Vorworte

Leseprobe zu Janet Lewis: "Draußen die Welt"

Über Bücher, die kommen.

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Weihnachten steht kurz bevor, Mrs. Perrault und ihre Freundin Mrs. Munch arbeiten an den Kostümen fürs Krippenspiel. Mrs. Munch lässt dabei ihrem Unmut über die schlechten Zeiten freien Lauf. Das Bezirksspital ist dem Kollaps nahe, der Sohn einer gemeinsamen Bekannten schwebt wegen unsachgemäßer Behandlung in Lebensgefahr. Den ärmeren Einwohnern von South Encina mangelt es am Nötigsten, und mit entsprechend scheelem Blick beobachtet man die neu zugezogene Familie Reindl, die mit beiden Händen zulangt, wenn es einen Vorteil zu ergattern gibt. Erstaunlich aktuell wirken diese Missstände - und sogar die Umweltthematik spielt am Rande herein.

Die Nähmaschine ratterte und wurde wieder still oder ratterte und wurde bei den langen Säumen, die Mrs. Perrault an den braunen Kostümen nähte, immer lauter, während Mrs. Munch an dem weißen, durchsichtigen Feenkostüm für Sally Munch meterweise Lametta anbrachte. Mrs. Munch meinte gut gelaunt, dass das Lametta Sallys Selbstwertgefühl anheben würde. Unzählige Sommersprossen und eine riesige Zahnlücke, oben waren ihr vier Milchzähne ausgefallen, trafen die Kleine in ihrer Eitelkeit schwer, vor allem, weil die ältere Schwester, die bereits ihre zweiten Zähne hatte, sie andauernd damit aufzog.

"Heute Abend wird sie sich freuen", sagte Mrs. Munch. "Diese armen Kleinen, für sie ist das Lametta das Wichtigste." Sie kehrte wieder zum ursprünglichen Gegenstand ihrer Unterhaltung zurück.

"Hätte man ihn doch nur hier im Krankenhaus in Encina gelassen, wäre alles gut gegangen. Ich könnte mir die Augen ausweinen, wenn ich daran denke, und ich gehöre nicht mal zur Familie. Er war ein so netter Kerl und so gesund. Innenspieler beim Basketball und ich weiß nicht was noch alles. Ich sollte nicht sagen was - aber vierzig Grad Fieber, und das tagelang! Keiner gibt ihm mehr eine Chance. Er wäre trotz der Infektion wieder gesund geworden, wenn man ihn nur gelassen hätte, wo er war, und die Abflusskanüle nicht verloren gegangen wäre. Einen schweren Fall wie diesen in ein anderes Krankenhaus zu verlegen! Kriminell ist das! Und es hat drei Tage gedauert, bis man im Bezirkshospital herausgefunden hatte, was mit ihm los war. Sie sind völlig überbelegt. Leute, die im Sterben liegen, werden nicht mehr stationär aufgenommen und müssen stundenlang im Wartezimmer sitzen. Wenn man zum Beispiel was am Herzen hat und nach vier Stunden Warten endlich mit einem Pfleger gesprochen hat und der Doktor fürs Herz an diesem Tag gerade nicht da ist, muss man am nächsten Tag wiederkommen. Ich habe auch gehört, dass die gerne Experimente an Leuten machen, die zu krank sind, um sich zu wehren oder um zu wissen, was man gerade mit ihnen anstellt. Das Krankenhaus hier in Encina", sagte sie abschließend in bitterem Tonfall, "ist wundervoll, aber sie haben eine Riesenangst, dass man seine Rechnungen nicht bezahlen kann. Als wäre Armut ansteckend, wie bei Leprakranken. Also bleibt das Bezirkshospital oder Selbstmord, je nachdem, was schneller geht."

Die letzten drei Jahre hatten Mrs. Munch unnachgiebiger werden lassen. Ihr Ehemann, ein Maler, war die meiste Zeit arbeitslos gewesen und hatte erst vor kurzem einen Job beim Bezirk im Straßenbau gefunden. Als Nächstes nahm sie sich die Versorgungsbetriebe zur Brust.

"Hast du schon gehört", fragte sie Mrs. Perrault, "den Yeomans hat man das Gas, die Elektrizität und das Wasser abgestellt."

"Das Wasser darf man nicht abstellen", sagte Mrs. Perrault. "Dagegen gibt es irgendein Gesetz."

"Das Wasser von den Yeomans wird aus dem eigenen Brunnen hochgepumpt, und der wird elektrisch betrieben", sagte Mrs. Munch. "Und damit haben sie auch kein Wasser mehr. Mrs. Yeoman hat Wasser von den Nachbarn geholt, damit sie waschen kann, und für alles andere. Vielleicht gibt es ein Gesetz gegen das Abstellen, aber natürlich kann man von einem großen Unternehmen nicht erwarten, dass die sich vorher erkundigen, ob es gerade passt oder nicht. Na ja, sie haben einen Holzofen und eine Kerosinleuchte. Und sie haben wenigstens keine Toilette mit Wasserspülung - für irgendwas kann man immer dankbar sein. Am meisten fehlt ihnen das Radio. Eine fünfköpfige Familie und eine bettlägerige Mutter, und für alle von Hand waschen! Natürlich würde das Versorgungsunternehmen Verluste machen, wenn es auf so was Rücksicht nehmen wollte."

Als Nächstes waren die Reindls an der Reihe, wie immer, wenn es um das Thema Sozialhilfe ging. Je weniger man über sie wusste, desto mehr redete man über sie, bemerkte Mrs. Perrault. Sie lebte in unmittelbarer Nachbarschaft und hätte eigentlich mehr über sie wissen sollen als alle anderen in South Encina, aber sie wusste noch weniger. Offenbar waren sie, seitdem sie hierher umgezogen waren, wohlhabender geworden, und doch hieß es, sie lebten vor allem von Sozialhilfe. Und es war der Umfang dieser Zuwendungen, der die Nachbarschaft interessierte.

So war zum Beispiel bekannt, dass Mr. Reindl für Sozialhilfeprojekte der Stadt Encina arbeitete, obwohl er genauso wenig innerhalb der Stadtgrenzen wohnte wie die Munchs, und Mr. Munch war ein solcher Job von der Stadt verweigert worden. Als er argumentiert hatte, dass Mr. Reindl einen Job hatte, sogar seit Monaten bei der Stadt beschäftigt war, wurde ihm gesagt, es müsse sich um einen Fehler handeln und dass man die Listen noch einmal durchgehen würde. Mr. Reindl arbeitete so lange bei der Stadt, bis ein einträglicherer Job auftauchte und er in den Dienst für den Bayshore Highway trat. Diese großartige Verkehrsader verband San Tomás mit San Francisco und verlief bis zu den Außenbezirken von Encina an der Bucht entlang, bog dann leicht ins sumpfige Inland und erreichte am unteren Ende der Bucht wieder festen Grund und Boden. Die Straße sollte eine direkte Route von San Francisco durch das Tal sein und, bewohnte Bezirke meidend, den verkehrsreichen Camino Real entlasten. Ein vierspuriger Highway, der auf dem bereits fertiggestellten und befahrenen Streckenabschnitt so breit war, dass man, wie Andrew es ausdrückte, "sich glatt verfahren" könne. Der Teil, an dem gerade gebaut wurde, verlief durch Marschland. Man trug kleinere Berge ab, um Material für das Fundament zu haben, und das Projekt sorgte insgesamt für viele Jobs in dem Bezirk. Doch bis jetzt hatte Mr. Reindl als Einziger aus South Encina einen Job beim Straßenbau gefunden. Andrew und Duncan hatten natürlich die Arbeiten in Augenschein genommen, die das unberührte Marschland zerstörten, und waren wie Mrs. Munch der Meinung, dass diese Region so nah an South Encina lag und damit zum Hinterland der Stadt gehörte, dass die Einwohner beim Bau des Highways eigentlich ein Wörtchen mitzureden hätten.

"Es ist nicht nur so, dass er Jobs bekommt, die für uns andere unerreichbar sind", fuhr Mrs. Munch mit ihren Kommentaren zu den Reindls fort und legte dabei das lamettageschmückte Kleid zur Seite und nahm ein braunes Musselinkostüm zur Hand, "er hat auch Geld zum Bauen. Wer sich ein hübsches Häuschen hinstellen kann, wie das, was er diesen Sommer in der einen Ecke von seinem Grundstück gebaut hat, braucht keine Sozialhilfe. Wenigstens nicht so dringend wie die Yeomans. Jede Woche bekommen sie zwei Körbe, einen vom Roten Kreuz, den anderen vom Bezirk. Der Bezirk schickt natürlich vor allem Bohnen. Sie haben auch ein Schwein und Hühner und die Stockenten, die ihr Sohn angeblich gefunden hat, wer's glaubt, wird selig. Er behauptet, er hätte sie unten am Rand der Marsch gefunden, und wenn es sich um eine andere Familie handelte, würde ich das vermutlich auch glauben."

"Es gibt wirklich wilde Stockenten im Marschland", sagte Mrs. Perrault.

"Selbstverständlich", sagte Mrs. Munch, "aber hast du schon mal versucht eine von denen zu fangen, und dich auf allen vieren angeschlichen? Zahme Enten sind leicht zu fangen, das stimmt, meistens hat man denen auch die Flügel gestutzt, und sie können nicht fliegen."

"Na ja", sagte Mrs. Perrault, "das Schwein haben sie aber bestimmt nicht gestohlen. Und das Häuschen ist für seine Mutter. Wahrscheinlich hat sie das Bauholz bezahlt, und er hat es ja auch mit seinen eigenen Händen gebaut."

Mrs. Munch verknotete eine Weile Fäden miteinander. Dann fragte sie,

"Kennst du diesen dicken Mann, der immer im Garten arbeitet, er ist blond und sieht ganz anders aus als alle anderen?"

"Nennen sie ihn nicht Harvey?", sagte Mrs. Perrault zurückhaltend.

"Einmal habe ich Mandy gefragt, wer das ist", sagte Mrs. Munch, "und sie hat gesagt, oh, das ist der Mann, für den meine Oma kocht."

"Und?", sagte Mrs. Perrault.

"Na ja, er lebt nicht im Haupthaus", sagte Mrs. Munch. Darauf ließ sie die Hände in den Schoß fallen und fuhr mit veränderter Stimme fort, "Gott weiß, Mary, ich gönne ihnen alles, solange sie es wirklich brauchen, und ich habe auch überhaupt nichts gegen sie, aber hin und wieder sieht es doch so aus, als würden sie sich überall vordrängeln und sich nehmen, was sie kriegen können, ob sie es nun brauchen oder nicht. So wie gestern Mittag. Seitdem die P. T. A. in der Schule warmes Mittagessen ausgibt, helfe ich den Lehrern dabei, die Suppe an die Kinder zu verteilen, und da ist Mandy Reindl zu mir gekommen und meinte, 'meine Oma hat gesagt, wenn noch Suppe übrig ist, kannst du mir die mitgeben, denn die kann sie gut gebrauchen.' Bei Gott, ich kann sie selbst auch gut gebrauchen. Und damit bin ich wirklich nicht alleine. Und wann hat einer von den Reindls jemals was für die P. T. A. getan? Aber ich habe ihr die Suppe dann doch mitgegeben."


Mit freundlicher Genehmigung des dtv Verlags

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