Vorgeblättert

Leseprobe zu Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus. Teil 1

12.09.2011.
1. Kapitel

Ein heikler Auftrag


Am 22. September wurde ich von der New York World (1) gefragt, ob ich mich in eine der New Yorker Anstalten für Geisteskranke einweisen lassen könnte, um einen schlichten und ungeschminkten Bericht über die Behandlung der dortigen Patientinnen, die Methoden der Verwaltung usw. zu verfassen. Ob ich den Mut hätte, mich derart hart auf die Probe stellen zu lassen, wie es dieser Auftrag verlangte? Könnte ich die Merkmale des Wahnsinns gut genug vortäuschen, um die Ärzte zu überzeugen und um eine Woche unter den Verrückten zu leben, ohne dass die Aufseher dort herausfänden, dass ich bloß ein Störenfried war, der sich Notizen macht? Ich sagte, dass ich es zu können glaubte. Ich hatte einiges Vertrauen in meine Fähigkeiten als Schauspielerin und hielt mich für fähig, den Wahnsinn lange genug vorspielen zu können, um jeden mir anvertrauten Auftrag zu erfüllen. Würde ich eine Woche in der Irrenanstalt auf Blackwell?s Island verbringen können? Ich sagte, dass ich es könnte und dass ich es tun würde. Und ich tat es.
     Meine Anweisungen bestanden allein darin, mit meiner Arbeit zu beginnen, sobald ich mich bereit fühlte. Ich sollte meine Erlebnisse treu aufzeichnen und die Abläufe innerhalb der Anstaltsmauern, die von den Schwestern mit den weißen Hauben sowie von den Gittern und Schlössern stets so erfolgreich vor der Kenntnisnahme der Öffentlichkeit verborgen gehalten werden, beobachten und beschreiben.
     "Wir verlangen nicht von Ihnen, dorthin zu gehen, um sensationelle Entdeckungen zu machen. Schreiben Sie die Dinge so auf, wie Sie sie vorfinden, seien sie nun gut oder schlecht; loben Sie oder verurteilen Sie, wie es Ihnen am besten scheint, und halten Sie sich immer an die Wahrheit. - Ein wenig besorgt bin ich allerdings wegen Ihres chronischen Lächelns", sagte der Herausgeber. "Ich werde nicht mehr lächeln", sagte ich, und damit machte ich mich auf, meinen heiklen und, wie sich herausstellte, schwierigen Auftrag auszuführen.
     Ich glaubte nicht, dass ich, wenn ich denn in die Anstalt hineinkommen sollte - was ich kaum zu schaffen hoffte -, etwas anderes zu erzählen hätte als eine einfache Geschichte vom Anstaltsleben. Dass eine solche Einrichtung schlecht geführt, dass Misshandlungen unter ihrem Dach stattfinden könnten, hielt ich nicht für möglich. Ich hatte stets den Wunsch gehegt, das Leben in der Irrenanstalt genauer kennenzulernen - den Wunsch, mich zu überzeugen, dass die Hilflosesten unter allen Geschöpfen Gottes, die Geisteskranken, gütig und gründlich umsorgt werden. Die vielen Geschichten, die ich über Misshandlungen in solchen Einrichtungen gelesen hatte, hatte ich stets für weit übertrieben, wenn nicht gar für bloße Märchen gehalten. Dennoch beherrschte mich ein latentes Verlangen, das sicher zu wissen.
     Ich schauderte bei der Vorstellung, dass die Geisteskranken vollständig in der Gewalt ihrer Wärter waren, und wie gänzlich vergeblich man um Freilassung bitten und flehen würde, wenn den Wärtern nicht der Sinn danach stand. Voller Erwartung nahm ich den Auftrag an, die inneren Abläufe der Irrenanstalt von Blackwell?s Island kennenzulernen.
     "Wie werden Sie mich herausholen", fragte ich meinen Herausgeber, "wenn ich einmal drin bin?"
     "Das weiß ich nicht", antwortete er, "aber wir werden Sie herauskriegen, und wenn wir sagen müssen, wer Sie sind und aus welchem Grund Sie den Wahnsinn vorgetäuscht haben - schaffen Sie es nur hinein."
     Ich hatte geringes Vertrauen in meine Fähigkeit, die Experten zu täuschen, und ich vermute, mein Herausgeber hatte ein noch geringeres.
     Alle Vorbereitungen für meine Feuerprobe blieben meiner eigenen Planung überlassen. Nur eine Sache wurde vereinbart, nämlich, dass ich das Pseudonym Nellie Brown annehmen solle, dessen Initialen mit meinem eigenen Namen und mit meiner Wäsche übereinstimmten, so dass es keine Probleme geben würde, meine Bewegungen zu verfolgen und mich aus allen Schwierigkeiten oder Gefahren, in die ich geraten könnte, zu befreien. Es war möglich, in die Station für Geisteskranke hineinzukommen, nur wusste ich nicht wie. Zwei Wege kamen für mich in Betracht: Entweder konnte ich im Haus von Freunden Wahnsinn vortäuschen und mich aufgrund der Entscheidung zweier zuständiger Ärzte einweisen lassen oder ich konnte mein Ziel über die Polizeigerichte(2) erreichen.
     Nach einiger Überlegung erschien es mir klüger, nicht meinen Freunden zur Last zu fallen oder irgendwelche gutmütigen Ärzte dazu zu bewegen, mir bei meinem Vorhaben beizustehen. Außerdem hätten meine Freunde, damit ich nach Blackwell?s Island komme, Armut vortäuschen müssen.(3) Unglücklicherweise aber im Falle meines Vorhabens war meine Bekanntschaft mit den bitter Armen, abgesehen von meiner eigenen Person, nur sehr oberflächlich. Und so entschloss ich mich zu jenem Vorgehen, das mir zu der erfolgreichen Erfüllung meines Auftrags verhelfen sollte. Es gelang mir, in die Abteilung für Geisteskranke auf Blackwell?s Island eingewiesen zu werden, wo ich zehn Tage und Nächte verbrachte und wo ich Erfahrungen machte, die ich nie vergessen werde. Ich nahm es auf mich, die Rolle des armen, unglückseligen, verrückten Mädchens zu spielen, und ich sah es als meine Pflicht an, mich vor keiner der unangenehmen Folgen zu drücken, die das mit sich brachte. Ich wurde für diese Zeit zu einem der städtischen Mündel. Ich erlebte viel und sah und hörte noch mehr über die Behandlung, der dieser hilflose Teil unserer Bevölkerung ausgesetzt ist. Und als ich genug gesehen und gehört hatte, wurde sofort für meine Entlassung gesorgt. Ich verließ die Irrenanstalt mit Freude und mit Bedauern - Freude darüber, dass ich einmal mehr die Luft der Freiheit atmen durfte; und Bedauern darüber, dass ich nicht einige der armen Frauen mit mir nehmen konnte, die mit mir dort gelebt und gelitten hatten, und die, wie ich überzeugt bin, genauso bei Verstand sind, wie ich es damals war und heute bin.
     Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle noch eine Bemerkung: Von dem Moment an, da ich die Station für Geisteskranke auf der Insel betrat, machte ich keinen Versuch mehr, meine Rolle der Geisteskranken weiter aufrechtzuerhalten. Ich redete und verhielt mich genau so, wie ich es auch sonst im Alltag tue. Und doch, so merkwürdig es klingt: Je vernünftiger ich redete und handelte, für desto verrückter hielt man mich - mit der einzigen Ausnahme eines Arztes, dessen Freundlichkeit und Sanftmut ich so schnell nicht vergessen werde.

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(1) Die New York World druckte die Reportage in zwei Teilen am 9. und 16. Oktober 1887. Die Buchausgabe erschien zwei Monate später.
(2) Die
police courts (Polizeigerichte) stellten die unterste Ebene der Gerichtsbarkeit in den USA, Großbritannien und vielen anderen Ländern dar. Sie sind am ehensten mit dem Strafrichter am deutschen Amtsgericht vergleichbar.
(3) Das städtische Blackwell's Island Insane Asylum war für solche Patientinnen, deren Familien für die Unterbringung ihrer geisteskranken Angehörigen in den privaten Heimen nicht aufkommen konnten.

zu Teil 2