Vorgeblättert

Leseprobe zu Mahmud Doulatabadi: Der Colonel. Teil 2

06.04.2009.
Ich habe Angst, meine Herren, Angst. Wovor, vor wem, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der Mensch etwas anderes ist als die Kleider, die er trägt. Dass all die schönen Worte und Höflichkeitsfloskeln nichts über ihn aussagen. Und wenn ich durch die Menschen hindurchsehe, erschrecke ich, denn sie erinnern mich an eine Herde wilder Stiere - wie ich sie vermutlich einmal im Kino gesehen habe. Dann schließe ich die Augen, das heißt, meine Augen schließen sich aus lauter Angst von selbst. Denn ich spüre, wie eine furchterregende Herde von Menschen, aus deren Stirnen merkwürdige Hörner herausragen, sich in Bewegung setzt, um alles zu vernichten, auch mich und meine paar Knochen, die noch übrig geblieben sind. Ein Albtraum, meine Herren! ?

"Warum nehmen Sie nicht Platz, bitte setzen Sie sich doch! Ja, diese Stühle sind schwach geworden, wenn man sich daraufsetzt, knirschen sie, als habe man sich auf trockenes Brot gesetzt. Aber ein alter Spruch sagt: Alles, was im Haus ist, ist dem Gast genehm. Wie auch immer, nehmen Sie doch bitte Platz!"

Sie werden sich wohl hinsetzen, oder? Ja, sie setzen sich. Ein Handtuch, ja natürlich ?

Er hätte ein Handtuch nehmen und seine weißen, vom Regen nass gewordenen Haare, den Hals, die Stirn, die Augenbrauen trocknen können. Aber es war zu spät. Es war ihm zu spät eingefallen. Dass er sich jetzt aber eine Zigarette angezündet und mit dem Rücken zum Ofen auf einen der opiumfarbenen Stühle gesetzt hatte, stimmte ihn zufrieden, ja, er spürte sogar Ruhe, obwohl er mit der rechten Hand seinen linken Arm festhalten musste, um das unaufhörliche Zittern zu verhindern. Noch schlimmer aber war das Zittern der Zigarette, die zwischen zwei Fingern klemmte, er konnte es kaum verbergen. Unsere Stadt ist klein, ist nicht einmal Provinzhauptstadt, hier kennt jeder jeden. Wenn ich mich also einen Augenblick lang konzentrieren und meine Nerven beherrschen könnte, würde ich sicherlich meine Gäste erkennen, zumindest würde ich herausfinden, wer ihre Eltern sind. Ich bin zwar in dieser Stadt nicht geboren, lebe aber seit Langem hier, jedenfalls seit meine Tochter Parwaneh geboren wurde. Als wir in diese Stadt zogen, war mein ältester Sohn Amir nicht älter als fünfzehn und die anderen Söhne noch so klein, dass sie bald den Dialekt der Einheimischen sprachen. Wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lassen würde, könnte es mir sicherlich gelingen, meine Gäste so weit zu bringen, dass sie gestehen, meine Söhne Masud und Mohammad Taghi zu kennen. Vielleicht waren sie sogar Freunde. Selbst wenn sie nicht in derselben Klasse waren und nicht nebeneinander auf der Schulbank saßen, haben sie sich in den unruhigen Tagen und Nächten der Revolution sicher kennengelernt ?

Die Gäste schwiegen, wichen seinem Blick aus. Es schien, als schämten sie sich.

Der junge Mann, der den Colonel an Mohammad Taghi erinnerte - oder der Colonel wünschte, dass es so wäre -, verlor schließlich die Geduld. Er stand auf, stellte sich vor das große Porträt des alten Colonels, starrte auf das Foto von Mohammad Taghi und blieb einige Augenblicke so stehen. Die Kapuze des Anoraks hing von seinen Schultern herab. Der andere junge Mann, der, wie Colonel meinte, von Gesicht und Gestalt her Masud ähnlich sah, saß immer noch schweigend dem Colonel gegenüber, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände gefaltet, und blickte ins Leere, vielleicht auf das schon zerfranste, alte, rote Tischtuch.

Die Jungen ? Sie wirken so schüchtern, doch in ihrem Innern hält sich eine ungeheure Kraft verborgen, die sie unglaublich schnell in schreckliche Raubtiere verwandeln kann. Tiere, die vor keinem Verbrechen zurückschrecken. Werden sie gerade darum immer wieder mit der Ausführung der schrecklichsten Verbrechen beauftragt? Durch die ganze Geschichte hindurch haben sie diesen Auftrag mit großem Erfolg erfüllt. Heldentaten nennen sie das! Und wir? Wir schicken die unreifen Menschen auf die Straße, treiben sie in die Arme der
Drahtzieher der Grausamkeit. Bis schließlich unser eigenes Fleisch und Blut, das man uns entrissen hat, den Dolch auf uns richtet ?

Mein Mohammad Taghi war im ersten Jahr seines Medizinstudiums
?

Ich kannte ihn. Ich kannte ihn ?

Hatte der Colonel diesen Satz überhaupt geäußert? Hatte er diese Antwort erhalten? Die Art, wie der junge Mann vor dem Foto stand, vermittelte ihm den Eindruck, er habe seinen Sohn gekannt. Er wollte sich dessen vergewissern, obwohl es an dem, was bevorstand und ihm noch unbekannt war, nichts ändern würde. Aber vielleicht konnte das Wissen um eine solche Bekanntschaft dem Colonel für einen Augenblick Erleichterung verschaffen, ihn aus dem schwindelerregenden Strudel, in den er geraten war, für eine kurze Zeit herausholen.

Er ist genauso ungeduldig wie Mohammad Taghi! ?

Genau aus diesem Grund harrte er nicht lange vor Mohammad Taghis Bild aus. Der Colonel konnte sich schon denken, dass der junge Mann auch vor Parwanehs Foto nicht lange stehen bleiben würde. Nein, er kehrte zurück, setzte sich, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und wandte das Gesicht seinem Kollegen zu. Dem Colonel schien, als fühle der junge Mann das Drängen der knappen Zeit. Ihn selbst hingegen beunruhigte die Unsicherheit, die er aus jedem Detail ihres ungeschickten Verhaltens spürte. Welchen Schicksalsschlag hatte er
zu erwarten? Er konnte nur warten, warten. Er war sich gewiss, dass diese jungen Männer, die einst glühend vor Begeisterung losgezogen und nun enttäuscht zurückgekehrt waren, nicht an seine Tür geklopft haben, um seine Wunden zu lindern. Also musste er warten.

Er wartete, bis einer der beiden sagte: "Bitte folgen Sie uns zu einem kurzen Besuch bei der Staatsanwaltschaft."

"Staatsanwaltschaft?"

"Dort werden Sie alles erfahren, Colonel!"

Nein, ich darf kein Erstaunen zeigen. Ich darf nicht unwillig wirken. Ich ? Ich versuche schon seit Langem, nicht aus der Rolle zu fallen und unter allen Umständen Ruhe zu bewahren. Außerdem habe ich mir vorgenommen, mich nicht mehr von einem Ereignis oder einer Nachricht überraschen zu lassen. Nein, mag geschehen, was will, ich darf mich über nichts wundern. Wer sich über nichts wundert, den kann nichts überraschen. Ohnehin lebe ich ja ganz in den Ereignissen und Erlebnissen der Vergangenheit. Vielleicht lässt sich dies mit meiner Tätigkeit in der Armee des Schahs oder meiner Teilnahme am Krieg erklären oder mit dem, was mit meiner Frau oder mit
Parwaneh geschah. Ich weiß es nicht. Es kann tausend Gründe haben. Aber ? Aber? Dieses Beben meines Herzens, darüber habe ich keine Macht. Dagegen kann ich nichts tun.

Ich muss doch die Zimmertür abschließen, bevor ich die Treppe hinuntergehe. Ich muss sie abschließen. Selbstverständlich, das tue ich. Zum Glück habe ich meinen Hut nicht liegen gelassen, ich trage ihn auf dem Kopf. Trotzdem hebe ich zur Sicherheit noch einmal die Hand hoch und prüfe, ob ich ihn auf dem Kopf trage. Ich habe meine Sinne beisammen und weiß, dass ich den Kragen meines Mantels hochschlagen muss, damit die aneinandergeketteten Regentropfen nicht durch den Kragen herabrollen können. Natürlich achte ich darauf, mich so zu verhalten, dass die beiden nicht merken, dass Amir sich im Keller aufhält. Vielleicht ist das unwichtig, doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass Amirs Verhalten und der Umstand, dass er sich seit einem Jahr isoliert im Keller aufhält, Neugierde, ja sogar Verdacht wecken könnten. Denn, logisch gedacht, gibt es keinen vernünftigen Grund, weshalb ein ehemaliger Häftling, der noch nicht einmal das vierzigste Lebensjahr erreicht hat, sich im Hause seines Vaters, im Keller abkapselt, ja, man könnte sogar sagen, einsperrt und jeden
Kontakt mit anderen Menschen, sogar mit seinen Nächsten, meidet. Natürlich provoziert das Verdacht, erst recht bei einem Menschen wie Amir. Ob Amir verrückt ist? Nein, man darf einen solchen Gedanken nicht einmal zulassen. Ich habe ihn doch des Öfteren mit seiner Schwester Farzaneh reden gehört. Zwar redet unsere Farzaneh viel und auch immer wieder das Gleiche, aber sie ist fast gleich alt wie Amir, und wenn sie Zeit hat, schaut sie bei ihm vorbei, setzt sich auf die Kellertreppe und fragt ihn mit geschwisterlicher Anteilnahme:

"Warum sitzt du so bekümmert da, Bruder? Was ist denn geschehen? Du verhältst dich so, als sei die Welt untergegangen!

Du bist doch nicht der Einzige, der seine Arbeit verloren hat. Das ist kein Grund, dich in eine Ecke zu verkriechen, als hättest du die Lepra. Was ist los, lieber Amir, mein lieber Bruder? Denk doch auch ein wenig an Vater. Nach Mohammad Taghis Tod ist er sehr alt geworden. Soll er jetzt vor Kummer über dich sterben? Er hat viele Qualen erleiden müssen, das weißt du besser als wir alle. Du bist doch jetzt der große Sohn und musst dich um die Familie kümmern, um uns alle. Ich bin eine verheiratete Frau und kann keine eigenen Entscheidungen treffen. Du weißt, dass mein Mann mir untersagt hat, zu euch zu kommen. Mein Sohn beginnt allmählich einiges zu verstehen. Mein Mann fragt ihn aus, auch meine Tochter fragt er aus. Und dann hab ich noch das kleinste Kind, das macht so viel Arbeit. Mein Mann Ghorbani Hadjadj ist äußerst misstrauisch und ängstlich. Deshalb fragt er meinen Sohn aus, und der Junge kann seinen Mund nicht halten. Einem Kind kann man das nicht erklären. Aber wenn ich euch nicht sehe, finde ich keine Ruhe, es ist, als würden meine Kleider auf der Haut brennen. Doch ich habe keine andere Wahl, lieber Bruder, ich muss meinen Mann ertragen, muss ihm gehorchen. Vielleicht, vielleicht werde ich euch nicht mehr besuchen können. Denn Ghorbani Hadjadj meint, diese Besuche bei euch würden seinem Ruf schaden und ihm womöglich Schwierigkeiten bereiten. Er macht sich Sorgen um seine Stelle. Über euch, über unsere Familie wird übel geredet. Wir haben einen schlechten Ruf. Du weißt, mein Bruder, ein schlechter Ruf, der an einem haftet, ist schlimmer als ein Dach, das einem auf den Kopf stürzt. Bei jeder Trauerzeremonie, die ich besuche, schwatzen die Weiber über euch. Manche von ihnen haben sehr böse Zungen, mein Bruder. Ich kann solche Zusammenkünfte nicht ganz meiden. Aber wenn ich dort bin, fühle ich mich wie eine Fremde, auch mir selbst gegenüber.

Ich möchte mit hundert Zungen allen mitteilen, dass ich eine ganz andere bin, als ich scheine, dass ich mit den Gedanken ständig bei euch bin. Ich habe keinen anderen Ausweg, lieber Bruder, als mich von euch, das heißt in Wirklichkeit von mir selbst, fernzuhalten. Doch jedes Mal, wenn ich dich sehe oder an dich denke, wenn ich mich an das Schicksal unseres Vaters erinnere, der wie ein Küken zusammengeschrumpft ist, dann spüre ich aus Kummer einen Kloß im Hals, mein Herz droht zu zerbersten. Dann will ich nur noch zerschmelzen und in der Erde versinken. Amir ? Amir, lieber Bruder, sag etwas, gib mir eine Antwort. In diesem Zustand machst du unserem Vater den allergrößten Kummer. Er wird es nicht verkraften.
Was ist denn in dich gefahren? Dir ging es doch gut. Du gabst allen Ratschläge und brachtest jedem etwas bei. Deine Schüler kreisten wie Schmetterlinge um dich herum, liebten dich wie ihren großen Bruder ? Deine Schläfen sind grau geworden, lieber Bruder Amir!"

Ich hörte ihre Stimme, während ich zum hundertsten Mal im Shahnameh unseres großen Epikers Firdausi die Geschichte von König Manutschehr las. Seine Söhne Salm, Tour und Iradj waren mir inzwischen so nah, dass ich sie vor mir sah und ihre ausweglose Lage nachfühlen konnte. Vor Kurzem hatte ich Amirs Augen gesehen, sie sahen aus wie vertauscht, mehr als je zuvor, und in seinen Pupillen hatte sich eine Stimmung zwischen Scham, Angst und Zweifel eingenistet, etwas, das mehr war als Hoffnungslosigkeit. Seine langen, schmutzigen Haare fielen auf seine Schultern, und die Haare an seinen Schläfen waren weiß geworden.

Teil 3