Vorworte

Leseprobe zu Anna Burns: Amelia

Über Bücher, die kommen.

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BABYS, 1974

Mary Dolan hatte ihr Baby gekriegt, erzählte irgendwer. Das Rauskommen war schwierig gewesen, vielleicht weil sie so jung war. Ihr Pa tat immer noch so, als hätte er damit nichts zu tun, und ihre Ma bekam immer noch nichts mit. Niemand holte den Arzt.

Seitdem schob sie es in einem alten Puppenkinderwagen durch die Gegend, Brompton Park rauf, um die Ecke, Highbury runter, um die Ecke, Holmedene rauf, um die Ecke, Strathroy runter. Es hieß, sie arbeite sich die ganze Straßenreihe rauf, bis sie zu den Barrikaden komme. Dann drehe sie um und gehe zurück. Immer und immer und immer wieder.

Ich begegnete ihr dabei auf dem Weg vom Schule schwänzen nach Hause. Es war Schulschluss und ich gerade aus dem Hintereingang des früheren, bei einem Brandanschlag zerstörten Logue's Pub geklettert. Ich wischte mir den Staub von der Uniform, und als ich aufschaute, stand sie plötzlich vor mir. Ich wechselte die Straßenseite, weil ich keine Lust hatte, Hallo zu sagen, aber der Kinderwagen wendete und kam quietschend hinter mir hergefahren. Als ich auf der anderen Seite ankam, drehte ich mich ganz schnell um. Mary blieb wie angewurzelt stehen, mitten auf der Straße, einen Fuß vor dem anderen.

"Mary, was machst'n da?", fauchte ich. "Warum läufst du mir nach?"

Sie antwortete nicht. Sie blieb einfach regungslos stehen, als würde sie glauben, ich könnte sie nicht sehen. Sie ließ den Kopf hängen, und ich sah Eiter auf den schorfigen Wunden, die sie sich geknibbelt hatte. Ich schnalzte mit der Zunge.

"Willste den Kinderwagen nicht mal von der Straße schieben?"

Sie schob ihn auf den Bürgersteig und stellte ihn dort ab - vor mir. Dann ging sie zu einer Hecke und zupfte ein Blatt ab. Ich sah zu, wie sie es knickte und noch mal knickte und noch mal knickte, bis es riss und ihre Finger feucht wurden. Sie zupfte noch welche.

"Mary, schiebste deinen Kinderwagen bitte mal weg?", sagte ich. "Ich komm nicht vorbei. Ich muss weiter." Sie nickte, und nickte immer weiter, aber sie blieb stehen auf ihren Zahnstocherbeinen, mit Blattfetzen übersät.

"Mein Gott!" Ich wollte mich gerade an ihr vorbeidrängen, blieb aber mittendrin stehen. Das Baby roch nach Kohl, das hatte schon mal irgendwer gesagt.

Ich schaute Mary an. Sie nickte jetzt merklicher, als würde sie mir zustimmen. Ich schaute den Kinderwagen an. Eine Rasselschnur mit Enten war davorgespannt. Ein paar Enten hingen an der Seite runter. Das Verdeck war oben und der Regenschutz übergezogen. Ich warf einen Blick über die Schulter.

Es war Abendbrotzeit, und die Haustüren waren alle zu. Niemand auf der Straße außer Mary und mir - und dem Baby. Dann kam in der Stille ein Saracen-Panzer aus der Flax Street um die Ecke, rollte langsam in Richtung Brompton Park. Die Fußpatrouille kam als Nächstes, stahl sich an den Häuserfronten entlang. Sie schauten zu uns herüber.

"Baby", sagte Mary hinter mir. Ich fuhr vor Schreck zusammen.

"Ich muss weiter", sagte ich.

"Baby", sagte sie noch mal und schaute zu mir hoch. Ich trat rückwärts auf die Straße.

"Nein. Geh weg", flüsterte ich. "Geh weg von mir, Mary Dolan."

Aber statt sich ihr totes Baby zu schnappen und abzuhauen, zog sie, ehe ich sie davon abhalten konnte, die Plastikhülle vom Kinderwagen. Darunter lag ein Haufen gelber Staubtücher, die um ein winziges Bündel gewickelt waren. Ich trat näher und starrte es an. Es war kein Baby. Es war ein komisch aussehendes Päckchen, grau, mit dunklen Drahtschnüren ausgestopft und Knete obendrauf.

Ich versuchte mir gerade einen Reim darauf zu machen, als ich die Gewehrmündung des ersten Soldaten sah. Ich schaute zu ihm hoch. Und während mir auffiel, dass er zu jung war und ein Barett trug, das ich noch nicht kannte, dämmerte mir, was Mary Dolan da durch die Gegend schob.

Der Soldat schaute den Kinderwagen an. Dann mich. Nicht Mary. Mich. Der Kinderwagen stand neben mir. Sie war's, dachte ich. Ich wusste von nichts. Ich bin nicht mit ihr hier. Sie ist zu mir rübergekommen. Und innerhalb von drei Sekunden sah ich mich vor meinem inneren Auge zum Saracen geschleift werden, vor Gericht, im Gefängnis, für immer.

Er wandte den Blick ab und ging weiter, parallel zu dem Soldaten auf der anderen Straßenseite. Die nächsten beiden kamen vorbei, dann die nächsten, und bald standen wir mitten in ihrer Patrouille.

"Baby", sagte Mary lauter. Diesmal riss ich mich zusammen und zog die Plastikabdeckung wieder hoch.

"Sie will ein Baby", sagte eine englische Stimme. Ein anderer Soldat erwiderte irgendwas, und sie lachten.

"Für die Puppe ist sie jedenfalls zu alt", sagte der erste. Er musterte sie und grinste, wie Soldaten grinsen. Mary hob den Kopf und bemerkte sie jetzt überhaupt erst.

"Was schätzt du, wie viele Waffen hab ich?" Er schaute über die Schulter zu seinem Kameraden, der zuhörte. Mary guckte, machte den Mund auf, aber die Zunge lag ihr tot auf der Lippe.

"Gott, was bist du für ein hässlicher Vogel." Sein Freund hinter ihm lachte. Er lachte auch. Mit beiden Händen am Gewehr lachten sie - und dachten, es wäre eine Puppe. Ich drehte mich zu Mary um.

"Wir machen uns besser auf den Weg." Meine Stimme war spröde und weit weg. "Zeit, nach Hause zu gehen. Es ist Ab-Abend-Abendbrotzeit." Mary schaute weiter die Soldaten an.

"Nimm den Kinderwagen mit, Mary."

Sie rührte sich nicht. Also ging ich, Gott, steh mir bei, hin, packte den Schiebebügel und versuchte selbst, ihn wegzurollen. Die überhängenden Enten schlugen rasselnd gegen das Hinterrad, und meine Schultasche rutschte mir immer wieder von der Schulter, während ich versuchte, einen Puppenkinderwagen zu schieben wie die winzig kleine Mary Dolan.

Da kam Eddie Breens Eiswagen, der manchmal auch ein Limonadenwagen, ein Milchwagen oder ein Was-eben-gerade-gefragt-war-Wagen war, mit quietschenden Reifen um die Ecke gebrettert. Er entdeckte die Soldaten und bretterte noch schneller um die nächste. Die "Eselserenade" dröhnte dabei aus den Lautsprechern wie bei Pinky und Perky. Die Soldaten nahmen ihn unter Beschuss, bis er auf die Highbury Gardens abbog. Dann rannten sie zu ihrem Saracen. Wie üblich geschah alles gleichzeitig im Zeitraffer und in Zeitlupe. Ich klemmte mir den Kinderwagen unter den Arm und ging los.

"Komm, Mary", rief ich über die Schulter. "Nimm meinen Arm. Kommste heute Abend mit uns raus?" Ich klang, als würde ich ihr andauernd anbieten, meinen Arm zu nehmen und mit uns rauszugehen.

Sie gab keine Antwort, aber das war mir egal, solange sie nicht mit ihrer komischen Stimme "Bombe" sagte.

"Peng", sagte der letzte Soldat und nahm das Gewehr runter, mit dem er zur Übung auf meinen Kopf gezielt hatte. Er stand aus seiner Kauerstellung hinter einer Gartenmauer auf.

"Du bist tot", sagte er. Dann ließ er mich stehen und sprang in den fahrenden Saracen, ehe der hinter Mr Breen und seinem Eis herrauschte - falls es wirklich Eis war, das er transportierte. Wir schlenderten weiter, in die entgegengesetzte Richtung, zurück zu dem alten verfallenen Pub. Währenddessen kamen Leute mit Besteck in den Händen aus ihren Häusern. Sie schauten die Straße rauf in Richtung des Spektakels.

Im bröckelnden Hinterhof vom Logue's angekommen stellte ich den Kinderwagen ab und packte Mary Dolan an den Schulterknochen. Ich schüttelte sie so fest, dass ihr die Rattenschwänzchen ins dämliche Gesicht schlackerten.

"Nicht!", fiepste sie. "Lass mich los."

"Gott, bist du dumm!", sagte ich. "Du bist so dumm!"

Ich schubste sie von mir weg. Sie fiel gegen die alte Mauer, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie tastete nach einem Stein, den sie sich in den Mund stecken konnte. Ich schlug ihn ihr aus der Hand.

"Hör gefälligst auf damit!"

Wir regten uns in der Stille kurz nicht, dann sagte ich:

"Mary - was macht die Bombe in deinem Kinderwagen?"

Mary zog sich an einer Haarsträhne.

"Wo haste die her?"

Sie steckte die Haare in den Mund. Ich schaute sie an und hätte sie am liebsten vor einen Panzer geschubst.

"Mary! Gibste mir jetzt 'ne Antwort? Wo ist dein Baby?" Überrascht schaute sie auf und zeigte dann zum Kinderwagen.

"Nein", sagte ich. "Das ist 'ne Bombe."

"Nein", sagte sie. "Ein Baby."

Sie schaute sich nach etwas anderem Essbaren um. Ich schaute wieder zum Kinderwagen. Dann ging ich hin und klappte das Verdeck herunter. Ich zog den Regenschutz weg und hob alle Tücher hoch. Der Kohlgeruch war durchdringend. Er war übelerregend.

Ich schaute mir das graue Paket genau an. Es waren auf jeden Fall Fäden oder dünne Drähte drin, so ganz knapp unter der Oberfläche. War es eine Bombe? Wie sah eine Bombe überhaupt aus? Nicht wie ein Soldat jedenfalls. Ich fasste es an. Es fühlte sich ledrig und trocken und ein bisschen weich an. Ich zog an der dicken Knete obendrauf, um es aufzumachen.

Und da erkannte ich, dass das Material durchsichtig war. Die meiste Knete war innen, nur war es keine Knete. Es war ein Stück von einem Babykopf. Dann entdeckte ich in dem Brei einen gekrümmten Fuß, mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen wie bei einer Ente. In der Mitte war eine schwarze Schnur. Ich schreckte zurück.

"O Gott, Mary, o Gott! Was hast du gemacht? Wo hast du dein Baby da reingetan?"

"Nix", sagte Mary. Sie stand mit hochgezogenen Schultern ein Stück von ihrem Kinderwagen entfernt.

"Was ist da drin? Raus mit der Sprache!"

"Weiß nicht."

"Wie kannst du das nicht wissen? Das ist 'ne Tüte! Du hast dein Baby in 'ne Tüte gesteckt!"

"Gar nicht."

"Wohl."

"Gar nicht."

"Wohl."

"Gar nicht."

"Wer war's dann?"

"Gott."

Eine Katze mit lädierter Schnauze sprang auf die Hofmauer, Schnurrhaare aufgestellt, Schwanz aufgestellt, sah uns und sprang wieder runter. Mary hörte auf, mit irgendwelchen Sachen rumzufummeln und kam einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück.

"Ist da drin gekomm'", sagte sie. "Ist rausgekomm - aus mir - und war so. Erst weiß und rot und dann die Farbe da."

Ich starrte sie an. Wie konnte sie die Wahrheit sagen?

"Du lügst, Mary", sagte ich. "Wie soll es denn in einer Tüte kommen?"

"War so. Inner Tüte."

Sie sah mich an und fing an zu zittern. Ich hielt es nicht mehr aus. Mir war zu warm in meiner Uniform. Mich juckte es überall. Ich zog meinen Pullover hoch und wischte mir das Gesicht ab. Dann nahm ich meine Schultasche und ging wieder zu dem Loch in der Mauer. Mary bewegte sich keinen Zentimeter, aber als ich durch das Loch schlüpfte, hörte ich, wie sie mich rief, nur einmal, und überhaupt nicht laut.

"Amelia", sagte sie.

Ich schlüpfte durch das Loch und ging nach Hause.


Mit freundlicher Genehmigung des Tropen Verlags