Vorworte

Leseprobe zu Shady Lewis: "Auf dem Nullmeridian"

Über Bücher, die kommen.

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Bei seiner Ankunft in England ist Shady Lewis' Protagonist auf eine Sache besonders erpicht. Dort, hat er schon als Kind gelernt, gebe es nicht nur Meinungsfreiheit, sondern auch einen Ort, an dem sie täglich praktiziert werde: den Speakers' Corner im Londoner Hyde Park. Er eilt hin - und findet fast nur religiöse Fanatiker vor, die mit unterschiedlichen heiligen Büchern wedeln, aber unterm Strich alle ungefähr dasselbe von sich geben. Unsere Leseprobe setzt am Ende dieser Szene ein.

Ich ging an jenem Tag enttäuscht darüber nach Hause, was aus der Meinungsfreiheit in diesem Land geworden war, und viele Jahre lang dachte ich nicht mehr daran. Ich erwartete schon, dass ich keinen Gedanken mehr an die Freiheit des Wortes verschwenden würde, bis eines Tages etwas wahrhaft Ungewöhnliches geschah. Durch Zufall sah ich auf einem großen Fernsehbildschirm im Schaufenster eines Geschäfts in der Oxford Street, wie die Ägypter in Kairo auf den Tahrir-Platz strömten, und zwei Tage später hörte ich davon, dass es auch in London Leute gab, die vor der ägyptischen Botschaft Solidaritätsdemonstrationen abhielten. Ich beschloss, mich ihnen anzuschließen. Ehrlich gesagt habe ich mich für ägyptische oder sonstige Politik damals überhaupt nicht interessiert, und ich hatte auch Vorbehalte gegen das Wort Solidarität. Ich fand Solidarität überheblich oder im besten Fall einen passiven Versuch, das eigene Gewissen zu beruhigen. Ich tue Dinge normalerweise entweder unter vollem Einsatz, oder ich lasse sie sein. Deshalb tue ich meistens gar nichts. Aber hier sah ich eine Gelegenheit, die ich nicht verstreichen lassen wollte. Endlich konnte ich einmal selbst Meinungsfreiheit praktizieren, wenn auch nur aus Solidarität heraus. Nichts ist schöner, als Dinge um ihrer selbst willen zu tun, ohne weitergehende Absichten. Wie Farid al-Atrash einst sang: Keine Liebe ist so edel wie die hoffnungslose!

Als ich zum ersten Mal zur ägyptischen Botschaft ging, standen dort immerhin etwa fünfzig Demonstranten, umgeben von drei Reihen metallener Absperrgitter, die die Polizei aufgestellt hatte. Die Stelle, wo demonstriert wurde, war eine Art Ecke, was mich veranlasste anzunehmen, dass es in diesem Land einen Zusammenhang zwischen Ecken und Meinungsfreiheit gab - nicht unbedingt im juristischen Sinn, aber zumindest aus einer Art Gewohnheit oder ästhetischen Erwägungen heraus. Manche Demonstrierenden riefen mit gewissem Eifer Parolen, andere unterhielten sich leise darüber, was wohl am nächsten Tag passieren würde. In der Nähe von uns standen zwei britische Polizistinnen. Sie lächelten konstant, wenn auch etwas gekünstelt.

Kurz darauf öffnete sich plötzlich die Botschaftstür, und heraus trat ein Mann, offensichtlich ein rangniedriger Angestellter. Er hielt eine Tasse Tee in der Hand und stellte sich abseits des Eingangs, um eine Zigarette zu rauchen. Kurze Zeit herrschte vorsichtiges Schweigen, dann folgte eine ganze Welle von leidenschaftlich hervorgestoßenen Parolen, als der Mann den ersten Rauch ausblies. Der Angestellte schien überrascht zu sein, dass wir da waren, und schaute uns verunsichert an. Immer wieder nahm er einen Schluck Tee und beobachtete uns dazwischen mit kindlicher Neugier. Peinlicherweise muss ich zugeben, dass die plötzliche Erscheinung dieses Mannes und sein anschließendes unauffälliges Verschwinden in der Botschaft, nachdem er seine Zigarette schnell zu Ende geraucht hatte, das Aufregendste war, was an jenem Tag passierte. Die Demonstrierenden waren uneins, was man von dem Mann zu halten hatte. Die meisten Ägypter, die wie ich erst wenige Jahre im Land waren, waren der Meinung, dass man einem solchen kleinen Botschaftsangestellten nichts anlasten konnte. Die anderen aber, unter ihnen Briten und in Großbritannien geborene Ägypter - man erkannte sie an ihrem durchgestreckten Rücken und ihren breiten Schultern, und aus irgendeinem Grund sahen ihre Backen rot und gesund aus -, waren richtig wütend auf ihn. Er hatte seine Zigarette auf den Boden fallen lassen und sie mit dem Schuh ausgetreten, was sie als eine Herabwürdigung des Bildes sahen, das Ägypten auf diese Weise im Ausland abgab. Die beiden Lager gerieten darüber in heftigen Streit, man schrie sich an, und beinahe wäre es zu einem Handgemenge gekommen, wäre nicht eine der beiden Polizistinnen eingeschritten und hätte die Widerstreitenden getrennt.

Ruhe kehrte erst wieder ein, als ein junger Demonstrant aus der Gruppe derer mit den geraden Rücken eines der um die Protestierenden herum aufgebauten Absperrgitter übersprang und mit festen Schritten zum Botschaftsgebäude lief. Er war fast an der Eingangstür angekommen, alle hielten den Atem an, da bückte er sich, hob den Zigarettenstumpf auf und entsorgte ihn im nächsten Abfalleimer. Ein Teil der Menge applaudierte ihm frenetisch, die beiden Polizistinnen sahen sich zufrieden an und lachten.

Ich war nicht weniger enttäuscht als an meinem ersten Tag im Hyde Park, denn plötzlich merkte ich mitten im Demonstrieren, dass Freiheit etwas sehr Langweiliges sein kann. Freiheit zu praktizieren, ohne dass man dabei ein wenig riskiert oder ein Mindestmaß an Konsequenzen befürchten muss, macht keinen Spaß. Ich beneidete meine Landsleute in Ägypten. Die hatten es wenigstens mit Scharfschützen auf Dächern zu tun, Panzer standen in den Straßen, man ritt auf Kamelen in die Demonstranten hinein, F-16-Flugzeuge rasten über sie hinweg und Autos mit Diplomatenkennzeichen überfuhren sie auf Bürgersteigen. Sie erlebten alle Arten von Abenteuern, und jeder konnte auf jede erdenkliche Art zum Helden werden. Aber um nach Kairo zurückzugehen, war ich zu feige.

Aber wie sagt man so schön: Philosophie ist die Tochter der Enttäuschung, und nicht selten geht Weisheit mit Feigheit und Neid einher, und so kam ich auf eine Parole, die genau diese meine Erfahrung tiefsinnig zusammenfasste. Bei einer der Demonstrationen sagte ich sie zu einem, der gerade neben mir stand, und er war sehr angetan davon. Am meisten aber freute mich, dass er sie sogleich laut rief und die anderen sie wiederholten: "Keine Freiheit ohne Repression! Keine Freiheit ohne Repression!" Noch monatelang wurde an den Wochenenden vor der ägyptischen Botschaft zu verschiedenen Anlässen demonstriert. Ich nahm weder aus Pflichtgefühl noch aus Spaß daran teil, sondern aus Verlegenheit. Mittlerweile hatte ich einige der Organisatoren kennengelernt, sie waren sehr freundlich zu mir, und ich wollte sie nicht enttäuschen. Alle verließen sich nun auf mich, wenn es darum ging, neue kämpferische Parolen zu ersinnen. Schwer war diese Aufgabe nicht zu nennen. Ich mischte einfach Gegensätze, ich nahm so etwas wie "Gerechtigkeit", "Unrecht" oder "Würde" und setzte ein "kein" vor das positive und ein "ohne" vor das negative Wort. Es gelang immer, die Dinge damit auf den Punkt zu bringen, auch wenn ich manchmal den Verdacht hatte, dass einige der Demonstrierenden die jeweilige Parole nicht recht verstanden und die Wörter versehentlich vertauschten.

Ich ging weiter regelmäßig auf die Demos - bis zum berüchtigten Maspero-Massaker in Kairo. Viele von uns überkam nun das Gefühl, dass es sinnlos war, immer weiter zu demonstrieren, und dass unser Protest sich verbraucht hatte. Würde bedeutet auch zu erkennen, wenn man nichts mehr ausrichten kann. Weiterzumachen hatte auch deshalb keinen Sinn, weil der Botschaftsmitarbeiter während der Kundgebungen nicht mehr zum Rauchen aus dem Gebäude trat. So machte es wirklich keinen Spaß mehr, und auch meine Parolen wurden immer vorhersehbarer und rissen niemanden mehr mit.

Die Wochen vergingen, niemand meiner Mitstreiter vermisste mich, und auch ich vergaß sie. Ich verfolgte nicht einmal mehr, was in Ägypten geschah, weil es mich deprimierte, und mit der Zeit endeten nicht nur die Kundgebungen in London, sondern nach und nach auch die in Ägypten selbst. Statt mich mit solch bedrückenden Dingen zu befassen, nutzte ich meine Wochenenden nun dazu, ins Fitnesszentrum zu gehen.

Das entschädigte mich für meine zweite Enttäuschung im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit, zumal im Eingang zum Fitnessklub ein großes Schild mit der Aufschrift "No pain, no gain!" hing. Der Spruch kam mir bekannt vor. Ich ging zu einem Mitarbeiter, einem hochgewachsenen jungen Mann mit durchtrainierten Muskeln in einem phosphoreszierenden Sportanzug, auf dem vorne drauf "Personal Trainer" stand. Ich fragte ihn, wer das Motto, dass man es ohne Schmerzen zu nichts bringe, erfunden habe. Das wisse er nicht, meinte er, vermutlich ein unbekannter Philosoph. Jedenfalls sei es ein seit langer Zeit sehr verbreiteter Ausspruch, und zuweilen sei es so, dass eine Losung sich so schnell verbreite, dass die Geschichte ihren Urheber vergesse, auch wenn seine Worte ewig lebten. Der Gedanke, dass man Opfer des eigenen Erfolgs werden und sich die eigene Weisheit gegen einen selbst richten kann, gefiel mir. Der muskulöse Mann riet mir noch, man solle alles moderat angehen, den Schmerz ebenso wie den Gewinn. "Und den Erfolg", ergänzte ich. Er hatte tiefsinnig gesprochen. Sporttrainer sind die wahrhaft weisen Meister unserer Zeit. Sie stählen nicht nur Körper, sondern ordnen auch unseren Geist. Ich fühlte mich ermutigt, ihm von meinen politischen Parolen zu erzählen und davon, wie ich sie ersinne, und er bestätigte mir, dass durchaus eine Beziehung zwischen meinen Demosprüchen und dem Leitspruch des unbekannten Philosophen bestehe. Überhaupt sei Politik im Kern wie Sport, ein Fitnesszentrum sei wie das Leben oder umgekehrt, ich weiß es nicht mehr.

Mit der Zeit wurde mir klar, dass ein Fitnessklub tatsächlich wie Politik war, nur umgekehrt. Wenn ich auf dem Laufband trainierte und auf die sich unter meinen Füßen bewegende Matte blickte, stellte ich mir vor, dass sie eine umgedrehte Panzerkette sei, auf der oder vermittels derer ich renne, und entsprechend erbost trat ich auf sie ein. Was mich zudem ermutigte, regelmäßig zum Training zu gehen, war, dass ich darin einen Ausgleich für das sah, was in der Welt schieflief, eine Art Anti-Logik. Zum Beispiel, dass man etwas hat, worauf man stundenlang herumrennen kann, ohne vorwärtszukommen.


Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hoffmann und Campe

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