Bücher der Saison

Politische Bücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
13.11.2019. 30 Jahre Mauerfall: Da führt uns Steffen Mau erstmal nach Rostock-Lütten Klein. Ivan Krastev und Stephen Holmes suchen einen neuen Liberalismus, Kwame Anthony Appiah setzt auf kulturellen Mischmasch, Julia Ebner wirft einen langen Blick auf die Radikalisierungsmaschinen. Und Naomi Klein plädiert für einen New Green Deal.
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30 Jahre Mauerfall

Cover: Lütten KleinSteffen Mau hat die Kritiker mit seinem Buch über das Rostocker Neubaugebiet "Lütten Klein" (Bestellen) provoziert. Er beleuchtet darin als Soziologe, aber auch aus eigener Anschauung, wie sich die ostdeutschen Gesellschaft in den dreißig Jahren seit dem Mauerfall verändert hat - oder auch nicht. Zu den Befunden seiner Arbeit gehört, dass sich die Unterschiede zwischen Ost und West mitnichten abschleifen, dass die Ostdeutschen stärker als die Westdeutschen an einer nationalen Identität festhalten und dass sie von dem permanenten Anpassungsdruck, dem sie sich ausgesetzt fühlen, erschöpft sind. Im Deutschlandfunk empfiehlt Silke Hasselmann das Buch vorbehaltlos. In der FAZ äußert Frank Pergande Einwände gegen Maus These, dass am Ende vor allem fehlende Aufstiegsmöglichkeiten der jüngeren Generation die Unzufriedenheit in der DDR beförderten, wo eine mühelos aufgestiegene Gründergeneration wie Blei über den Nachfolgenden thront. In der SZ kam Burkhard Müller mit der doppelten Sichtweise des Autors nicht zurecht, die ihn nur zum Schielen brachte.

Cover: NachwendekinderCover: Wie alles anders bleibtDer Journalist Johannes Nichelmann, selbst Jahrgang 1989, versammelt in seinem Buch "Nachwendekinder" (Bestellen) Gespräche mit jungen Ostdeutschen, die die DDR nicht mehr aus eigenem Erleben kennen, aber ihre Folgen in ihren Familien spüren. In der FR empfiehlt Cornelia Geißler das Buch nachdrücklich, weil es einen erhellenden und teils verstörenden Blick auf ostdeutsche Erfahrungen und familiären Konflikte wirft. In der SZ findet Dietmar Süß das Buch schon deshalb sympathisch, weil es die zum Teil erschütternden Erfahrungen der Interviewten eben nicht zu einer "Generationengeschichte" zusammenkleistert. Eindringlich und klug wird es in seinen Augen aber vor allem dadurch, dass es einen ostdeutschen Generationendialog eröffnet, "für den es bisher kaum einen Resonanzraum und im Westen kaum ein Gehör gibt". Ebenfalls empfohlen wird Jana Hensels Buch "Wie alles anders bleibt" (Bestellen), das Arbeiten der Journalistin aus zehn Jahre versammelt, etwa zu deutsch-deutscher Erinnerungskultur, der Chemnitzer Familie Kummer oder der Band Kraftclub.

Cover: Akte geschlossenGyörgy Dalos gehört zu jenen Dissidenten, die in ihrer Jugend als glühende Kommunisten starteten. 1943 als Kind ungarisch-jüdischer Eltern geboren, ging er 1960 nach Moskau, wandte sich jedoch bald enttäuscht vom sowjetischen System ab. Wegen maoistischer Umtriebe landete Dalos nach seiner Rückkehr in Budapest im Gefängnis, erhielt Publikationsverbot und reiste 1984 in den Westen aus. Seine Erinnerungen "Für, gegen und ohne Kommunismus" (Bestellen) wurden bisher nur wenig besprochen, gehören aber sicherlich zu den gehaltvollsten Büchern dieses Herbstes. Für Aufgeregtheiten ist Dalos nicht unbedingt zu haben ist, baut SZ-Kritiker Jens Bisky vor, für ihn war es vielmehr die reinste Wohltat, wie "leise, lebensklug und menschenfreundlich" Dalos vom Alltag im sozialistischen Ungarn und von den Peripetien seines Lebens erzählt. Erinnert sei auch noch einmal an Andras Forgachs beklemmende Familiengeschichte "Akte geschlossen" (Bestellen). Der ungarische Autor offenbart darin, dass er von seiner stets bewunderten, unkoventionellen Mutter bespitzelt wurde. Wie fair Forgach die Geschichte seiner Mutter rekonstruiert, die sich als jüdische Kommunistin stets zwischen allen Stühlen wiederfand, ringt der Rezensentin größten Respekt ab, erschüttert sie aber auch wie zuvor nur die Autobiografie des großen Peter Esterhazy.

CoverCover: Ein Jahrhundert wird abgewähltNoch nicht besprochen aber in die Sachbuch-Bestenliste gewählt wurde "Das Licht, das erlosch" (Bestellen), in dem Ivan Krastev und Stephen Holmes analysieren, wie in den osteuropäischen Ländern das westliche Modell liberaler Demokratien an Strahlkraft verlieren konnte und ein nationalistischer Illiberalismus Einzug hielt. Der Guardian brachte einen Auszug aus dem englischen Original, in dem die beiden Autoren die These aufstellen, dass sich der Populismus in Polen und Ungarn vor allem gegen den Indivdualismus richtet. Nachdrücklich empfohlen seien auch noch einmal Timothy Garton Ashs neuaufgelegte Reportagen "Ein Jahrhundert wird abgewählt" (Bestellen) aus dem Europa im Umbruch, von denen Sabine Adler im Dlf nicht glauben kann, dass sie aus den achtziger Jahren stammen, so hellsichtig, aktuell und gültig erscheinen ihr des Ausführungen des britischen Historikers. Auch Odd Arne Westads Geschichte des "Kalten Krieges" (Bestellen) finden SZ und FAZ so souverän, klug und elegant geschrieben, wie man das von einem Harvard-Professor erwartet.


Identitäten

Cover: IdentitätenCover: Yalla, Feminismus!Der Philosoph Kwame Anthony Appiah ist hervorragend geeignet, um über "Identitäten" (Bestellen) nachzudenken: in London geboren, in Ghana aufgewachsen, schwarz, schwul und absolute Upperclass. Appiah hinterfragt kollektive und individuelle Kategorisierungen ebenso wie den Begriff der kulturellen Aneignung. Gelehrt und unterhaltsam zugleich findet Miryam Schellbach das Buch in der taz. Sie geht zwar nicht mit allen Überlegungen Appiahs d'accord geht, aber sie lernt viel, zum Beispiel wenn Appiah von afrikanischen Vorstellungen berichtet, die das Subjekt als komplexe und mobile Nichteinheit begreifen. Sympathisch findet Ingo Arend im DlfKultur Appiahs Lob auf die Vielfalt, das gegen Identität auf "kulturellen Mischmasch" setzt. Wer im Identitätsdiskurs auf der Höhe der Zeit bleiben will und sich nicht von einer gewissen Muskelschau abschrecken lässt, kommt auch an Reyhan Sahins "Yalla, Feminismus!" (Bestellen) nicht vorbei. Das Buch der promovierten Linguistin, die als Rapperin unter dem Namen Lady Bitch Ray auftritt, ist Diskursanalyse, Manifest der Selbstermächtigung und feministische Geschichte des Deutsch-Raps zugleich, versichert Miryam Schellbach begeistert in der taz.


Radikalisierungen

Cover: Von Mussolini zu SalviniCover: Der Fall ItalienEin bedrückendes Bild Italiens zeichnet der frühere ORF-Korrespondent Lorenz Gallmetzer in seinem Buch "Von Mussolini zu Salvini" (Bestellen). Gallmetzer sieht den Siegeszug des Rechtspopulismus in Italien nicht als eine weitere Krise in diesem von politischen Verwerfungen seit eh und je gebeutelten Land. Nirgendwo in Europa sei das Verhältnis der Bürger zu ihren Politikern so nachhaltig zerrüttet wie in Italien, schreibt Gallmetzer, und nirgendwo hätten sich die traditionelle Gesellschaftsstrukturen so unwiderruflich aufgelöst. In der SZ warnt Werner Weidenfeld allerdings: "Dem Leser bleibt nach der Lektüre kein Hauch von Zuversicht." Auch Zeit-Journalist Ulrich Ladurner lotet in "Der Fall Italien" (Bestellen) die Lage aus, kapriziert sich aber auf Stimmungen und Emotionen, was er mit dem Plädoyer an andere europäische Länder verbindet, Italien mehr Respekt entgegenzubringen.

Cover: RadikalisierungsmaschinenCover: Völkische LandnahmeDie in London lehrende Extremismusforscherin Julia Ebner hat sich für ihre Recherchen zu "Radikalisierungsmaschinen" (Bestellen) in obsbskure Internet-Foren und Chat-Gruppen begeben, um die Mechanismen der Online-Radikalisierung zu untersuchen. Und siehe da: Egal ob Antifeministinnen, Neonazis oder Islamisten, die Radikalisierung läuft stets nach dem gleichen Schema ab: Rekrutieren, vernetzen, mobilisieren, zuschlagen. FAZ, SZ und DlfKultur loben Ebners Mut ebenso wie ihre erkenntnisreiche Arbeit. Nur die Zeit winkt ab, sie findet das Buch "schrecklich unterkomplex". Andrea Röpke und Andreas Speit haben sich als Experten für Rechtsextremismus einen Namen gemacht. In ihrem Buch "Völkische Landnahme" (Bestellen) erkunden sie, wie sich Rechsradikale auf dem Land breit machen. Detailliert und mit vielen Beispielen unterfüttert, zeigen sie FAZ und SZ zufolge eine Szene, in der Öko und Rechtsradikal kein Widerspruch mehr ist, Graswurzelarbeit und Jugendfahrten mit Esoterik und politischer Entgrenzung einhergeht.

Cover: Politischer IslamCover: ChaosWenn die Frankfurter Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter in ihrem neuen Buch den "Politischen Islam" (Bestellen) ins Visier nimmt, kann Edith Kresta in der taz nicht genug betonen, dass es ihr nicht um den Islam insgesamt geht, sondern um seine politische Instrumentalisierung durch Funktionäre und Organisationen, die staatliches Handeln der Scharia unterstellen wollen. Dem stelle Schröter stets den liberalen Islam oder überhaupt die Vielfalt muslimischen Lebens gegenüber, erklärt die Rezensentin. Hingewiesen haben wir bereits auf Gilles Kepels "Chaos" (Bestellen), in dem der französische Politikwissenschaftler die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens seit 1973 Revue passieren lässt. Im Dlf pries Jürgen König das Buch als grandios, opus magnum und "Summe eines Gelehrtenlebens".


Klima

Cover: Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kannCover: Wir sind das Klima!Naomi Klein macht immer Spaß zu lesen. Die kanadische Autorin und Aktivistin schreibt mit so viel Verve, dass man allein schon aus dieser regenerativen Energie ein halbes Kraftwerk betreiben könnte. Ihr Band "Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann" (Bestellen) versammelt Essays zur Klimapolitik in den USA, die allesamt um das ehrgeizige Projekt des Green New Deal kreisen, den Hannes Koch in der taz so erläutert: Innerhalb von zehn Jahren sollen sich die USA nur noch aus erneuerbaren Energien versorgen, aber eben auch Arbeitsplätze schaffen, eine Krankenversicherung für alle einführen und ein sozial gerechtes Bildungssystem aufbauen. Naomi Klein ist radikal, betont Susanne Billig im DlfKultur, aber immer optimistisch und eine echte Kämpferin. Mit seinem Manifest "Wir sind das Klima!" (Bestellen) spaltete der amerikanische Schriftsteller Jonathan Safran Foer die Kritik. Foer fordert eine ähnliche propagandistische Mobilmachung zur Rettung des Klimas wie zur Landung der Alliierten in der Normandie. Seine Holocaust-Vergleiche und seinen moralischen Totalitarismus fanden die einen notwendig und brillant, die anderen nur geschmacklos und überheblich.

Cover: Vom Ende der KlimakriseCover: Ich will, dass ihr in Panik geratet!Die "Fridays for Future" beherrschen zwar die Schlagzeilen, aber nicht unbedingt die Rezensionen. Im DlfKultur räumt Susanne Billig ein, dass Luisa Neubauer und Alexander Repenning in ihrem Band "Vom Ende der Klimakrise" (Bestellen) inhaltlich nicht viel Neues zur Klimakrise beitragen. Aber die beiden AktivistInnen zeigen, dass sie wissen, was sie tun. "Informiert, reflektiert, nüchtern" findet die Kritikerin das Buch dieser selbernannten Possibilisten, deren Welt weder düster noch rosig sei, sondern voller Handlungsspielräume. Auch Greta Thunbergs Reden zum Klimaschutz "Ich will, dass ihr in Panik geratet!" (Bestellen) wurden nur einmal besprochen. In der FAZ empfiehlt Joachim Müller-Jung den Band eher indirekt als authentisches Abbild einer vorherrschenden Stimmungslage. Hingewiesen sei auch noch kurz auf die flottgeschriebenen Wortmeldungen zweier Journalisten zum Thema: Bernd Ulrichs "Alles wird anders" (Bestellen) und David Wallace-Wells "Die unbewohnbare Erde" (Bestellen).


Ökonomie

Cover: Gig EconomyDer britische Politikwissenschaftler Colin Crouch geht auch in seinem neuen Buch dem befremdlichen Leben im Neoliberalismus nach. In der "Gig Economy" (Bestellen) zeigt er auf, wie die Plattform-Ökonomie von Uber, Lieferando und Co. funktioniert. "Gig" klingt zwar nach Rock'n'Roll und Selbstentfaltung, tatsächlich sind die Mitarbeiter absolut unfrei, unversichert und unterbezahlt. Dem Dlf gehen Crouchs Lösungsvorschläge, etwa eine Ausweitung der Versicherungspflicht, nicht weit genug, die FAZ sieht in ihrer Praktikabilität gerade eine Stärke des Buches.

Cover: Deutschland, ein WirtschaftsmärchenCover: Der Treuhand-KomplexAuf ein geteiltes Echo stieß die taz-Redakteurin Ulrike Hermann mit ihrer kritischen Bestandsaufnahme des Wirtschaftswunders "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen" (Bestellen). Während Martin Hubert im Dlf begrüßt, wie Hermann Mythen und Dogmen zerstrümmert, schießt sie für Ursula Weidenfeld im DlfKultur weit übers Ziel hinaus: Ludwig Erhardt ein Dummkopf, die soziale Marktwirtschaft nichts besonderes, die Bundesbanker Angsthasen, da bleibt kein Auge trocken. Wenn sie dann noch ein Ende des Wachstums fordert, winkt Weidenfeld endgültig ab. Überzeugt hat die Kritiker Norbert Pötzls "Treuhaund-Komplex" (Bestellen), in dem der ehemalige Spiegel-Redakteur die Arbeit der Treuhand, dieses "kapitalistischen Monsters", dieser "erinnerungskulturellen Bad Bank" positiv bilanziert. SZ und Dlf loben Klarheit, Sachlichkeit und Schlüssigkeit seiner Argumentation.