden Licht dieses Augenblicks -, dass die Seele, wenn sie tief genug getroffen ist, mit dem Körper scheinbar eins wird und wie dieser in jedem Nerv und jedem Muskel einen eigenen deutlichen Schmerz empfindet. Er sah - oder glaubte zu sehen -, wie die beiden Gestalten in der Dunkelheit zusammentrafen, genau da, wo er Floss Delaney so oft in seine Arme geschlossen hatte; danach stolperte er blind davon. Eine Straßenbahn kam angeschwankt und nahm Kurs auf die Lichter von Euphoria. Er winkte, sie solle halten, und stieg ein.

                                                        *

Mit freundlicher Genehmigung des Manesse Verlages
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