Bücher der Saison

Romane und erzählende Literatur

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
13.11.2019. Mit Tarjei Vesaas in ein norwegisches Eisschloss, Mircea Cartarescus Farbrausch in Bukarest, Abubakar Adam Ibrahim über eine Amour fou in Nigeria, mit Salman Rushdies Quichotte auf USA-Reise,  zwei Frankensteins von Ahmed Saadawi und Jeanette Winterson und ein Netflix-Wiedergänger.
Gastland Norwegen

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Ob Henrik Ibsen oder Knut Hamsun, Karl-Ove Knausgard oder Tomas Espedal, Jostein Gaarder oder Maja Lunde - Literatur aus Norwegen ist wahrlich kein Geheimtipp. Die obligatorischen Länderporträts und Journalistenreisen fielen dementsprechend schmal aus, einige literarische Entdeckungen gibt es dennoch zu annoncieren. Und eine Neuigkeit verkündete Tomas Espedal im taz-Porträt fast nebenbei: "Ich glaube, dass Autofiktion in Norwegen an ein Ende gekommen ist", sagte der Autor, der wie Knausgard bereits in den Achtzigern begann, bekenntnisfreudig aus dem eigenen Leben zu berichten. Eine literarische Reise durch das Gastland steht in der ARD-Mediathek online.

Eine wirklich spannende Entdeckung scheint dieser Roman der jungen norwegischen Autorin Maria Kjos Fonn zu sein, den bisher allerdings nur Sonja Hartl im Dlf-Kultur besprochen hat. "Kinderwhore" (bestellen) bezeichnet zunächst einmal einen Kleidungsstil, den die Sängerin Courtney Love prägte - kurzes Kleidchen, Schleifen im Haar, Riemchensandalen, alles sehr kindlich, aber das verschmierte Makeup dazu erzählt von Sex und Gewalt, klärt uns Hartl auf.  Sie folgt hier der jungen Charlotte, Tochter einer drogenabhängigen Prostituierten, die fast immer alleingelassen und schließlich von einem Freier ihrer Mutter vergewaltigt wird, erzählt die Rezensentin. Im Versuch, Autonomie zu gewinnen, stylt sie sich bald nach dem Vorbild der Mutter selbst als "Kinderwhore" und prostituiert sich. Ein Happy End sollte man nicht erwarten, warnt Hartl vor, hebt aber besonders die "radikal subjektive", zugleich poetische Sprache hervor. Sehr norwegisch erscheint hingegen Merethe Lindströms Roman "Tage in der Geschichte der Stille", (bestellen) in dem eine gealterte Frau versucht zu ergründen, weshalb sich ihr Mann in Schweigen zurückgezogen hat - und auf diese Weise immer mehr mit sich selbst konfrontiert wird. Sparsam im Ton, bitter und spannt, lobt Harald Eggebrecht in der SZ, eine "Poesie der Trostlosigkeit", die geschickt die Themen Erinnerung, Verdrängung und Antisemitismus verdichtet, aber auch ein paar Längen hat, urteilt Heidemarie Schumacher im Dlf.

Und was macht Tomas Espedal, wenn er nicht mehr die eigene Biografie seziert? Er wendet sich in seinem neuen Buch "Das Jahr" (bestellen) tagespolitischen Themen zu, der Flüchtlings- und Klimakrise etwa, und studiert Petrarcas "Liebesgedichte", anhand derer er die unglückliche Liebe zu einer jüngeren Frau verarbeitet, aber auch über die Liebe seiner Eltern reflektiert. Ganz ohne Privates geht es offenbar doch nicht. Taz-Kritiker Jens Uthoff ist einmal mehr eingenommen von Espedals stillem, zurückgenommenem, Widersprüche balancierenden Erzählton, nur Nico Bleutge meint im Dlf-Kultur: Zu nüchtern, zu wahllos die tagespolitischen Einschübe im Texte - eher die Simulation eines Langgedichts.


Mit "Das Eis-Schloss" (bestellen), diesem im kleinen Guggolz-Verlag erschienenen Roman von Tarjei Vesaas gibt es offenbar einen wahren Schatz zu entdecken: Für FAZ-Kritiker Matthias Hannemann gehört das 1965 im Original erschienene und von Hinrich Schmidt-Henkel virtuos übersetzte Buch schon jetzt "zu den schönsten Büchern", "die ihm je auf den Tisch gelegt wurden". Erzählt werde die ebenso lyrische wie märchenhafte Geschichte zweier elfjähriger Mädchen an der Schwelle zur Pubertät, die sich anfreunden, bis die eine spurlos im titelgebenden Eisschloss verschwindet, während die andere sich in Trauer, Einsamkeit und die Erinnerung an die verlorenen Freundin zurückzieht. Der Kritiker nimmt viele kluge Gedanken zur Schönheit der Natur, zu Freundschaft und Trauerbewältigung mit. Im Dlf-Kultur empfiehlt Manuela Reichart dieses kraftvoll poetische Buch als perfekten Einstieg in die norwegische Literatur. In die Grandezza eines Grand Hotels der 80er Jahre in den norwegischen Bergen entführt uns indes Erik Fosnes Hansen, dessen Roman "Hummerleben" (bestellen) wir schon im letzten Bücherbrief empfohlen haben.


Expeditionen

Diesen Bücherherbst gibt es einen deutlichen Trend zur Wiederbelebung von Klassikern und anderen Untoten. Ein Don Quichotte, zwei Frankensteins und auch der Mystiker Jakob Frank geistern durch die jüngsten Romane. Viel Applaus gab es für Salman Rushdies "Quichotte" (bestellen), der, begleitet von Sancho, als pensionierter, indischstämmiger Pharmavertreter quer durch die USA der Gegenwart reist, auf Alltagsrassismus, Cyber-Spione, Fake News und die Opioid-Krise trifft, aber natürlich auch allerhand Liebes- und Familienkonflikte auszufechten hat. Atemberaubend, meisterhaft, ein Lesegenuss, jubeln die KritikerInnen: In der FR erfreut sich Arno Widmann gerade an den im New Statesman kritisierten Takt- und Geschmacklosigkeiten des Romans. Dlf-Kritiker Johannes Kaiser amüsiert sich über ein wenig schmeichelhaftes Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft, und FAZ-Kritiker Andreas Platthaus bewundert, wie Rushdie alle Stilregister zieht. Im Zeit-Online-Interview spricht Rushdie über das Buch, Donald Trump, die Klimakrise und andere Bedrohungen. 

Gleich zwei frischgeborene Frankensteins begegnen uns in diesem Herbst, wobei Ahmed Saadawis Roman "Frankenstein in Bagdad" (bestellen) im irakischen Original bereits 2005 erschienen ist. Zwei Jahre nach der amerikanisch geführten Intervention im Irak und dem Sturz Saddam Husseins lässt Saadawi hier ein aus den Leichenteilen  der Opfer von Bombenattentaten in Bagdad erschaffenes Monster durch die Stadt geistern und so die ethnische, religiöse und soziale Vielgestaltigkeit des Landes widerspiegeln. Überbordend, bös ironisch und realitätsnah nennt Angela Schader in der NZZ den Roman, der ihr ein Panoptikum aus Hellsehern, Kriegsprofiteuren, Schlägern und aus jüdischen, christlichen und islamischen Elementen liefert. Jeannette Wintersons "Frankissstein" (bestellen) ist hingegen aus ganz anderem Holz geschnitzt: Winterson nämlich verknüpft die Lebensgeschichte von Mary Shelley mit dem Schicksal des transgender Arztes Ry Shelley, der sich in einen mysteriösen Cyberspezialisten verliebt. Wie die Autorin teils historisch, teils fantastisch, manchmal elegant, oft moralische Fragen berührend zwischen den Jahrhunderten switcht, Mary Shelley und Lord Byron mit den frühen Denkern Künstlicher Intelligenz und der Kryonik verknüpft und dabei auch noch quirlig und lebendig erzählt, findet Sylvia Staude in der FR meisterhaft.

Olga Tokarczuk hat dieses Jahr den Literaturnobelpreis für 2018 erhalten, welch glücklicher Zufall also, dass zeitgleich ihre "Jakobsbücher" (bestellen) von 2014 auf Deutsch erschienen sind. Absolut berechtigt findet denn auch Dlf-Kultur-Kritikerin Sabine Adler die Auszeichnung, wenn sie hier dem historischen Mystiker Jakob Frank - charismatischer Kopf einer von Kabbalisten und Sabbatianern inspirierten jüdischen Bewegung - durch die polnisch-litauische Adelsrepublik folgt und an Polens verdrängtes jüdisches Erbe erinnert wird. Auch empathisch gezeichnete, lebendige Figuren, farbige Schauplätze und eine turbulente Handlung, hebt Adler hervor. Großes Lob auch in der SZ und in der FAZ, wo Marta Kijowska die gelungene Mischung aus magischem Realismus und geschichtlichem Hintergrund hervorhebt. Der Nobelpreisträger von 2019, Peter Handke, hat in diesem Herbst kein neues Buch veröffentlicht. Wir haben aber in unserem neuen Buchladen Eichendorff21 ein kleines Dossier zusammengestellt mit Handke-Büchern für Einsteiger.

Als surrealistisches Meisterwerk feierten die Kritiker Mircea Cartarescus 900-Seiten-Brocken "Solenoid" (bestellen): Cartarescu ersinnt hier ein Alter Ego, einen Rumänischlehrer, der in der Bukarester Vorstadt während des Ceausescu-Regimes in den Bann einer Magnetspirale gerät, zwischen Kindheitserinnerungen, Träumen und Ängsten wortwörtlich den Boden unter den Füßen verliert, bis er schließlich zu levitieren beginnt. Erst die Liebe holt ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. FR-Kritikerin Katrin Hillgruber taucht gern ab in diesen bunten und komischen Parallelkosmos, in dem sie nicht nur Anklänge an Lem, Breton und Arghezi vernimmt, sondern auch sozialistischen Alltag hautnah erlebt. In der NZZ hebt Franz Haas vor allem die poetische Sprache dieses "verrückt kopflastigen" Buches hervor. Und im NDR schreibt Cornelia Zetsche: "'Solenoid' ist überbordend mit seinem Farbrausch der Grün- und Opaktöne, der Fülle schillernder Orte, Figuren, Episoden und Fantasmagorien; ein Roman wie in Trance".

Hingewiesen sei auch auf Petina Gappahs Roman "Aus der Dunkelheit strahlendes Licht" (bestellen), der die wahre Geschichte des Arztes und Forschungsreisenden David Livingston erzählt, dessen Leiche von freigekauften Sklaven 1500 km durch Afrika bis zur Küste getragen wurde, um von dort nach Großbritannien verschifft zu werden. Kein Kitsch, keine Moralinsäure, sondern ein komplexer Roman über die Geschichte Afrikas, lobt Sieglinde Geisel im Dlf-Kultur. Und gut besprochen wurde außerdem Alain Mabanckous neuer Roman "Petit Piment" (bestellen), der aus der Perspektive des kleinen Waisenjungen Moses die Geschichte des Kongo erzählt: Üppig wuchernd geht es in diesem Roman zu, freut sich SZ-Kritiker Jonathan Fischer, der mit Mabanckou von Mythologie, Ahnenverehrung und Aberglauben über Folkloristisches bis zur ätzenden Kritik an den politischen Zuständen mäandert.


Debütant*innen

Besonders spannend sind jede Saison die DebütanTinnen - besonders wenn sie so wagemutig sind wie Cemile Sahin. Die junge Künstlerin packt in ihrem ersten Roman "Taxi" (bestellen) nämlich nicht weniger als die Themen Krieg und Verlust an - und macht eine ganz eigene Story daraus: Eine Mutter, die ihren Sohn in einem nicht näher beschriebenen Krieg verliert, tröstet sich über den Verlust hinweg, indem sie sich eine Netflix-Serie auf den Leib schreibt und ihre verschollenen Sohn kurzerhand durch einen Doppelgänger ersetzt. Der geht aber leider bald voll in seiner Rolle auf und stiehlt der Mutter die Show. Dlf-Kritikerin Melanie Weidmüller liest den Roman als subversive und rasante Geschichte voller harter Schnitte, Zeit- und Perspektivsprünge. Urkomisch, trashig und doch bitterernst, lobt Birthe Mühlhoff in der SZ, während taz-Kritiker Jens Uthoff hier auch eine Studie über Eskapismus erkennt. Für die Zeit hat Carolin Würfel die junge Autorin porträtiert.

Lesenswert auch das Debüt des nigerianischen Autors Abubakar Adam Ibrahim, der uns in "Wo wir stolpern und wo wir fallen" (bestellen) von der Affäre zwischen der frommen, verwitweten Mutter und Großmutter Binta und dem jungen Dealer und Gangleader Reza erzählt. Und zwar ganz ohne Kitsch, wie Dlf-Kultur-Kritiker Johannes Kaiser versichert: Schwungvoll und fesselnd schildere Ibrahim die alle Grenzen überwindende "Amour fou", die erwachende Leidenschaft der streng gläubigen Binta und die Korruption in Nigeria, beleuchte darüber hinaus aber auch immer wieder die mörderischen Konflikte zwischen Christen und Muslimen. Die niederländische Autorin Nhung Dam wiederum erzählt in ihrem Debütroman "Tausend Väter" (bestellen) von einer jungen Migrantin aus Vietnam, die mit ihrer labilen Mutter in Holland ankommt, den verlorenen Vater betrauert und über die Kälte in der Fremde sinniert. Ein einfühlsamer, märchenhafter Roman über Flucht, Fremdheit, Sehnsucht und Selbstermächtigung, meint Katharina Borchardt im Dlf-Kultur, ein Roman wie ein Meer mit Strudeln, Wellen und Untiefen voller fantastischer Bilder, lobt Peter Praschl in der Welt. Für die taz hat Katharina Borchardt die junge Autorin porträtiert.

Einige Debüts haben es dieser Saison auf die Short List des Deutschen Buchpreises geschafft: Tonio Schachingers Roman "Nicht wie ihr" (bestellen) etwa, den die KritikerInnen zunächst fast übersehen hätten. Die Geschichte um einen prolligen Fußballstar kurz vor dem Burnout, der über Sex, Sport und die Welt sinniert, wurde als origineller Gesellschaftsroman gewürdigt, voller Insiderwissen und Milieuschilderungen, dabei leichthändig und zugleich "scharfsinnig" Alltagsrassismus und Leistungsdruck reflektierend, wie Wiebke Porombka in der FAZ lobt. Auch Raphaela Edelbauers Debütroman "Das flüssige Land" (bestellen) über kollektive Verdrängung in einem österreichischen Dorf stand auf der Shortlist, wurde von der Kritik aber eher zwiespältig aufgenommen: Wenn Edelbauer hier eine junge Physikerin in ein österreichisches Provinzkaff schickt, wo ein unterirdisches Loch den ganzen Ort zu verschlucken droht, mussten die RezensentInnen von Dlf, Dlf-Kultur und FR unweigerlich an Kafka denken: Ein die Zeit aufhebender, surrealer Anti-Heimatroman, geschrieben mit barocker Erzähllust und schwarzem Humor, fand etwa Anne Kohlick im Dlf Kultur. FAZ und SZ konnte der Roman dagegen zu wenig überraschen. Sehr gut besprochen wurde auch Dana von Suffrins Debütroman "Otto" (bestellen), der von einem tyrannischen Familienpatriarchen, einem Siebenbürger Juden erzählt, der zum Pflegefall wird. Den Witz der Autorin fanden die KritikerInnen bemerkenswert.


Schöne neue Welt

Pure Gegenwart verspricht Nora Bossongs neuer Roman "Schutzzone" (bestellen), der, wie die KritikerInnen einstimmig loben, UN-Alltag, Liebesleiden und Weltpolitik geschickt verknüpft. Wir folgen der unglücklichen und zynischen Botschafterin Mira, die mit der Aufarbeitung der Massaker in Burundi ebenso beschäftigt ist wie mit ihren Affären mit einem verheirateten Mann und einem Rebellen und sowohl privat als auch politisch in einen Gewissenskonflikt gerät. Das ist "ungeheuer klug" erzählt, bewundert Tomasz Kurianowicz in der Welt, aber Glück findet er in diesem Roman nicht. Auch Christoph Schröder beobachtet in der SZ mit fröstelnder Bewunderung, wie Bossong Begriffe wie Gerechtigkeit, Versöhnung oder Frieden zerrinnen lässt. Politische Kritik an dem Roman meldet Robert Stockhammer im Freitag an: Er sieht hier eine Konkurrenz zwischen den Massakern in Burundi und dem Völkermord in Ruanda aufgebaut.

Sehr aktuell ist auch Valeria Luisellis neuer Roman "Archiv der verlorenen Kinder" (bestellen). Die mexikanische Autorin erzählt in ihrer Road Novel von einer Patchworkfamilie, die sich von New York aus auf den Weg in die ehemalige Heimat der Apachen macht und auf ihrer Reise Kindern auf der Flucht von Zentral- nach Nordamerika begegnet. Es wäre auch ohne die Metafiktion mit literarischen Referenzen und montierten Dokumenten gegangen, denken die KritikerInnen, aber den Lesefluss hemmt sie nicht. Vor allem, wenn der jungen Familie schließlich die eigenen Kinder entlaufen, gelingt es Luiselli, zwei Ebenen übereinander zu blenden, lobt Zeit-Rezensentin Judith Heitkamp. Politisch aktuell, experimentierfreudig und unterhaltend, findet Gregor Dotzauer den Roman im Dlf-Kultur.

Klingt zunächst nach einer Dystopie, nach der man sich fast sehnen möchte: In Sam Byers Roman "Schönes neues England" (bestellen) gehört der Brexit nämlich schon wieder der Vergangenheit an. Damit hat es sich dann aber auch an freudigen Nachrichten in dieser Gesellschaftssatire, die uns in die Kleinstadt Edmundsbury entführt, die von Tech-Konzernen ohne Rücksicht auf verbliebene Ansässige in ein Freelancer-Paradies verwandelt wird: Die sozialen Medien beginnen ihre schlimmstmöglichen Wirkungen zu entfalten, Shitstorms, Aufmerksamkeitsdrang, Populisten und Datenerpresser beherrschen das Dasein. Bei allem "beißenden britischen Spott" findet taz-Kritiker den Roman nicht nur gut durchdacht, unterhaltsam und lehrreich, sondern auch erschreckend wahrscheinlich. In der FAZ muss Oliver Jungen allerdings gestehen: Auf Dauer sind die Dialogfeuerwerke und die Exkurse über digitale Gesellschaftssteuerung ganz schön anstrengend. Empfohlen wurde außerdem Robert Harris' Roman "Der zweite Schlaf" (bestellen), der ebenfalls von einem postapokalyptischen England erzählt, in dem nach einer durch Technologiebesessenheit und Informationsflut ausgelösten Katastrophe allerdings wieder mittelalterliche Zustände herrschen. Unterhaltung auf höchstem Niveau, versichert Gina Thomas in der FAZ.

Wer ein Buch zur Klimakrise lesen will, muss nicht nur zu Jonathan Safran Foer greifen, auch Amitav Ghosh befasst sich in seinem neuen Roman "Die Inseln" (bestellen) mit Umweltaktivismus und Flüchtlingshilfe - verpackt in der magisch realistischen Story um die Entschlüsselung einer geheimnisvollen bengalischen Legende, verspricht eine sich gut unterhalten fühlende Eva Behrendt in der taz. Quer durch Europa hat uns Terezia Mora in ihren Romanen um den IT-Spezialisten Darius Kopp bereits geschickt, nun, in "Auf dem Seil" (bestellen), zum Ende der Trilogie, landet Kopp auf Sizilien, wo er auf seine schwangere 17jährige Nichte trifft und mit ihr nach Berlin zurückkeht. Die KritikerInnen sind einmal mehr angetan von Moras Witz, erzählerische Brillanz und ihren präzisen Milieuschilderungen. Nicht ganz so angetan zeigten sich die RezensentInnen von Margaret Atwoods Fortsetzungsroman "Die Zeuginnen" (bestellen), auf den wir bereits in unserem letzten Bücherbrief hingewiesen haben.


Nachtseiten

Auch diese Saison sind die AutorInnen wieder in tiefste private und familiäre Abgründe abgetaucht, um einige literarische Schätze zu bergen. Als Spezialistin für Abgründiges ist vorweg die bereits 1967 gestorbene Albertine Sarrazin zu nennen, die in ihrem letzten, autobiografisch geprägten, nun erstmals auf Deutsch vorliegenden Roman "Querwege" (bestellen) von Albe erzählt, die nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis versucht, mit ihrem Geliebten, ebenfalls Ex-Häftling, ein bürgerliches Dasein zu führen. Sarrazin schreibe so "lässig, so poetisch, so wild und frei", dass sich SZ-Kritiker Alex Rühle mehr Bücher der früh verstorbenen Autorin gewünscht hätte. Bravourös findet Paul Jandl in der NZZ auch Claudia Steinitz' Übersetzung, die das Schwingen und Zittern der Wörter sehr schön ins Deutsche rette. Vom Misslingen der Rückkehr in die Bürgerlichkeit erzählt uns auch die in Paris lebende Schweizer Autorin Pascale Kramer, die in ihrer Tragödie "Eine Familie" (bestellen) beschreibt, wie der junge lebensmüde Romain gegen seinen Willen von der Straße zurück in den Schoß der Familie geholt wird. Wie Kramer das Familienleben seziert, "klinisch präzise", dabei ein dichtes Gewebe aus Schuld und Verhängnis freilegt und die psychologischen Fragen, die der Roman stellt, zu metaphysischen erhebt, findet NZZ-Kritiker Roman Bucheli virtuos.

In ihrem Debütroman "Was man sät" (bestellen) erzählt uns die holländische Autorin Marieke Lucas Rijneveld von einer streng gläubigen Familie, die mit dem Schicksal des Todes eines ihrer Kinder zurecht kommen muss. Im Mittelpunkt steht die zwölfjährige Jas, die sich die Schuld am Tod des Bruders gibt und in deren düstere, von Ängsten und aufkeimender Sexualität geprägte Vorstellungswelt uns die Autorin mit drastischer Sprache und poetischen Bilder hineinzieht, wie Anna Vollmer in der FAZ versichert. Nicht weniger grausam geht es in Rebecca Waits Roman "Das Vermächtnis unsrer Väter" (bestellen) zu, der von einem schottischen Familienvater erzählt, der Frau, Kind und sich selbst erschießt, seinen Jüngsten aber im Schrank vergisst. Wie Waits nur in Andeutungen und ohne zu psychologisieren schildert, wie der überlebende Sohn Jahre später zurückkehrt um herauszufinden, warum damals niemand etwas unternommen hat, findet Sylvia Staude in der FR überzeugend. Bisher erst von SZ-Kritiker Xaver von Cranach besprochen wurde Leslie Jamisons erster Roman "Der Gin-Trailer" (bestellen), den Cranach als gelungene literarische Ergänzung zu Jamisons hochgelobten Essays über Alkoholsucht und Selbstzerstörung liest.

Die KritikerInnen können sich nicht ganz entscheiden, in welche Gattung sie Jan Peter Bremers neuen Roman "Der junge Doktorand" (bestellen) einordnen wollen: Kammerspiel? Thriller? Künstler- oder Ehesatire? Oder doch Entwicklungsroman? Macht aber auch nichts, denn von der Geschichte um ein alterndes, verkrachtes Ehepaar, das auf den vermeintlich erlösenden Besuch eines jungen Kunststudenten erwartet, sind sie hellauf begeistert: Als groteskes Bernhardsches Konversationsstück, liest Nico Bleutge im Dlf-Kultur den Roman, dem Nina Apin in der taz ein präzises Gespür für Komik und psychische Abgründe attestiert. Zeit-Kritikerin Ursula März amüsierte sich über den Slapstick, giftige Paardialoge und Thrillerelemente. Die Bitterkeit des Alters nimmt Kathy Page in ihrem Roman "All unsere Jahre" (bestellen) aufs Korn, wenn sie über sieben Jahrzehnte eine Ehe, den Verfall der Liebesbeziehung und der Illusionen seziert und statt auf große Dramen auf kleine Details setzt, wie Sandra Kegel in der FAZ lobt.


Blick zurück

Jede Büchersaison verspricht natürlich eine große Portion an Romanen, die in der Vergangenheit spielen. Gerade die deutschen AutorInnen erweisen sich hier als SpezialistInnen. Norbert Scheuers Roman "Winterbienen" (bestellen) stand nicht nur auf der Shortlist des Buchpreises, sondern wurde auch von den RezensentInnen gefeiert: Die Geschichten des Imkers Egidius Arimond, der 1944 in seinen Bienenstöcken Juden rettet, nannte bereits NZZ-Kritiker Jörg Magenau im Juli große Literatur: Wie mühelos der Autor die Jahreszyklen der Bienen mit der Zerstörungswut der Menschheit zu kontrastieren weiß, hat ihn begeistert. Und in der SZ bewunderte auch Hubert Winkels, wie Scheuer die Verknüpfung von Krieg, Bomben, Liebe, Flucht und Bienen dezent und in lapidarem Ton arrangiert.

Einen blinden Fleck der deutschen Geschichte hat indes Eugen Ruge in seinem Roman "Metropol" (bestellen) entdeckt, staunt Alexander Cammann in der Zeit: Nach "In Zeiten des abnehmenden Lichts" lässt uns Ruge hier noch einmal auf seine Großeltern treffen, beleuchtet nun aber vor allem jene Zeit, als die beiden Mitarbeiter des OMS wegen Verstößen gegen die Parteilinie im Moskauer Hotel Metropol einsaßen. FAZ-Kritiker Andreas Platthaus lobt die Wahrhaftigkeit der penibel recherchierten Handlung, der Orte und der psychologisch komplexen Figuren. Ein episodisches Panorama des kommunistischen Exils, das wie eine Droge wirkt, meint er. Sehr gut besprochen wurde auch Sherko Fatahs neuer Roman "Schwarzer September" (bestellen), der von den Ereignissen rund um das mörderische Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft während der Spiele 1972 in München erzählt. Spannend, unerbittlich, komplex und zeitlos aktuell, lobten die KritikerInnen in SZ, Zeit und Dlf-Kultur.

Diese Saison gibt es durchaus einige interessante Wiederentdeckungen zu annoncieren: Auf "Ein anderer Takt" (bestellen), Melvin Kelleys Debütroman von 1957 über den Auszug eines schwarzen Farmers aus einem fiktiven Bundesstaat im Süden der USA haben wir in unserem letzten Bücherbrief schon vorgestellt. Abgründig, visionär, raffiniert lobten die KritikerInnen. Unbedingt erwähnenswert ist aber auch Fran Ross' Roman "Oreo" (bestellen) aus dem Jahr 1970: Die afroamerikanische jüdische Autorin schickt ihre Männer betörende und verprügelnde Heldin Christine, wie Ross Tochter einer Afroamerikanerin und eines Juden, auf Vatersuche durch das Amerika der Fünfziger. Ein schräges, "leidenschaftliches"und schwarzhumoriges Buch über eine überraschend coole Protagonistin, lobt Fatma Aydemir in der taz, flapsig und kunstvoll zugleich, leichtfüßig und trotzdem mit Tiefgang, hochgebildet und doch roh, außerdem voller historischer und literarischer Anspielungen, kurz: "ein Wunder!", jubelt Gabriele von Arnim im Dlf-Kultur. Hingewiesen sei schließlich noch auf "Psalm 44", (bestellen) einen frühen Roman des jugoslawischen Schriftsteller Danilo Kis, der uns von der Flucht zweier Frauen aus einem Konzentrationslager erzählt. Drastisch, explizit und radikal, meinen die RezensentInnen und im Dlf-Kultur ergänzt Carsten Hueck: Besser als das seicht-naive Erzählen, mit dem die Nachgeborenen heute den Holocaust schildern.