Bücher der Saison

Lyrik

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
13.11.2019. Eine Expedition in bisher unbekanntes Terrain mit Henrik Wergeland, dem norwegischen Baudelaire, Säufer und Kämpfer für die Entrechteten. Chachlakisch hören mit Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki, Christian Elzes Venedig und Wiener Dialektgedichte von Christine Nöstlinger.
Diesmal also Norwegen. Für die Gastlandauftritte auf der Buchmesse wird meist eine Menge übersetzt. Wie stark diese Übersetzungen dann von der Kritik wahrgenommen werden, ist noch eine andere Frage. Immerhin: Henrik Wergelands "Im wilden Paradies" (Bestellen) wurde einige Male besprochen und gehört zu den nützlichen Übersetzungen, die Lesern eine Expedition in bisher unbekanntes Terrain erlauben: Wergeland war Zeitgenosse Baudelaires und extrem experimentierfreudig, heißt es im Klappentext, eine wichtige Referenz außerdem für berühmtere skandinavische Autoren wie Ibsen oder Hamsun. Ein Theologe war er, erzählt Aldo Keel in der NZZ, dem wegen seiner Aufmüpfigkeit jedes Amt verwehrt blieb, ein Säufer, Raufbold und Kämpfer für die Armen und Entrechteten, wie die Juden, die zu Wergelands Zeit noch kein Niederlassungsrecht in Norwegen besaßen. Carsten Hueck staunt in Dlf Kultur über die Autonomie von Wergelands Texten und ihre bleibende Frische. Als weiteres Vademecum für Erkundungen in die norwegische Lyrik sollte man zur Anthologie "Sternenlichtregen" (Bestellen) greifen. Zumindest ausschnitthaft kann man sich hier einen Eindruck verschaffen, notiert in Dlf Kultur Andre Hatting, dem allerdings ein Nachwort fehlt.

Die in Bern lebende italienische Dichterin Donata Berra ist Lyrikerin, aber auch Übersetzerin aus dem Deutschen, etwa von Wolfgang Hildesheimer, Friedrich Dürrenmatt und Klaus Merz. "Maddalena" (bestellen), eine Auswahl ihrer Gedichte, ist jetzt im Limmat-Verlag erschienen. Niklas Bender bewundert in der FAZ sowohl die sehr konkrete Musikalität von Berras Gedichten, als auch die Verwandlung vom Konkreten ins Abstrakte. Alliteration und Wiederholung sind ihre bevorzugten Verfahren, so Bender, der sich an die Oulipo-Gruppe erinnert fühlt. Auch Roman Bucheli lobt die Ausgabe in der NZZ. Der Dichter Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki wurde an der polnisch-ukrainischen Grenze in Wólka Krowicka geboren. Im Zentrum seines Gedichbands "Norwids Geliebte" (Bestellen) steht laut Verlag "seine sich selbst zur Geliebten des romantischen Dichters Cyprian Kamil Norwid stilisierende Mutter, ihr Hang zum Alkohol, ihre Schizophrenie. Sowie sein tyrannischer Vater, 'der Ernährer', der ihnen verbot, die regionale ukrainisch-polnische Mischsprache Chachlakisch zu sprechen." Für den Dichter Nico Bleutge (Dlf Kultur) ist Tkaczyszyn-Dycki ein "Wolkenschieber", einer, der immer wieder "neue Welten schaffen" kann. Idyllisch geht es dabei nicht zu, warnt Bleutge. Widersprüche, Krankheit und Tod gehören für Dycki selbstverständlich zu dieser Welt. Wie der Autor "balladesk" Eros, Krankheit und Tod nachspürt und mit "großer Zärtlichkeit" Bilder aus der Zone zwischen Wachen und Träumen heraufbeschwört, findet Marie Luise Knott in der FAZ stark. Großes Lob geht auch an die Klang und Rhythmus des polnischen Originals gelungen nachbildende Übersetzung von Uljana Wolf und Michael Zgodzay.

Hm, irgendwie klingt es so, als sei der Klappentext zu Monika Rincks "Alle Türen" (bestellen) bereits Teil des lyrischen Projekts: "Alles liegt offen da, das Licht ist silbern, die Tage überblenden, niemand verlässt den Raum. Monika Rinck lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Frau als Mensch, die Unbeständigkeit der Wilden Seele, die Grand-Duchesse von Gerolstein, den Grand Pacific Garbage Patch und die allgegenwärtige Groteske der Grenzen und deutsche Dünnhäutigkeit." FAZ-Rezensent Patrick Bahners leuchtet Rincks Idee, Lyrik künftig bei Sachbuch einzuordnen, ein, zumal die Autorin in ihren Texten "Vergessenes und Verworfenes" montiert, Kracauer und Jacques Offenbach zitiert und den Leser des öfteren nachschlagen lässt. Allgemein werden Rincks Witz, Virtuosität und Leichtigkeit gelobt. Ein ambitioniertes Programm. Das Venedig in Carl-Christian Elzes Gedichtband "Langsames ermatten im Labyrinth" (bestellen) ist nicht das der Postkarten, "es ist ein Labyrinth der Ratten, Fliegen, Tauben - aber auch der Päpste, Dogen, Gondeln und Engel. Ihre Anmut geht gänzlich in Elzes Verse über", heißt es im Klappentext. FAZ-Rezensentin Bettina Hartz lässt sich überzeugen. Dank seiner Schlaflosigkeit (schuld war der Lärm von Wasserpumpen und Ratten bei einem dreimonatigen Venedig-Stipendium) sei Elze wie in Trance durch die Stadt getrieben, wie ein "Existenzialist und Gottsucher". Kann man mal sehen: der Beitrag von Wasserpumpen und Ratten zu lyrischer Qualität. Spätere Literaturgeschichten werden es ihnen danken.

Dialektgedichte. So mundartig liest sich Christine Nöstlingers "Ned, dasi ned gean do warat" (bestellen), dass sich sogar FAZ-Kritikerin Daniela Strigl, selbst Österreicherin, ein Glossar gewünscht hätte. Aber dennoch scheinen ihr Nöstlingers Blick auf Randfiguren der Wiener Stadtlandschaft aus dem Nachlass der Kinderbuchautorein äußerst lesenswert. Oft hilft lautes Lesen, den Sinn zu erfassen, versichert sie, im Notfall hilft nur raten, etwa, was "si heimdran" bedeutet ("heimdrehen", also "sich umbringen"). Was die Härte des Lebens bedeutet, das Alter, die Krankheit, materielle Not und handfeste Brutalität, fasst die Autorin mit sozialkritischer Absicht, erklärt Strigl. Der Dialekt habe hier dokumentarische wie gestalterische Funktion. In der SZ hat Clemens J. Setz höchstselbst den Band besprochen: Dass er nach Kindheitserlebnissen mit ihren Texten noch einmal dem "Bua" mit dem Goldfisch aus Nöstlingers "iba de gaunz oamen leit" begegnen darf, macht Setz ganz narrisch. Er bedauert sehr, dass der Band nur fünfzig Seiten hat. Auf jeden Fall ein wunderbares Geschenk für jeden Liebhaber der Stadt Wien, der ausnahmsweise auch mal ihre Einwohner verstehen will.

Dringend empfohlen wird von Cornelia Jentzsch schließlich noch der Band "Aller Anfang ist Poesie" (Bestellen) mit Essays des 1996 verstorbenen griechischen Literaturnobelpreisträgers und Dichters Odysseas Elytis zu Kultur und Lyrik. Jentzsch erfährt daraus, wie Elytis über einem Papyrus von Sappho zum Dichter wurde, wie er Licht, Meer und Freiheit zu den Komponenten seiner Lyrik machte und wie Landschaft eine Sprache prägt. Ein großes Dankeschön der Rezensentin geht auch an den Übersetzer Giorgis Fotopoulos und den Aphaia Verlag, ohne die diese Essays nie auf Deutsch hätten erscheinen können.