Vorworte

Die Heilige Johanna des Rostgürtels

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
26.06.2023. Amerikas Rust Belt - wir kennen ihn als Land der Loser, der Trump-Wähler, der aufgelassenen Fabriken und der aus schierer Not zum Eigenheim gewordenen Wohnmobile. Die junge US-Autorin Tess Gunty stammt aus dieser Region. Sie zeigt sie in ihrem von der Kritik bejubelten Debütroman so, wie sie ist - und doch ganz anders.
Tess Gunty bei einer Buchvorstellung 2023
Ein Jaguar? Klasse, wenn man Autos mag. Ein Mercedes? Hat Gewicht und verleiht Gewicht. Ein SUV? Will hoch hinaus, auch wenn es weit und breit keine Pisten gibt, die wirklich nach einem solchen Gefährt verlangen.

Stattdessen einen Zorn fahren? Das wäre mal etwas anderes, echt. In einem Auto dieses Namens setzt man den Bleifuß aufs Gaspedal, konvertiert seinen Frust in Allmachtsgefühle, Rücksicht nimmt man allenfalls auf das preziöse Vehikel selbst, dessen Modelle Namen wie Duplex Phaeton, Torpedo Hawk oder Commander Stardust tragen.

Schade nur, dass es die Marke nie gegeben hat. Produziert wurde sie in der ebenfalls fiktiven Stadt Vacca Vale, wo mit der Schließung der legendären Autofabrik dann auch die guten Zeiten zu Ende waren. Im Bundesstaat Indiana gelegen, wird der Ort zu einem so glanzlosen wie typischen Glied des amerikanischen Rostgürtels; was Zorn als Erbe hinterlässt, wird zwar unter den Bewohnern aufgeteilt, aber nicht ganz fair. Einige zehren noch vom Reichtum der einstigen industriellen Elite, andere - es sind wesentlich mehr - laborieren an den Spätfolgen der Tausende Liter Benzol, die aus einem lecken Tank auf dem Fabrikgelände unbemerkt ins Grundwasser gelangt waren.

Vacca Vale ist der Handlungsort von "The Rabbit Hutch", dem Debütroman, mit dem die 1993 geborene Tess Gunty vergangenes Jahr auf Anhieb den National Book Award holte. Die Autorin ist selbst in Indiana aufgewachsen, das literarische Bild der entseelten Stadt gerät dementsprechend zu einer Trumpfkarte in diesem ambitiösen, schillernden Buch, das manchmal seine eigenen Stärken zu kannibalisieren droht. Knapp ein Jahr nach dem Erscheinen des Originals sorgt nun Sophie Zeitz' stilsichere, gewandte Übersetzung dafür, dass deutschsprachige Leserinnen und Leser sich selbst ein Urteil über das preisgekrönte Werk bilden können.

An Ideen, in formaler wie inhaltlicher Hinsicht, mangelt es dem Romanentwurf nicht. Dass Visionen bedeutender Mystikerinnen nicht nur im Seelenleben einer traumatisierten Achtzehnjährigen einen Widerschein finden, sondern sogar im Treiben eines Zeitgenossen, der als "Der fürchterliche Leuchtmensch" auf ziemlich merkwürdige Art seine Feinde terrorisiert, markiert die surrealen und irrealen Dimensionen, die über Vacca Vale aufgespannt werden. Im titelgebenden "Kaninchenstall", einem ursprünglich für die Arbeiter der Autofabrik errichteten Mietblock, sind derweil alltäglichere Schicksale eingekastelt, welche die Schriftstellerin teils in Miniaturen abbildet, teils zu eigenständigen Geschichten entwickelt oder in die Haupthandlung überführt. Unterschiedlichste Beziehungsmuster, von inniger Fürsorge und Zärtlichkeit bis hin zum #MeToo-Szenario, werden im Buch durchleuchtet, aber auch mit modernen Formen einer Einsamkeit kontrastiert, die dünne Ersatznahrung auf Dating- und Rating-Apps, auf Videokanälen oder - schlichter - im x-ten Wiedersehen mit einer alten Fernsehserie sucht. Das Hipster-Lokal, dessen Speisekarte mit Schwarzer-Schimmel-Pie, Erdbeer-Tomaten-Essig-Pie oder Banane-Kohle-Pie lockt, rückt ebenso in den Blick wie das einsame Glas Maraschino-Kirschen, das auf einem Nachttischchen im "Kaninchenstall" des Verzehrtwerdens harrt.

Angesichts der inhaltlichen Vielfalt setzt Tess Gunty unterschiedliche Erzählformen und -Modi überlegt und dosiert ein. Sie gibt dem Roman eine Art Rückgrat, indem sich ein zentraler Erzählstrang, von stets derselben Stimme vorgetragen, kontinuierlich durchs Buch zieht, im Wechsel mit Kapiteln, die andere Charaktere und Themen beleuchten. Die beiden Passagen, die Stockwerk für Stockwerk in die Wohnungen des "Kaninchenstalls" blenden, sind als flankierende Pfeiler dieser Kernerzählung am Anfang und gegen Ende des Romans platziert; weitere formale Farbtupfer setzen mit Icons garnierte Textnachrichten, ein Zeitungsartikel oder eine Handvoll Kommentare zu einem Online-Nachruf, wo sich ins nicht immer pietätvolle Gedenken an die Verstorbene auch völlig artfremdes Material mischt, von der Verschwörungstheorie bis zur plumpen Eigenwerbung. Den eigentlichen Coup landet die Autorin, wenn der Gewaltakt, auf den hin der zentrale Spannungsbogen des Romans zielt, zunächst in einer Serie von Zeichnungen abgebildet wird, die sich zwar ansatzweise lesen, aber erst mithilfe des folgenden Kapitels wirklich entschlüsseln lassen.

Gunty verteilt ihre Inhalte auf drei teils eng, teils nur lose verschränkte Haupt- und etliche Nebenerzählungen. Im Zentrum steht jene Achtzehnjährige, die sich durch den Blick auf Mystikerinnen und Märtyrerinnen buchstäblich aus ihrem eigenen, versehrten Leben zu reißen versucht: Ihr Verlangen, den eigenen Körper zu verlassen, wird schon in den ersten zwei Sätzen des Romans angesprochen, und die Formulierung klingt immer wieder auf. Ihren Taufnamen Tiffany hat die junge Frau bereits abgestreift, sie nennt sich nun, nach einer christlichen Märtyrerin, Blandine. Kaum jemand dürfte den Namen auf Anhieb entsprechend einzuordnen wissen; hingegen kann er, zumindest beim englischsprachigen Publikum, zunächst Assoziationen aufrufen, bei denen man sich fragt, ob die Schriftstellerin sie tatsächlich intendiert hat. "Bland" bedeutet im Englischen "mild, sanftmütig", aber auch "fade", "farblos", "uninteressant". Gewiss darf man mit diesen Begriffen nicht über der Romanheldin den Stab brechen, aber dass sie im Hinterkopf aufscheinen, ist nicht ganz zufällig. Zumindest den Aspekt der Farblosigkeit hat Gunty der Figur sogar selbst auf den Leib geschrieben: "Haut und Haare so weiß wie die Wand", schildert sie einer der jungen Männer, mit denen Blandine eine Wohnung im "Kaninchenstall" teilt.

Aber nicht hier liegt das Problem der Protagonistin, sondern darin, dass sie mit Inhalten schlicht überfrachtet wird. Blandine figuriert gleich in zwei Haupterzählungen: Sie ist es, die beim erwähnten Gewaltakt, der unter ihren drei Wohngefährten langsam hochgekocht wird, buchstäblich ins Messer läuft; daneben steht sie im Fokus einer Beziehung, die der aktuellen #MeToo-Thematik entlanggeschrieben ist - zwar mit eigenen, teils subtilen Akzenten, aber auch mit eher phrasenhaften Passagen. Im Rücken hat Blandine eine höllische Jugend als Pflegekind mit wiederholter Missbrauchserfahrung, vor Augen die Martyrien und mystischen Visionen, die ihr nicht zuletzt eine Projektionsfläche für das erfahrene Leid sind. Last but not least tritt sie auch noch mit einer Art Voodoo-Terror gegen eine Truppe von Geschäftsleuten und Lokalpolitikern an, die Vacca Vale zu einem Tech-Hub ummodeln und dafür den weiträumigen Park, das einzig Schöne in der Stadt, opfern wollen. Unter dieser Themenlast würde wohl jede Figur zusammenbrechen; so sind auch bei Blandine manche Wesenszüge nicht genügend ausgearbeitet und integriert, um ein überzeugendes Charakterbild zu formen, ihre Diskurse können manchmal papieren wirken. Vor allem aber wird der Geschichte ihrer Liaison mit einem Lehrer, der vom Mentor zum Lover wird und das Mädchen dann ziemlich kaltschnäuzig abserviert, eine Breite zugestanden, die das Romangefüge aus dem Gleichgewicht zu bringen droht.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Episode, auch wenn Gunty spürbar Herzblut in sie investiert, zu den konventionelleren, auch durch die starke Medienpräsenz des Themas schon etwas abgenützten Bauteilen des Romans gehört. Grundsätzlich ist es ein kluger Entscheid, die Flamboyanz gewisser Handlungselemente - der "fürchterliche Leuchtmensch" trägt in dieser Hinsicht zweifellos den Pokal davon - in stärker geerdete Geschichten einzubinden; aber zu diesem Zweck stehen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des "Kaninchenstalls" genügend Charaktere bereit, die sich auf stimmige und originelle Art einsetzen lassen. Den bravourösen Beweis dafür liefert die Schriftstellerin mit einer Figur, die auf den ersten Blick allein durch ihre Unauffälligkeit auffällt.

Joan Kowalski heißt sie, und ihr einziges besonderes Kennzeichen ist meistens unsichtbar: Sie hat Sommersprossen auf den Augenlidern. Ihr Brot verdient Joan als Content-Managerin der Website "Restinpeace.com", sie muss bösartige, unziemliche oder nicht sachbezogene Kommentare zu den dort publizierten Nachrufen tilgen. Will sie jemanden aus ihrem Team beeindrucken, verschlingt sie coram publico Unmengen von Wassermelone - weibliche Umgarnungsstrategien sehen in der Regel anders aus. Kein Wunder, dass Joan einsam und von Selbstzweifeln zerfressen ist. Im "Kaninchenstall" lebt sie ein Stockwerk unter Blandine und deren Wohngenossen; sacht und mit wunderbar leichter Hand führt Gunty die beiden scheinbar so unterschiedlichen und innerlich doch verwandten Frauen am Ende zusammen.

Paradoxerweise ist es ausgerechnet diese graue Maus, die der "fürchterliche Leuchtmensch" - mit bürgerlichem Namen Moses Robert Blitz - sich zum Opfer erkoren hat. Wie das, umso mehr, als der Mann eigens aus dem mondänen Los Angeles anreisen muss, um Rache an ihr zu üben?

Seinen Groll zog Joan auf sich, indem sie den giftigen Kommentar löschte, den Moses unter den "Auto-Nekrolog" seiner Mutter Elsie gesetzt hatte. Deren mit Witz und Ironie gewürzter Text war sozusagen die Abschiedsvorstellung einer Schauspielerin, die zeitlebens gewohnt war, im Rampenlicht zu stehen. Von ehrgeizigen Eltern früh vor die Kamera gescheucht, von Regisseuren gnadenlos auf Leistung und Wohlgefälligkeit getrimmt, avancierte Elsie Blitz schon mit sechs Jahren zum Liebling der Nation - und erstarrte innerlich im Lauf der Zeit zu einer selbstbezogenen, seelisch beschnittenen Frau, für die dann das in in ihrem Leib heranwachsende Kind nicht mehr war als ein "raffinierter Parasit". So wird aus dem seelisch unterkühlten Sohn ein Neurotiker, der sich im Wahn, aus seinen Poren würden bunte, juckende Fasern sprießen, die Haut blutig kratzt; sein Labsal findet er im phosphoreszierenden (und toxischen) Inhalt von Knicklichtern, den er auf den nackten Körper aufträgt, um dann nachts diejenigen heimzusuchen, die seinen Zorn erregt haben.

Mit dem Mutter-Sohn-Paar setzt Gunty die Hochwassermarke eines Themas, das im Roman eine ganze Anzahl Figuren verbindet. Elsie und Moses sind die exzentrischen Luxusvarianten einer Wurzellosigkeit und inneren Isolation, die auch Blandine und - in unterschiedlichem Maß - ihre Wohngefährten Jack, Malik und Todd erfahren haben: Alle vier stammen sie aus schwierigen Verhältnissen und sind in Pflegefamilien aufgewachsen. Während Malik und Jack mit Frostschäden an der Seele davongekommen sind, liegt bei Blandine und Todd, dem verschlossensten und verletzlichsten der Jungen, eine dicke Eisschicht über dem Kindheitstrauma, durch die nur da und dort ein Reflex des Erlittenen fällt. Zugleich skurril und berührend wirkt in dieser Hinsicht die Episode, in der Todd sich während eines Schulausflugs heimlich absetzt und zu Ikea pilgert: "Er verbrachte den ganzen beschissenen Tag dort. Sagt, er hat in drei verschiedenen Wohnzimmern drei Comics gelesen, hat auf einer künstlichen Terrasse Fleischbällchen gegessen und in einem vollkommen schwarzen Bett ein Nickerchen gemacht. Niemand hat ihn gestört. Die lassen einen einfach da abhängen, sagt er. Wie in einem Traum. Die ganzen Würfel unterschiedlicher, erfundener Wohnungen nebeneinander, die zusammen keinen Sinn ergeben."

Es sind nicht zuletzt solche Vignetten und Beobachtungen, in denen Tess Gunty ihre literarische Stärke beweist. Mit wenigen Sätzen oder auch nur einer eigenwilligen Wortkombination pflanzt sie Charakterisierungen in den Text, die pfeilscharf den Kern der Sache treffen. Blandine etwa "hat eins dieser Gehirne, die sich selbst bekämpfen, wenn sie nicht mit einer schwierigen Aufgabe beschäftigt sind"; in einem seltenen glücklichen Moment dagegen bewegt sie sich "langsam, verträumt, wie durch Schlagsahne". Ein Säugling, gerade mal vier Wochen alt, "registriert jeden Sinneseindruck mit einem Ausdruck der Empörung, blickt in die Welt, als könnte er sie verklagen" - und auch eine Fünfjährige weiß schon, was Sache ist, wenn ihre Mutter sich beim Treffen mit dem Ex-Mann von einer Peinlichkeit zur nächsten palavert: "Das Mädchen sieht sie streng an und wirkt einen Moment lang unverhältnismäßig riesig, wie Jesus auf den Gemälden von Mutter und Kind." Unterwegs zwischen den verwahrlosten Brachen und billigen Zweckbauten an der Peripherie von Vacca Vale sieht Blandine am Straßenrand ein Kondom, "das mit Rinde und Matsch gefüllt ist, als hätten sich letzte Nacht zwei Bäume gepaart"; die Graffiti, welche die Wände der aufgelassenen Zorn-Fabrikhallen bedecken, sind "wie das Internet. Schau hierher, schreit jede Botschaft, wenn keiner schaut." - Mit diesem Schicksal, so viel ist erst einmal klar, wird Tess Guntys Werk nicht rechnen müssen.


Tess Gunty: Der Kaninchenstall
Roman
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 416 Seiten, gebunden, 25 Euro.

Erscheint am 6. Juli 2023

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