Vorgeblättert

Leseprobe zu Gerbrand Bakker: Oben ist es still, Teil 4

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"Bin ich jetzt eine Art Henk?" Henk hat ein paar Nächte in seinem eigenen Zimmer geschlafen, aber diese Nacht war es da offenbar kälter als in den vergangenen Nächten, und so ist er zum zweiten Mal neben mir ins Bett gekrochen. Er hat schon geschlafen, ist aber wieder aufgewacht und hat gefragt, ob er "eine Art Henk" sei. Ich habe nicht geschlafen. Ich habe auf der Seite gelegen und nach dem Licht geschaut, das durch die Lamellenjalousie ins Schlafzimmer fällt. Ich habe gehorcht. Eben ist ein Radfahrer vorbeigekommen, ein paar Enten sind im Kanal gelandet, die Bläßhühner haben leise gekläfft. Vater hat etwas gesagt, im Schlaf vielleicht, vielleicht starrt er wie ich im Dunkeln zum Fenster, auf die Vorhänge, hinter denen die Nebelkrähe auf ihrem vertrauten Ast schlummert. Ich konnte mich ohnehin schon nicht richtig entspannen, jetzt spüre ich, wie die Unruhe in mir noch größer wird. Ich weiß, was er meint, gebe aber keine Antwort.
"Na?" sagt er. "Bin ich eine Art Henk?"
"Wie meinst du das?" frage ich abweisend.
"Dein Bruder. Bin ich jetzt wie dein Bruder?"
Irgend etwas läuft hier ganz falsch. Wann hat das angefangen? "Nein", sage ich.
Es bleibt einen Moment still. "Ich find deinen Vater tapfer", sagt er dann.
Die Haut an meinen Schulterblättern juckt vor Ärger. Dieses Selbstsüchtige. Redet, wenn er reden will, und wenn es mitten in der Nacht ist. Ich muß früh raus und melken, er bleibt liegen und steht gegen acht auf, um das Jungvieh zu versorgen. Wenn er aufsteht.
"Man könnte es auch feige nennen", sage ich.
"Wieso das?"
"Das verstehst du nicht."
"So."
"Schlafen", sage ich. Ich liege immer noch auf der Seite, obwohl ich mich gern anders hinlegen würde. Ich starre die Lamellen an, sehe aber Adas Kopf in der Küchentür erscheinen. Sie schaut mich schelmisch an und sagt: "In einem großen Bett hättest du schön viel Platz." Dann wirft sie mir einen vielsagenden Blick zu, was wegen der Hasenscharte auch jetzt wieder lustig aussieht. "Zwei Kissen, Helmer. Zwei Kissen." Sobald ich glaube, daß Henk eingeschlafen ist, drehe ich mich auf den Rücken und scheuere das Jucken weg. Mein Blick ruht auf dem dunklen Viereck im Rahmen neben der Tür. Ich wollte, ich wäre in dem Rahmen und dächte an hier.
"Ich glaub, es ist doch so", sagt er im Halbschlaf. "Daß ich eine Art Henk bin."
Verdammt, es reicht, denke ich.

Kurz darauf schläft er, und ich denke an den Graben und das Schaf. Bei einem der Mutterschafe hat es zu lange gedauert, gestern habe ich zwei tote Lämmer geholt. War das vielleicht das Schaf, das im Wasser gelegen hat? Ich versuche mich zu erinnern, was ich gedacht oder gesehen habe, was mit mir passiert ist in den schwarzen Minuten zwischen Ertrinken und Zu-mir-Kommen. Oder waren es nicht mal Minuten? Hat Henk das auch so erlebt? Oder war er schon bewußtlos, bevor das Auto im Wasser landete? Ich merke, daß ich die Hände in Magenhöhe gefaltet habe. Als ob ich hier aufgebahrt wäre. Ich würde mich gern auf die rechte Seite legen, aber da liegt Henk, also drehe ich mich wieder auf die linke. Draußen ist es vollkommen still.

Wie bringt er es fertig, Vater zu fragen, wie es mit dem Sterben geht, als würde er ihn fragen, ob er noch einen Löffel Soße über die Kartoffeln haben möchte? Und wie bringt Vater es fertig, "sehr gut" zu antworten, als würde er zufrieden sehen, wie die Soße auf den Kartoffeln zerläuft?

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